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Autorin: Katja
Baumgarten
Annegret Braun
Wieder selbst entscheiden
können | Teil 1 Katja Baumgarten hat mit Annegret Braun gesprochen. Sie ist Leiterin der Beratungsstelle PUA in Stuttgart. Die streitbare Kinderkrankenschwester und Diakonin sieht die Entwicklung der pränatalen Diagnostik mit großer Sorge |
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Katja Baumgarten: Ich habe noch nie eine so schön eingerichtete Beratungsstelle gesehen! Annegret Braun: Zu mir kommen die Eltern, die ein Gespräch suchen, nicht als Patienten oder Klienten, sondern als Gäste. Das verleiht der Beratungsstelle den besonderen Charakter. Ich lege niemals zwei Termine direkt hintereinander. Wenn Eltern hier sind, dann haben sie einen freien Gesprächsraum. Sie können die Beratung so lange in Anspruch nehmen, bis sie wieder das Gefühl haben, sie haben hier eine Wahl. Sie beraten Eltern auch, bevor Pränataldiagnostik durchgeführt wird. Ich biete Beratung vor, während und
nach pränataldiagnostischen Untersuchungen an. Über die Hälfte
der Frauen, die anrufen, stehen vor den Tests. Das macht die Arbeit
sehr viel sinnvoller, weil die Schwangeren dann noch Spielräume
haben, wo sie selbst bestimmen können. Später, wenn erst einmal
Auffälligkeiten festgestellt wurden, kommt die Angst ins Spiel
und dann ist sehr viel fremd gesteuert - dann klammert sich jede an
Untersuchungen und Tests. Was ist das Ziel Ihrer Beratung? Eltern sollten auswählen können,
welche der vorgeburtlichen Untersuchungen sie in Anspruch nehmen möchten
und welche sie ablehnen. Ebenso sollen Eltern frei und eigenbestimmt
ihre Entscheidung finden, wenn es um die Fortsetzung oder die Beendigung
einer Schwangerschaft geht - wenn man eine Behinderung oder schwere
Krankheit ihres ungeborenen Kindes erwartet. So geschieht es ja häufig in der Geburtshilfe. Ja, die Medizin spielt dabei mit und steht nicht zu ihren Grundlagen, was medizinische Eingriffe eigentlich sein sollten - zum Beispiel auch bei der Beurteilung der Gynäkologen, was eine medizinische Indikation zum Schwangerschaftsabbruch darstellt. Ich wehre mich natürlich gegen Kataloge. Aber langsam wird es Zeit, dass Ärzte sich neu darüber klar werden, wann sie wirklich eine medizinische Indikation ausstellen können - wenn sie einschätzen, ob eine Frau durch die Erkrankung oder Behinderung ihres Kindes in eine psychische Notlage kommt, die sie nicht meistern kann. Wie denken Sie in dieser Frage? Ich hatte kürzlich eine Diskussion mit einer Familie, die einen Jungen mit Klinefelter-Syndrom erwartete, der mit 99-prozentiger Wahrscheinlichkeit später keine Kinder bekommen kann, aber alle Chancen hat, ansonsten weitgehend normal und gesund durchs Leben zu gehen. Natürlich ist ein Arzt oder ein Humangenetiker verpflichtet, die Eltern über diese Chromosomenstörung oder Veränderungen - ein Krankheitsbild ist es ja gar nicht - aufzuklären. Aber muss dahinter der Satz stehen: "Sie können auch die Möglichkeit eines Schwangerschaftsabbruchs mit erwägen."? Wenn man alles sachlich schildert, gibt es dafür keinen Grund. Man verleiht dieser chromosomalen Veränderung eine besondere Problematik, wenn sie der Grund dafür sein könnte, dass man dem Kind das Leben nimmt. In dem Moment, wo man das anbietet, bekommt jede Diagnose, auch wenn es sich um eine wenig gravierende Fehlbildung handelt, eine andere Dimension. Ich halte es nicht für richtig, dass schon bei der ersten Aufklärung über eine schwere Erkrankung oder Behinderung eines Kindes thematisiert wird, dass auch ein Schwangerschaftsabbruch eine Lösung sein kann. Sie würden empfehlen, dass Ärzte die Möglichkeit des Abbruchs zunächst gar nicht aufwerfen? Ich würde aus den Mutterschaftsrichtlinien
