- Lydia Brüll
- Was ist ein Haibun ?
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- Immer mehr westliche Haiku-Dichter/innen entdecken das
Haibun als ein neues Betätigungsfeld für ihre kreative Gestaltung. Deshalb möchte ich
dieses Genre der japanischen Literatur in einigen in loser Folge erscheinenden Beiträgen
in dieser Zeitschrift vorstellen. Ich bin der Auffassung, daß es wichtig ist, eine
Kunstform, noch dazu wenn sie aus einer für den Europäer doch relativ fremden Kultur
erwachsen ist, am Original kennenzulernen und zu studieren. Ein klares Bild von der
Entwicklung des Haibun und seinen Forderungen an Form und Gehalt ist für das Verstehen
und noch mehr, wenn man selbst in diesem Bereich kreativ werden will, unabdingbar. Nun ist
ein Studium am Original nur jenen möglich, die der japanischen Sprache mächtig sind und
über ein fundiertes Hintergrundwissen der japanischen Kultur verfügen. Müssen aber am
Haibun Interessierte, die über diese Voraussetzungen nicht verfügen, deshalb außen vor
bleiben? Natürlich nicht. Allerdings muß die Bereitschaft, sich in das Sujet mit seinen
formalen und kunsttheoretischen Stilmitteln wirklich einarbeiten zu wollen, vorhanden
sein. Denn der sichere Umgang mit dem japanischen Haibun und seinen künstlerischen
Ausgestaltungen ist Bedingung für eine adäquate Übertragung dieser Kunstform in unseren
Sprach- und Kulturraum.
- In dem vorliegenden Beitrag gebe ich einen kurzen
historischen Überblick über das Haibun. In den nachfolgenden Beiträgen stelle ich
einige Haibun in deutscher Übersetzung mit Erklärungen vor. Bei diesen Erläuterungen
geht es keinesfalls um ein Hineininterpretieren aus deutscher Sicht, sondern um die
Aufhellung von Hintergründen, die für einen Japaner, jedoch nicht unbedingt für uns,
selbstverständlich sind. Da nicht alle Interessenten die Möglichkeit haben, an Symposien
und dgl. teilzunehmen, gebe ich weiterführende deutschsprachige Literatur für ein
Selbststudium an.
- Die Haikai-Dichter Japans pflegten nicht nur das Haikai,
sondern auch eine dem Haikai angemessene Prosa, das Haibun. Haibun" ist eine
Zusammenziehung von Haikai no bunshô" und bedeutet
Hai(kai)-Prosa (bun) oder Prosa im Haikai-Stil. Der Terminus kam zu Beginn des 17. Jh.
auf. Diese Prosaaussagen wurden in der Form von Miszellen, von Tagebuchaufzeichnungen oder
Reisetagebüchern, Briefen, literaturtheoretischen und philosophischen Essays u.ä.
festgehalten.
- Das Haibun hatte in der japanischen Literatur bereits
seine Vorläufer. Vor allem die Literaturgattung Zuihitsu" (Miszellen) und die
Tagebuch- und Reisetagebuchliteratur (Nikki, Kikô)(1)
erfreuten sich schon vor ihm großer Beliebtheit. Zuihitsu" bedeutet dem
Pinsel (hitsu) folgend (zui)" und weist auf Schriften hin, die aus spontaner
Eingebung Eindrücke, Erfahrungen und Überlegungen in den Pinsel fließen
lassen" und skizzenhaft zu Papier bringen. Ein Zuihitsu kann aus einfachen
Wortnotizen, Sentenzen, aber auch aus längeren Essays bestehen. Inhaltlich weist es eine
thematische Vielfalt auf: Natur und Menschenleben, Gesellschaftskritik, Wissenschaft,
Philosophie, Literaturtheorie usw. Gerade wegen dieser Themenvielfalt bedienten sich
Schriftsteller, Gelehrte, Staatsmänner, Mönche gern dieser Form literarischer
Aufzeichnung. Als klassische Meisterwerke des Zuihitsu gelten das Makura no sôshi
(Kopfkissenbuch) der Hofdame Sei Shônagon (10. Jh. n. Chr.), das Hôjôki (Aufzeichnungen
aus den zehn Fuß im Geviert meiner Hütte) des Kamo no Chômei (1153-1216), das
Tsurezuregusa (Aufzeichnungen in Mußestunden) des Yoshida Kenkô (1283-1350) und das
Kagetsusôshi (Notizen bei Kirschblüten und Vollmondnacht) des Matsudaira Sadanobu
(1758-1829).(2) Es ist empfehlenswert, sich anhand
dieser Werke in das Genre des Zuihitsu einzulesen. Übrigens findet in Japan auch heute
noch diese Literaturgattung großes Interesse. Vor allem Literaten, Journalisten und
Wissenschaftler greifen gern auf das Zuihitsu zurück, um ihre Gedanken einem breiteren
Leserpublikum vorzustellen.
