Georg Lackmann
"Es gibt mehr Dinge zwischen Himmel und Erde, als unsere Schulweisheit sich
träumen lässt" lässt Shakespeare den Hamlet zu seinem Freund Horatio sagen.
Genau diese Dinge interessieren und faszinieren mich und beflügeln meine
Phantasie.
Vita
1963 - ich war 14 Jahre alt - hatte ich meine Volksschulzeit beendet und wäre
gerne Seemann geworden. Meine Eltern waren jedoch dagegen und steckten
mich in eine Schlosserlehre. Das war der Beginn einer beruflichen Laufbahn,
die 51 Jahre währte und in der ich immer auf der Suche nach einem Beruf im
Sinne von "Berufung" war, aber leider nie fündig wurde. Tätigkeiten als
Schlosser, Taxifahrer, Programmierer und Nachlaßpfleger sowie freier
Journalist dienten in erster Linie dem Gelderwerb. Spaß dagegen machten
zeitlebens das Lesen und das Lernen; deshalb habe ich entschieden: im
nächsten Leben werde ich Professor und lehre an einer Universität!
Seit 2014 bin ich Rentner, widme mich der Astrologie und dem Schreiben. Ob damit meine Suche beendet ist, wird sich noch herausstellen.
Textauswahl
Der letzte Tag
Einst hatten viele Milliarden Menschen die Erde bewohnt. Jetzt lebten nur
noch zwei von ihnen: ein Mann und eine Frau.
Beide kannten die Geschichte der Menschheit:
Nachdem der "Tanz um das goldene Kalb" immer ekstatischer geworden war
und die Gier nach Macht und Geld ein gigantisches Ausmaß erreicht hatte,
war die Wirtschaft weltweit zusammen gebrochen. Das gab der
geschundenen Erde die notwendige Zeit, sich wieder von den Umweltsünden
der Menschen zu erholen. Bei dem folgenden Wiederaufbau setzten sich
nach und nach diejenigen durch, die die Fehler der Vergangenheit nicht
noch einmal machen wollten. Und diese hatte begriffen, dass der Mensch
nicht nur Gutes tun, sondern auch Böses vermeiden muss.
Atomkraftwerke wurden abgeschafft, der Verkehr auf das Notwendige
reduziert, Tiere wurden artgerecht gehalten und vieles mehr.
Doch viel wichtiger war: immer mehr Menschen beschäftigten sich mit
religiösen und philosophischen Fragen, die Spiritualität nahm zu, das "Kirchenvolk" entledigte sich seiner "Fürsten" und es entwickelten sich
Gemeinschaften wahrhaft Gläubiger. Bibliotheken und Universitäten
gelangten zu neuer Blüte, Astrologie, Mystik und Parapsychologie bekamen
ein höheres Ansehen und die Menschen nahmen sich viel Zeit für ihre Suche
nach Gott.
Immer mehr Menschen hatten Momente der "Erleuchtung", viele konnten
sich an vorhergehende Erdenleben erinnern, und immer mehr mussten nach
ihrem Tod nicht wieder zurück zur Erde: sie waren bei Gott und blieben
dort.
Genauso rasant, wie einst die Erdbevölkerung gewachsen war, schrumpfte
sie nun auch wieder. Irgendwann lebten nur noch rund eine Milliarde
Menschen, dann nur noch ein paar Millionen. Industrie war nicht mehr
nötig; die Natur lieferte alles, was der Mensch benötigte. Und so schloss er
nach und nach Frieden mit sich und seiner Umwelt.
Die Zahl der Menschen nahm immer weiter ab: irgendwann lebten nur noch
ein paar Hunderttausende, dann nur Tausende, dann Hunderte.
Und jetzt nur noch die beiden. Sie hatten noch etwas "offen" gehabt - doch
das war jetzt geklärt.
Voller Liebe zueinander und zur gesamten Schöpfung erreichten sie einen
wunderschönen Garten. Beide kannten die Bibel und die
Schöpfungsgeschichte. "So muss es im Paradies gewesen sein", sagte sie -
ihr Name war Ave. "Ja, so war es wohl", stimmte er zu - sein Name war
Mada. Hand in Hand gingen sie weiter, und sie waren erfüllt von dem
Wissen: gleich werden sie bei Gott und allen anderen Menschen sein und für
immer mit allen zusammenbleiben.
Und der Kreis hatte sich geschlossen.
Der Gast
"Kann sein, dass bei mir schon mal ein richtiger Engel zu Besuch war", hatte
Frank gerade gesagt. Ein Engel? Ist der Mann verrückt, fragte ich mich und
beäugte ihn argwöhnisch. Dabei sah er doch ganz normal aus, selbstsicher,
direkt, und er wirkte dabei sehr freundlich.
Seit Wochen ging ich tagtäglich in die Bahnhofsklause. Zum einen war es die
einzige Gaststätte, die schon um sieben Uhr öffnete, zum anderen herrschte
hier eine besondere Atmosphäre. Es gab wenige Stammgäste; die meiste
waren Reisende, die zwischen zwei Zügen Zeit für ein Getränk oder einen
Imbiss hatten. Diesen fehlte oft die Scheu, sich zu anderen zu setzen -
wahrscheinlich hatten sie sich während ihrer Zugfahrt daran gewöhnt. Oder sie
waren einfach mitteilungsbedürftig. Und sie erzählten häufig sehr intime
Geschichten, berichteten über seltsame Ereignisse, die ihnen widerfahren
waren. Vielleicht fehlte die Hemmschwelle, die sie bei ihren Bekannten und in
ihren Heimatstädten hatten, weil sie hier eben keiner kannte und sie nicht
vorhatten, noch einmal nach hierhin zurück zu kommen. So hatte ich auch
Frank kennen gelernt.
