Ist das altägyptische Buch Thot ein Vorläufer des Tarot?
Wenn der angeklagte und bald darauf gesteinigte Stephanus in der Apostelgeschichte vor dem jüdischen «Hohen Rat» davon redet, dass Mose in aller Weisheit der Ägypter ausgebildet wurde (Apg 7,22), dann möchten wir annehmen, dass Mose nicht nur das für seine Zeit gängige Wissen, wie es damals üblich war, im wahrsten Wortsinn «eingebläut» wurde; wir erwarten, dass er darüber hinaus als Ziehsohn einer Pharaonentochter (Ex 2,10) Kenntnisse erlangte, die nicht jedem vermittelt wurden, dass er eingeweiht wurde in das geheime Wissen der Priester, Zauberer und Magier.
Für diesen Bereich war in der ägyptischen Götterwelt Thot, der Mondgott und Gott der Wissenschaft und Weisheit, zuständig (meist wurde er als Mensch mit Ibiskopf dargestellt). Die Griechen nannten ihn Hermes Trismegistos und setzten ihn mit ihrem eigenen Gott Hermes gleich, dem eine Fülle von Funktionen zugeschrieben wird. Ulrich Leive malte den Hermes als Götterboten mit Zauberstab, Flügelschuhen und Reisehut.
Der «dreimalgrößte» Hermes der Ägypter galt als Erfinder der Schreib- und Rechenkunst und soll nicht nur theologische und philosophische, sondern auch astrologische und okkulte (eben «hermetische») Werke verfasst haben, so auch Das Buch Thot, das manche Esoteriker und Okkultisten der Neuzeit wie Court de Gébelin (1719-1784) im ausgehenden 18. Jahrhundert und Aleister Crowley (1875-1947) im frühen 20. Jahrhundert als Quelle für das Tarot ansehen. Ihrer Meinung nach soll das Tarot ein Wissen beinhalten, das schon in Geheimzirkeln des alten Ägypten gelehrt wurde. Das ist zwar eine Behauptung, die sich kaum beweisen lässt (meist wird sogar gesagt, sie sei eindeutig widerlegt, denn das Tarot-Kartenspiel sei komplett frühestens im 15. Jahrhundert nachweisbar), aber der vermeintlich altägyptische Ursprung soll dem Tarot eine größere Autorität verleihen, ihm mehr Gewicht als Wahrsage- und Weisheitsbuch geben.
Bekanntlich sind ganz allgemein viele Freimaurer, Mitglieder von Logen und esoterischen Geheimgesellschaften in die Idee verliebt, im alten Ägypten sei die Fackel des verborgenen Wissens entzündet worden, die für «Eingeweihte» noch heute leuchtet.
Wenn man sich mit dem Tarot befasst, dann gilt das Hauptinteresse meist den 22 Trumpf- und Symbolkarten, die man «Großes Arkanum» oder, wenn man die Bezeichnung «Arkanum» auch auf die Einzelkarte anwendet, «Große Arkana» nennt.
Uraltes nicht nur aus ägyptischen Quellen fließendes Wissen soll in den Bildern verborgen sein, manche ihrer Symbole und Zahlen sollen sich auch in der Bibel bei Ezechiel und der Offenbarung des Johannes finden lassen. Eliphas Lévi (1810-1875), vielleicht der bedeutendste Gelehrte der Geheimwissenschaften, bringt sie mit der Kabbala, der jüdischen Geheimlehre, in Verbindung.
Es überrascht uns nicht, dass Ulrich Leive, der Bibel- und Mythenmaler, sich ebenfalls intensiv mit dem Tarot beschäftigt hat. Mehrfach hat er das «Große Arkanum» gemalt, komplett jeweils als Gouacheserie und am Computer als Computer-Gemälde, einzelne ausgewählte Arkana zusätzlich als größere Acrylgemälde auf Hartfaser. Seine Deutung steht nicht immer in der Tradition, manchmal lässt er eigene Erkenntnisse und Überzeugungen in die Bilder einfließen.
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