Autorin: Katja Baumgarten

DEUTSCHE HEBAMMEN-ZEITSCHRIFT Heft 3/2005

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Hinweis zu
allen Links

 

 

 

 

Annegret Braun
Fotos: Katja Baumgarten

 

Keine Angst vor der Angst | Teil 3

Katja Baumgarten | Annegret Braun, Leiterin der Beratungsstelle PUA, knüpft bei Problemschwangerschaften ein tragfähiges Netz für die Familie. Die seelischen Lasten sollten immer auf mehrere Schultern verteilt werden

Katja Baumgarten: Es kommen inzwischen mehr Eltern als früher zu Ihnen in die Beratungsstelle PUA, die für ihr Kind eine unglückliche Diagnose bekommen haben. Was bieten Sie diesen Eltern an?

Annegret Braun: Man muss zwischen Eltern unterscheiden, die ein behindertes Kind erwarten, wo die Medizin tatsächlich helfen kann und das mit seiner Behinderung leben kann - und Eltern, wo zu erwarten ist, dass ihr Kind noch im Mutterleib oder kurz nach der Geburt sterben wird. Tatsächlich entscheiden sich wieder mehr Mütter, ihr Kind auszutragen, auch wenn es mit seinen schweren Behinderungen oder Erkrankungen voraussichtlich nicht überleben wird. So eine Schwangerschaft ist mit anderen Ängsten besetzt, als wenn eine Frau ein Kind erwartet, das lebenslange Betreuung braucht.

Oft wird Eltern bei einer aussichtslosen Prognose für ihr Kind gesagt: "Wir raten Ihnen doch eher zu einem Abbruch - das Kind stirbt in jedem Fall, man hilft hiermit nur der Natur etwas nach. Können Sie es denn aushalten, über Wochen und Monate mit diesem Wissen zu leben?" Dies wird meist sehr viel Angst besetzter gesehen. In christlichen Krankenhäusern zum Beispiel, wird aus so einem Grund der Wunsch nach einem Abbruch verstanden, und er wird auch vorgenommen, wenn das Kind keine Überlebenschance hat, beispielsweise bei einer Anencephalie. Wenn das Kind dagegen eine Erkrankung wie "Down-Syndrom" hat, dann lehnen diese Kliniken auf Grund ihrer Ethik und ihres Glaubens diesen Eingriff ab. Aber eine Frau, die ein Leben mit einem behinderten Kind vor sich hat, hat seelsorgerlich gesehen mehr Angst oder eine andere Form von Angst, als diejenige, die sich vor dem fürchtet, was bald auf sie zukommen wird: dem Erleben von Schmerz, Trennung und Tod.

Brauchen diese Eltern eine besondere Betreuung?

Wenn Eltern zu mir kommen, die ein Kind erwarten, das keine längere Überlebenschance hat, dann ist der Weg der Begleitung ein anderer. Das A und O ist, dass sich diesen Eltern - zusammen mit mir - weitere erfahrene Menschen an die Seite stellen, die selbst keine Angst vor der belastenden Situation haben. Das Schlimmste ist die Angst vor der Angst. Es ist klar, dass es auch bei den Professionellen Ängste gibt, aber sie sollten nicht vorherrschen. Die Eltern, die mit Recht Angst haben, weil sie diese Situation nicht kennen, sollten sich an den Begleitern stärken und orientieren können.

Wichtig ist, dass man nicht zu viele - aber auch nicht zu wenig Schultern hat. Dann gelingt es. Man sollte mit den Eltern genau besprechen, wen sie sich zur Unterstützung aussuchen und wen sie weniger gut brauchen können. Es gibt beispielsweise oft die Angst: "Wie belaste ich meine eigenen Eltern damit?" Dann müssen die betroffenen Eltern auch noch ihre Mitmenschen stützen, weil es denen fast schlechter zu gehen scheint, als ihnen selbst. So etwas muss man immer wieder auffangen.

Wie finden Eltern gute professionelle Unterstützung?