die Auflage streichen, dass den Eltern bei einem pathologischen Befund
ein Schwangerschaftsabbruch angeboten werden muss. Wenn Eltern kommen,
nachdem sie über die Perspektiven mit ihrem Kind aufgeklärt
wurden, und sich in ihrer Verzweiflung nicht mehr in der Lage sehen,
das Kind auszutragen, dann kann man diesen Weg mit ihnen in Erwägung
ziehen. Aber dass vorauseilend die Medizin den Abbruch schon anbietet,
bringt jedes Behinderungsgeschehen und jedes Krankheitsbild in eine
besondere Dramatik. Seit wann existiert die Beratungsstelle PUA? Seit August 1997. Ich habe damals bereits Beratungen vor den Tests gemacht, aber ich habe nicht damit gerechnet, dass sich dieser Bereich so ausweiten würde. Eigentlich ist das logisch, weil die Technik immer häufiger angewandt wird, auch wenn nichts vorliegt. Es ist ja die Ausnahme, dass Kinder mit Erkrankungen oder Fehlbildungen geboren werden: 97 Prozent aller Kinder kommen gesund auf die Welt. So ist es ganz natürlich, dass ich mehr Beratungen vor den Tests habe, als dass ich die andere Seite erlebe. Die Zahl der Beratungen bei Auffälligkeiten steigt allerdings parallel zu diesen neuen pränatalen Test- und Untersuchungsangeboten. Das sind ja keine definitiven Diagnosen, sondern Abschätzungen eines Risikos, beispielsweise einer Nackenfaltentransparenz, die einen Millimeter über der Norm liegt oder eines Hormons, das ein bisschen aus der Reihe tanzt. Diese Sonderleistungen, auch mit Hilfe des Ultraschalls, nehmen sehr stark zu und schaffen Ängste durch Auffälligkeiten, die oftmals keine oder nur wenig Bedeutung haben. Wie oft erleben Sie es, dass Eltern sich nach einer problematischen Diagnose für ihr Kind mit Entscheidungsfragen auseinander setzen müssen und zu Ihnen kommen? Im Verhältnis zu den anderen Beratungen
sind es wenige. Wenn Gynäkologen und Humangenetiker eine ernste
Diagnose für das Kind feststellen, verdichtet es sich bei den Eltern
meist sofort: "Wir wollen das Kind nicht." Dadurch, dass es
keine Beratungspflicht gibt, wird das Angebot für Eltern, zu einer
Beratungsstelle zu gehen, nicht so häufig wahrgenommen. Wenn der
Gynäkologe sagen würde: "Ich kann Sie verstehen, dass
Sie sofort ein Ende der Schwangerschaft wollen, Ihre Angst steigert
das Problem ins Unermessliche. Wir werden den Schwangerschaftsabbruch
trotzdem erst frühestens in fünf bis sechs Tagen durchführen.
So viel Zeit brauchen Sie nach unserer Erfahrung mindestens, wenn nicht
sogar noch länger. Ich empfehle Ihnen, sich in dieser Zeit mit
Menschen zusammenzusetzen - zum Beispiel auch Menschen aus Beratungsstellen,
die in dieser Situation unabhängig sind. Es geht nicht darum, dass
man Ihren Willen nicht respektiert und die Entscheidung, die Sie jetzt
getroffen haben, umstößt, sondern darum, dass Sie noch einmal
durchdenken, ob es wirklich Ihr Weg ist. Denn die Erfahrung zeigt, dass
man bei Entscheidungen "auf die Schnelle" hinterher manchmal
sieht, dass es doch nicht die richtige Lösung war." Dann würden
wahrscheinlich mehr Eltern zur Beratung kommen. Aber so läuft es
nicht, sondern der Gynäkologe sieht natürlich die Verzweiflung
und will die Eltern schnell befreien. Drei Tage braucht ein Mensch mindestens,
bis er aus einem Schock, aus der Krise herauskommt. Das ist solange
wie von Karfreitag bis Ostern - das ist ein natürliches Gesetz.