Dieser spann den Faden weiter: "Im Nachhinein kann ich sagen, dass ich
damals ganz tief unten war und nicht die Kraft fand, wieder hoch zu kommen.
Ich hatte meinen Job verloren und trank mehr, als mir gut tat. Dann verließ mich meine Frau und ich trank noch mehr. Irgendwann begann ich schon
morgens mit dem Trinken, bekam nur noch das Notwendigste geregelt." Seine Ausstrahlung verriet, dass er mittlerweile trocken sein musste. Als ob er
meine Gedanken bestätigen wollte, bestellte er sich einen Kaffee; ich blieb bei
meinem Bier.
Frank erzählte: "Eines Morgens gegen elf klingelte es an meiner Haustür. Da
um diese Zeit immer der Postbote kam und dieser mich kannte und wusste,
was mit mir los war, öffnete ich. Es stand aber ein Mann vor mir, den ich noch
nie gesehen hatte und der sich als Pater Ansgar vorstellte. Er hatte Augen, die
mich so intensiv anblickten, wie ich es selten erlebt hatte, und nachdem er mir
mitgeteilt hatte, dass er gekommen sei, um mit mir zu reden, ließ ich ihn -
geradezu willenlos - eintreten. Er sei Laienbruder und lebe in einem Kloster in
der Nähe von Münster, seine Aufgabe sei es, seinen Mitmenschen zu helfen. Ich
erschrak: war ich etwa als Säufer schon stadtbekannt? Doch der Pater ging mit
keinem Wort auf mein Trinken ein, obwohl jeder, der mich und meine Wohnung
sah, sofort Bescheid wissen musste. Er redete über die Möglichkeiten, die wir
Menschen hatten, um uns zu verwirklichen und um ein gutes Leben zu führen.
Alles Dinge, über die ich mir auch schon Gedanken gemacht hatte. Doch es
hatte mir immer die Kraft gefehlt, diese Dinge auch zu tun."
Ich nickte.
Frank fuhr fort: "Schon nach kurzer Zeit hatte er mich in seinen Bann gezogen.
Nicht so sehr wegen seiner Worte, sondern wegen seiner Art. Er behandelte
mich respektvoll - ich selbst hatte mittlerweile jeden Respekt vor mir selbst
verloren - und ich fühlte mich seit langer Zeit wieder als Mensch angenommen.
Nach etwa einer Stunde verabschiedete er sich. Es war genau zwölf Uhr. Und
plötzlich erfüllte mich eine ganz große Zuversicht, so, wie ich es noch nie erlebt
hatte, und ich wußte tief in meinem Innern, dass jetzt endlich alles gut werden
würde."
Ich wollte gerade fragen, was denn jetzt mit dem Engel sei, doch Frank kam mir
zuvor: "Und so kam es auch. Am nächsten Tag hörte ich mit dem Trinken auf;
es fiel mir sehr schwer, doch es klappte auf Anhieb, und irgendwann hörte das
Zittern auf. Zum ersten Mal seit langer Zeit war ich deshalb wieder richtig stolz
auf mich. Monate später rief mein alter Arbeitgeber an. Die Auftragslage hatte
sich wieder gebessert und er wollte mich wieder einstellen. Nach ein paar
Jahren lernte ich eine neue Frau kennen. Alles war gut, aber ich musste jeden
Tag an Pater Ansgar denken. Was hatte der mit mir gemacht, und wie hatte er
die Dinge so beeinflussen können? Das konnte doch kein Mensch! Und da hatte
ich die Lösung: Pater Ansgar konnte kein Mensch sein, er musste ein höheres,
mächtiges Wesen sein, wahrscheinlich mein Schutzengel. Ich wollte ihn
suchen, notfalls alle Klöster in der Nähe von Münster aufsuchen, ihn
wiedersehen, ihn sprechen, ihm tausend Fragen stellen. Doch immer, wenn ich
dahingehend irgendetwas unternehmen wollte, hinderte mich irgendetwas
daran... Und irgendwann begriff ich: es spielt doch überhaupt keine Rolle, ob er
jetzt ein Engel ist oder ein richtiger Pater oder wer auch immer. Entscheidend
ist doch einzig und allein: als ich ganz tief unten war, hatte ich häufiger um
Hilfe gebeten, und letztendlich hatte ich doch Hilfe bekommen!"
Ich hatte auch schon öfter um Hilfe gebeten, doch zu mir war keiner gekommen.
Dies wollte ich gerade laut sagen, doch unvermittelt erhob sich Frank. Er
müsse jetzt gehen, seine Reise ginge weiter. Er sah mir noch einmal tief in die
Augen, wandte sich um und ging zum Ausgang. Meine Blicke hefteten sich an
seinen Rücken, bis sich die Tür hinter ihm schloss. Im gleichen Moment
begannen die Glocken der nahen Kirche zu läuten. Ich zählte zwölf Schläge.
Und plötzlich erfüllte mich eine ganz große Zuversicht, so, wie ich es noch nie
erlebt hatte, und ich wußte tief in meinem Innern, dass jetzt endlich alles gut
werden würde.