Ich suche ein Netz von Helfern am Ort, wo die Familie lebt - Hebammen, ein Kinderarzt, eine Kinderkrankenschwester, wenn möglich jemanden aus einer Kirchengemeinde oder aus einer anderen Beratungsstelle - weil ich selbst ja in Stuttgart tätig bin. Eine begleitende Person sollte nicht zu viel Belastung allein auf sich nehmen. Verschiedene Aufgaben sollten auf mehrere Menschen verteilt werden - sie müssen es wirklich aushalten können. Eltern, die das Gefühl haben, jemanden zu stark mit ihrem Problem zu belasten, behalten ihre Sorgen dann häufig lieber für sich. Sie spüren meine Bereitschaft, ihre Leidenssituation in mir aufzunehmen. Wenn sie merken, ich erlebe auch den Schmerz und es ist zwar schwer, aber sie dürfen meine persönliche Unterstützung annehmen - dann können die Paare auch mitgehen. Ich stehe ihnen in dieser Zeit nicht nur für die seelische Verarbeitung zur Seite. Denn wer hält so eine Krise aus, ohne dass er nicht auch aktiv handeln kann?

Wie können Eltern in so einer belasteten Situation handeln?

Wenn ein Kind bald sterben wird, kommt neben der Ohnmacht der Eltern auch ihr Bedürfnis nach Aktion: "Ich will für dieses Kind noch alles gut machen". Diese Eltern machen mit ihm vielleicht noch manche Therapien oder kaufen Kinderspielzeug - das ist auch ein Teil der Krisenverarbeitung. Ich suche mit den Eltern nach Wegen, dass sie dem Schreck und der Katastrophe nicht nur hilflos ausgeliefert sind, sondern wieder ins Zwiegespräch mit ihrem Kind kommen und die verbleibende gemeinsame Zeit sinnvoll nutzen können. Man kann deshalb trotzdem auch manchmal lachen. Eltern, die nach einer gewissen Zeit ihren Weg gefunden haben, hören von anderen häufig: "Das ist ja schrecklich, wie wird das Kind wohl aussehen, das würde ich niemals aushalten ...?" So etwas wirft sie ständig aus der Bahn.

In der Frauenarztpraxis beispielsweise, gehen viele auf "Tauchstation", sobald eine betroffene Mutter kommt. Die Frauen leiden unter dieser "Verbannung" sehr. Meistens braut sich bei ihnen schon drei Tage vor dem nächsten Arzttermin alles zusammen und sie bekommen einen harten Bauch. Der Frauenarzt sagt dann bei der Untersuchung: "Es ist alles unverändert schwierig!", und sie gehen heim und brauchen drei bis vier Tage, bis das innere Gefühlschaos wieder abgeklungen ist. Gerade einmal fünf oder sechs Tage können sie durchatmen, dann müssen sie sich schon wieder vor der nächsten Untersuchung ängstigen, weil sie meistens alle zwei Wochen einbestellt werden.

Halten Sie die häufigere Schwangerenvorsorge in einem solchen Fall für überflüssig?

Das ist als Begleitung zwar gut gemeint, aber dieses Ein- und Ausschwingen kann eine zusätzliche Belastung bedeuten. Ich frage die Eltern dann: "Wie viel Medizin brauchen Sie wirklich? Überlegen Sie mit Ihrem Arzt zusammen welche Konsequenz die Untersuchung hat. Wenn Sie den Ultraschall brauchen, dann nehmen Sie ihn - aber nicht deshalb, weil der Arzt 'Sie sehen möchte'." Die Medizin tut wenig dazu, dass ein gutes Grundgefühl zwischen den Eltern und ihrem ungeborenen Kind entsteht, weil sie eher äußerlich guckt und selten vermittelt, dass es dem Kind im Bauch seiner Mutter gut gehen kann, selbst wenn ein Anencephalus oder ein offener Rücken diagnostiziert wurde. Man muss jetzt sensibel schauen, ob die Medizin hilfreich ist oder gerade nicht. Da ist die Schwangerenvorsorge durch eine Hebamme, die mit häuslicher Betreuung zur Seite steht, eine gute Alternative.