Und dann sollte man noch etwas Zeit dazu geben. Haben Sie diese Reaktion auf den Film bemerkt? Ja, ich denke schon. Die Menschen, auf die diese Eltern treffen, habe nicht mehr nur die spontane Reaktion: "Ja, lass es wegmachen!", sondern raten öfter: "Da kenne ich noch eine andere Möglichkeit." Auch aus der Fachwelt, von Klinikärzten und niedergelassenen Gynäkologen, kommt inzwischen mehr die Anregung zu dieser Alternative. Bei den "Hardlinern" der Pränataldiagnostik sehe ich es allerdings nicht. Da fließen immer noch Auffassungen ein, als wenn die Schwangerschaften mit Kindern, die Störungen haben, auch für die Gesundheit der Mutter enorm risikoreich wäre. Wobei ich aus meiner Erfahrung nicht nachvollziehen kann, dass es zu sehr viel mehr Störungen kommen kann, als bei Schwangerschaften mit gesunden Kindern. Komplikationen, wie Präeklampsien und Gestosen gibt es auch bei Kindern, die keine Chromosomenstörungen haben. Es ist also nicht die psychische Gesundheit gemeint, sondern dass in der Schwangerschaft auch körperliche Probleme für die Mutter auftauchen können? Ja, manchen Frauen wird gesagt: "Wenn
Sie das Kind austragen, dann ist auch Ihre Gesundheit gefährdet."
Wenn diese Aussage zusammentrifft mit einem Kind, das eine Krankheit
hat, die nicht mit dem Leben zu vereinbaren ist, dann möchte ich
die Frau sehen, die das noch aushält. In der pränatalmedizinischen
Fachwelt wird leider auch mit solchen "Argumenten" gespielt.
Das ist bitter, denn es nimmt den Menschen die Chance, ihre eigenen
Wege wirklich zu gehen. Ist die umfassende Aufklärung immer ein Gewinn für die Schwangere? Es ist eine Schwierigkeit bei der Beratung zur Pränataldiagnostik, dass ich Frauen und Paare in etwas hineinstürze, in das sie eigentlich gar nicht hinein müssten. In diesem Zwiespalt befinde ich mich immer. Die Frauen haben vielleicht ein gutes Grundgefühl in ihrer Schwangerschaft und müssen sich trotzdem den Kopf zerbrechen, ob sie die Tests machen lassen wollen. Damit sie wirklich eine Wahl haben, muss ich ihnen auch die Konsequenzen klar machen. Ich sitze dann mit den Eltern zwei, drei Stunden zusammen - es geht soweit, dass ich mit ihnen über einen Schwangerschaftsabbruch nachdenken muss. Ich will ihnen ja keine Horrorszenen ausmalen, aber ich will ihnen deutlich machen mit welchen Schrecken und Belastungen auch dieser Weg besetzt sein kann. Viele Menschen können nicht absehen, dass das Erlebnis danach nicht vorbei ist, sondern dass die Bilder und Eindrücke wieder ins Leben einfließen. Ich sage den Eltern: "Wir sind jetzt weit weg von einem Schwangerschaftsabbruch, aber ich muss es mit Ihnen diskutieren." Dazu sagt der Arzt dann: "Was soll diese eingehende Beratung und Information zum Abbruch eigentlich - dafür, dass es 97 Prozent gar nicht trifft? Wir brauchen doch zunächst gar nicht alle aufklären. Wir tun das bei den drei Prozent, wenn es dann tatsächlich zum Thema wird und es "passiert" ist". Das ist im Grunde eine Verdrängung - wenn es passiert ist, dann ist es zu spät. Deswegen braucht die Beratung viel Zeit - wenn ich mit den Eltern diese Untiefen anschaue, muss ich sie auch wieder zurückholen. Am Schluss sehen wir, welche Gewichtung es für den Einzelnen mit seinen persönlichen Möglichkeiten bekommt. Ich stärke die Eltern dann wieder mit dem, was eigentlich ihr Wille und ihre Vorstellung ist. Wie erleben Sie das Selbstbestimmungsrecht der Schwangeren? Es wird immer eine Minderheit sein, die
eine Beratung aufsucht. Die anderen retten sich in das, was man üblicherweise
macht. Bei mir empört sich alles dagegen, dass man denen, die sagen.
"Ich möchte diese Untersuchung nicht.", unterstellt:
"Ja, wenn Sie ein behindertes Kind wollen...!" Im zweiten, dritten und vierten Teil des Gesprächs berichtet Annegret Braun über den persönlichen Hintergrund ihres Engagements, ermutigt zur menschlichen und professionellen Begleitung von Eltern, die ein krankes Kind erwarten und erzählt von ihren Erfahrungen in der Sterbebegleitung kranker Neugeborener, die nicht lange leben können.
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