Leider führen nicht viele Hebammen beides durch, die häusliche Betreuung und Klinikentbindungen. Wenn ich nicht selbst bei der Geburt dabei sein kann, suche ich jemanden, die entweder mit in die Klinik geht oder ich vertraue darauf, dass sich inzwischen sehr viel mehr Kreißsaal-Hebammen mit dem Thema Sterben befasst haben als früher. Ängste und Unsicherheiten wird es immer geben. Man möchte es den Eltern gerne Recht machen, trotzdem kennt man ihre Reaktionen nicht, weil man sie vorher noch nie gesehen hat. Diese Angst hemmt viele. Das ist der Vorteil, wenn ich mit dem Paar schon vier Monate durch die belastete Schwangerschaft gegangen bin. Weil wir uns inzwischen ganz gut kennen, kann ich besser erahnen, was in dem Moment das Richtige sein könnte, wenn das Kind geboren wird.

Bieten Sie betroffenen Eltern grundsätzlich an, sie bei der Geburt ihres behinderten oder kranken Kindes zu unterstützen?

Wenn die Geburt hier im näheren Umkreis stattfindet, biete ich allen Eltern an, sie auch ins Krankenhaus zu begleiten. Manche Begleitungen laufen nur telefonisch, wenn die Familie zu weit weg wohnt. Einmal habe ich eine Familie auf diese Weise begleitet - wir haben jede Woche miteinander telefoniert. Das Netz für die Eltern habe ich von hier aus aufgebaut. Eine Hebamme kam dazu und ich habe auch mit ihr und dem Kinderarzt regelmäßig telefoniert. Es ging um ein Kind mit Anencephalie. Als ich hörte, dass es bei ihnen nicht üblich ist, ein Häubchen zu verwenden, habe ich hier sechs Mützchen aus TG-Verband gebastelt und mit der Post geschickt.

In dem Moment, wo ich ein Netz aufbaue, stecke ich auch andere dazu an. Wenn ich die Helfer vor Ort unterstütze und sie den Rückhalt haben, dass sie mich bei Bedarf fragen können, dann gelingt das Zusammenspiel auch mit den Kliniken gut. Diese Frau hat in die Klinik entbunden und ist nach zwei Stunden mit ihrem Kind nach Hause entlassen worden. In dem Moment, wo Paare wissen, was sie wollen, gehen die Menschen um sie herum auch viel mehr darauf ein.

Lässt sich ein tragfähiges Netz immer problemlos knüpfen?

Sehr selten erlebe ich - was kürzlich geschehen ist - dass das Netz, das ich sorgfältig aufgebaut habe, nicht funktioniert hat. Ich hatte Zusagen von Sozialarbeitern und ganz verschiedenen Menschen, und dann ist eine Unterstützung nach der anderen eingebrochen. Schließlich bin ich selbst das Netz gewesen. Es war eine Enttäuschung für mich, wie wenig sie begriffen haben, mit welcher Belastung betroffene Eltern auf so ein schwieriges Ereignis hinleben.

Das Kind wurde mit einer schweren Fehlbildung, mit Spina bifida, per Kaiserschnitt geboren. Aber es ging ihm gut - alle waren da, das Kind wurde versorgt, es hat sogar selbst geatmet. Man hätte es nicht gleich wegnehmen müssen - man hätte die halbe Stunde warten können, bis die Mutter wieder aus der Narkose aufgewacht ist. Sie hat drei Monate in Angst gelebt, wie ihr Kind aussehen wird. Die Ärzte haben das Kind jedoch sofort verlegt. Ich dachte: Weswegen hat man es nun vorher wissen müssen, wenn sowieso alle in Hektik ausbrechen? Die Mutter musste warten, bis irgendwann abends ein Foto aus der Kinderklinik kam, auf dem sie ihren Sohn sehen konnte - aber das ist etwas anderes, als wenn ich mein Kind wirklich sehe. Diese Frau hatte Monate auf diesen Moment gewartet. Ich hatte ihr auch gesagt: "Nach der Geburt kommt die Sozialarbeiterin und bespricht alles mit Ihnen." Aber sie kam nicht, sondern sagte nur: "Geben Sie den Eltern erstmal einen Zettel von mir, die sollen sich bei mir melden."

Gerade das hatte ich vermeiden wollen. Wenn man es schon vorher weiß, könnte man manche Schritte überspringen. Es war sehr schmerzvoll für mich, zu erleben, dass es nicht so ging.

Wie können Sie die Eltern auf ihre besondere Geburt vorbereiten?

Bei einer schweren Fehlbildung des Kindes hilft es vielen Eltern, wenn wir vorher absprechen, dass entweder ich selbst oder die jeweilige Hebamme ihr Kind erst einmal ohne sie anschaut und es den Eltern dann stufenweise näher bringt. Man reinigt es zunächst, zieht es an und schildert den Eltern die Fehlbildung, bevor man das Kind gemeinsam mit ihnen anschaut. Die stufenweise Annäherung ist manchmal behutsamer, als wenn die Eltern plötzlich und ganz direkt mit ihrem Kind konfrontiert werden. So etwas kann man bereits bei der Anmeldung zur Geburt mit den Hebammen im Kreißsaal besprechen.

Ich habe immer nach meinem eigenen Gespür gehandelt und habe die Kinder zunächst angezogen - auch die ganz kleinen, die in der 18. Schwangerschaftswoche geboren wurden. Sie sind dann noch ganz weich und haben einen relativ großen Kopf. Ich habe dann zum Beispiel ein kleines Mützchen aus TG-Verband oder ein kleines Höschen aus einem Tupfer gebastelt. Wenn Sie einem Kind mit einem großen Kopf ein Mützchen aufsetzen, dann wirkt er kleiner - bei einem Kind mit einem kleinen Kopf, wirkt er mit Mützchen größer. Das heißt nicht, dass man etwas kaschieren möchte, aber das Anschauen kann dadurch schrittweise geschehen und es ist für das Auge vertrauter. Dann packt man das Kind vorsichtig miteinander aus und schaut es sich genau an, die Geschlechtsorgane und alle seine Besonderheiten. Durch dieses liebende Herantasten nähern sich die Eltern langsam dem, was ihnen ungewohnt ist. Die meisten Menschen haben noch nie ein so kleines Kind gesehen.

Dann kann man mit den Eltern beschließen, dass wir es wieder miteinander anziehen. Der Tod hat ja auch etwas Kaltes und es wird einem selbst oft ganz kalt. Wenn die Kinder wieder bekleidet sind, strahlt das auch etwas Wärmendes, nicht nur Hilfloses aus. Die Kinder sehen oft sehr ruhig und schlafend aus - man hat das Gefühl, sie sind gar nicht tot, wenn sie so entspannt da liegen.

Sie strahlen eine große Sicherheit aus, dass es eine heilsame Art im Umgang mit dem Tod gibt.

Diese Bilder und diese Erlebnisse sind wichtig für den Weg danach. Weil mir diese Situationen vertraut sind, kann ich hier in der Beratungsstelle schon mit Paaren darüber sprechen, oder ich telefoniere mit der Hebamme und bespreche mit ihr, was sich die Eltern wünschen. Die Hebammen und Ärzte im Kreißsaal sind manchmal unsicher, weil sie nicht wissen, wie man die Situation würdig gestalten kann. Dann kommt es vor, dass sie das Kind in einer nackten Nierenschale bringen. Inzwischen verwenden viele auch schon Körbchen - und trotzdem muss man überlegen, wenn man einen riesigen Binsenkorb für ein normal großes Neugeborenes hat, legt man da kein 180 Gramm schweres Kind hinein. Man kann auch aus einer Nierenschale mit Watte ein kleines Bettchen machen. Ich habe neulich in einem Krankenhaus erlebt, wie ein Kind in eine Nierenschale gelegt wurde, die in eine Windel gehüllt war. Es lag wie in einem weißen Bettchen und rundherum waren Blüten gesetzt - das hatte man gar nicht erwartet. Es ist so wichtig, dass man auch für das Auge etwas tut, wo die Liebe sichtbar wird und nicht nur der erschreckende Tod im Vordergrund steht.

Genauso ist es mit der Bestattung des Kindes. Wenn man vorher weiß, dass das Kind nicht leben wird, kann man bereits über die Bestattung nachdenken und die Form finden, wie und wo die Eltern es am liebsten bestatten würden, beispielsweise im eigenen Garten, wenn es ein ganz kleines Kind ist, oder im Familiengrab oder es bekommt ein eigenes Kindergrab.

Gibt es Probleme, wenn das Kind im eigenen Garten bestattet wird?

Es gibt nur Probleme für diejenigen, die Probleme machen. Wenn das Gewicht des verstorbenen Kindes unter der Grenze von 500 Gramm liegt, gibt es keine Bestattungspflicht. Inzwischen ist es allgemein ein Anliegen geworden, auch früh verstorbene Kinder würdig zu bestatten. Sammelbestattungen werden immer üblicher und auch auf politischer Ebene tut sich viel. Im Stuttgarter Raum gibt es nicht mehr ganz so große Aufregung, wenn die Eltern sagen, sie wollen ihr verstorbenes Kind nach der Geburt mitnehmen. Zunächst gab es Sorgen: "Was machen die Eltern mit diesen Kindern?" oder "Halten die Eltern das aus?" Ihnen wachsen Kräfte zu - wo ein Wille ist, geht auch ein Weg! Wenn das Personal das in Frage stellt, zündet man diese Angst. Ärzte und Hebammen sollten mehr Flexibilität ermöglichen, so dass sie nicht zu sehr von ihren eigenen Ängsten und Fantasien gefangen sind. Wenn ich meine eigene Angst vor diesem Geschehen verloren habe, nehme ich auch anderen die Angst. Es gibt auch lachende und freudige Situationen darin. Man sollte oft gerade das tun, was man mit gesunden Kindern auch machen würde. Ein lebendes Kind wird ja auch eingehüllt. Die verstorbenen Kinder brauchen die Wärme zwar nicht, aber man kann diese vertrauten Handlungsweisen beibehalten.

Was sollte man besonders beachten?

Gerade kleine Dinge können wichtig sein: Beispielsweise wenn man Fußabdrücke mit Stempelfarbe abnimmt, sind die Händchen und Füßchen der Kinder danach blau - also mache ich das besser erst ganz zum Schluss. Wenn man Fingerfarben verwendet, die man abwaschen kann, geht es wunderbar. Manche Kolleginnen sagen, "Ich mache gleich alles, dann haben wir das schon erledigt." Unter Umständen ist es nicht der richtige Zeitpunkt. Auf diese kleinen Aufmerksamkeiten kommt es an.

Man kann Eltern auch ein Erinnerungsstück aus der Klinik mit einpacken, wenn sie es gerne möchten. Es treibt den Pflegesatz nicht in die Höhe, wenn man den Eltern ein Tuch oder Mützchen oder einen anderen Gegenstand mitgibt, der ihnen vertraut geworden ist. Man sollte nicht unterschätzen, wie viel Wert so etwas haben kann. Das sind jetzt mehr die äußeren Dinge. Seit das Buch von Hanna Lothrop "Guter Hoffnung - jähes Ende" mehr Beachtung gefunden hat, habe ich allerdings gelegentlich den Eindruck, es kann auch zuviel werden. Mir tun manchmal die Eltern Leid, die das alles nicht so erlebt haben, weil sie sehr schnell das Gefühl bekommen, es fehlt ihnen etwas. Die Trauer sollte nicht an dem festgemacht werden, was ich alles "habe" und "gemacht habe". Das kann manchmal ganz wenig sein - es ist eher das "Wie".

Wie können Geschwisterkinder in die Betreuung einbezogen werden?

Einmal hatte ich ein unvergessliches Erlebnis mit einer Familie. Ab der 22. oder 23. Woche wussten die Eltern, dass ihr Kind mit einer Chromosomenstörung und einer schweren Fehlbildung geboren werden würde, wahrscheinlich war keine Nase angelegt. Die Angst, wie das Kind aussehen würde, erschwerte die Situation.

Das Kind kam zur Welt und für jemanden, der unvorbereitet gewesen wäre, hätte es Schrecken ausgelöst. Die Augen und die Nase waren tatsächlich nicht vollständig ausgebildet. Die Eltern konnten es jedoch sehr gut aufnehmen. Sie waren aber besorgt, wie die drei Geschwister den Anblick empfinden würden. Als ich dazu kam, waren die Schwestern schon da und guckten vorsichtig nach ihrem kleinen Bruder. Ich habe dann gesagt, "Jetzt gucken wir einmal zusammen." und habe ihnen erklärt: "Im Bauch ging es Eurem Bruder gut - warum? Weil man im Bauch nicht schnaufen muss. Hören konnte er Euch, das seht Ihr - er hat Ohren. Aber jetzt kann er nicht mehr leben, weil er nicht die Nase hat, die er dazu braucht. Er konnte nicht atmen und ist deshalb gestorben." Als ich ihnen das so erzählte, erschien es ihnen logisch. Er war wunderschön angezogen mit Flauschsöckchen und einem blauen Strampler. Die Kleidung macht so viel aus, das ist wichtig. Man gewöhnt sich eigenartigerweise recht schnell an den ungewöhnlichen Anblick eines Kindes. Nach zwei, drei Stunden haben die Kinder sich verabschiedet. Das älteste Mädchen, sie war etwa sechs Jahre alt, sagte zu ihrer Mutter zum Abschied: "Nicht wahr, unser Brüderchen ist doch wunderschön!" Mit diesem anderen Blick hat sie ihrer Mutter das größte Geschenk gemacht.

Tausende von Ärzten und Schwestern hätten wahrscheinlich gesagt, die Geschwisterkinder sollten dieses Kind lieber nicht ansehen. Die Sorge, was es den Geschwistern ausmachen könnte, ist oftmals unangebracht. Man muss nur dabei sein, dass Kinder es auch so liebevoll sehen können.

 

Im ersten, zweiten und vierten Teil des Gesprächs berichtet Annegret Braun über die Schattenseiten eines unkritischen Einsatzes der Pränatalen Diagnostik, den persönlichen Hintergrund ihres Engagements und erzählt von ihren Erfahrungen in der Sterbebegleitung kranker Neugeborener, die nicht lange leben können.

Teil 1 | Teil 2 | Teil 4

 

PUA
Die PUA-Beratungsstelle zu Pränatalen Untersuchungen und Aufklärung bietet werdenden Müttern und Eltern zu dem oftmals unüberschaubaren Angebot von vorgeburtlichen Untersuchungen Beratung und wo nötig und gewünscht auch Begleitung an. Als Ergänzung zur medizinischen Aufklärung und Beratung wird hier angeboten, in Ruhe das Für und Wider von Testanwendungen abzuwägen Die kostenfreie Beratung ist von Medizin und Humangenetik unabhängig. Sie unterliegt der Schweigepflicht, ist ergebnisoffen und konfessionsunabhängig.

PUA-Beratungsstelle
Diakonisches Werk Württemberg
Heilbronner Str. 18
70191 Stuttgart
Tel.: 0711/1656-341
Mail: pua@diakonie-wuerttemberg.de
www.diakonie-wuerttemberg.de/direkt/pua

Die Interviewte
Annegret Braun
ist gelernte Kinderkrankenschwestern und war Lehrerin für Kinderkrankenpflege in Zürich. Sie baute eine häusliche Kinderkrankenpflege in Stuttgart auf, studierte Soziale- und Pflege-Diakonie und bot als Klinikseelsorgerin über elf Jahre in einer großen neonatologischen Abteilung Müttern und Eltern Begleitung an. Aus diesen Erfahrungen entstand die Initiative zur Einrichtung der PUA-Beratungsstelle im Diakonischen Werk Württemberg in Stuttgart. Seit fast acht Jahren ist sie die Leiterin von PUA.


Die Autorin
Katja Baumgarten
ist freie Hebamme, Filmemacherin und Journalistin in Hannover. Sie ist als Mitglied der Redaktion und als Fachbeirätin für die Deutsche Hebammen Zeitschrift tätig. Ihr autobiografischer Dokumentarfilm Mein kleines Kind handelt von der Entscheidungsnot und Problematik nach Pränataler Diagnostik. Weitere Informationen: www.KatjaBaumgarten.de.

Filme und Artikel von Katja Baumgarten

_________________________________________________________________________