- Im allgemeinen rechnen die japanischen
Literurwissenschaftler die gesamten Prosaaussagen der Haikai-Dichter zum Genre
Haibun,
wobei das Haibun für sie wiederum eine Untergruppe der Zuihitsu-Literatur bildet. Manche
Literaturwissenschaftler klammern jedoch die Reisetagebücher der Haikai-Dichter aus und
ordnen diese der Literaturgattung Tagebuch zu.(3)
- Der Haibun-Verfasser gestaltet seine Texte aus seinem
inneren Erleben heraus und reiht Gedanken an Gedanken skizzenhaft aneinander. In der
Stoffwahl wird dem Schriftsteller große Freiheit zugestanden. Wir finden dort
alles, was einer Darstellung wert, was nur überhaupt erlebbar und wahrnehmbar ist.
Landschaften, Jahreszeiten, Feste im Wandel des Jahres, volkskundlich interessante
Begebenheiten oder Dinge, Tiere, Pflanzen, Steine, das gesamte Leben und Wirken der Natur
werden im gleichen Maße geschildert wie rein persönliche Gedanken und Betrachtungen,
Belehrungen und Ermahnungen, Überlieferungen aus dem Leben der Dichter vergangener
Zeiten. Aber auch Vorworte zu Sammlungen, Kritiken an Werken anderer und Briefe an Freunde
und Bekannte finden Aufnahme.(4)" Daß ein
Haibun einen hohen Anteil von Haikai aufweist, versteht sich eigentlich von selbst. So ist
ein Haibun im allgemeinen eine lockere Abfolge von Haikai-Prosa und -Poesie. Die Haikai
werden entweder in den Prosatext eingestreut oder schließen diesen ab. Dabei stellt das
Haikai in seiner Prägnanz jeweils den lyrischen Höhepunkt des Prosatextes dar. Wie die
Haibun-Literatur jedoch zeigt, muß ein Haibun nicht unbedingt ein oder mehrere Haikai
aufweisen. Viele Texte kommen auch ohne dieses aus, ohne deshalb an dichterischem Wert zu
verlieren.
- Wie für das Haikai gilt auch für das Haibun Matsuo
Bashô (1644-1694) als der erste, wenn nicht überhaupt bedeutendste Vertreter. Durch
seine besondere Haltung gegenüber dem All und durch seine kunsttheoretische Auffassung
prägte Bashô diese Literaturgattung maßgeblich. Deshalb wenden wir uns auch ihm zuerst
zu. Weitere angesehene Haibun-Schriftsteller sind u. a. Yosa Buson (1715-1783), Yokoi
Yayû (1702-1783), Kobayashi Issa (1763-1827).
- Für Bashô muß ein gelungenes Haibun folgende Kriterien
erfüllen:
- Es darf kein vom Verstand her konstruiertes
Machwerk sein, sondern muß aus dem spontanen Erlebnis heraus entstehen;
- es muß eine geschlossene Gesamtkonzeption besitzen
und darf dennoch nicht abschließend sein;
- es muß einen prägnanten und schlichten Stil
aufweisen;
- Verwendung von Anspielungen auf Gedankenbilder
berühmter Dichter, Gelehrter, Mönche usw. aus vergangener Zeit gelten als ein
wesentliches Stilmittel;
- alle den Gehalt eines Haikai bestimmenden
kunsttheoretischen Forderungen wie yoin (Nachhall), makoto (WahrheitlWahrhaftigkeit),
fueki-ryûkô (Wandelbare und Unwandelbare), sabi (Einsamkeit") usw., die
eigentlich jedem westlichen Haiku-Dichter bekannt sein müßten, gelten auch für das
Haibun.
- Wie wir später sehen werden, sind diese Kriterien nicht
nur graue Theorie, sondern Bashô selbst erfüllt diese in seiner Haikai-Prosa. Nicht ohne
Grund äußert Yokoi Yayû, daß es schwer sein dürfte, die Höhe Bashôs auf dem
Gebiet des Haibun zu erreichen", und Soryû hält in seinem Nachwort zu Bashôs
Reisetagebuch Oku no hosomichi (Auf schmalen Pfaden durchs Hinterland) fest: Da ist
eben alles vorhanden in diesem Werk: Trockenes und Brilliantes sowie Imposant-Kräftiges
und Zart-Sich-Verflüchtigendes...! Verfolgen wir Schritt für Schritt diese schmalen
Pfade durchs Hinterland, können wir nicht umhin, manchmal vor Begeisterung aufzuspringen
und in die Hände zu klatschen, dann aber auf dem Boden uns vor Schmerzen zu winden, als
würden uns Leber und Eingeweide zerhackt. Mitunter kommt es vor, daß wir schon drauf und
dran sind, nach dem Strohumhang zu greifen, um selber auf die Reise zu gehen auf eine solche
Reise! Und ein andermal sitzen wir wie angewurzelt und betrachten nur die Landschaft, die
da gerade vor unseren Augen ersteht. Was für eine überwältigende Vielfalt an
Eindrücken, die wie zu Perlen gefrorene Tränen von Meerjungfrauen anmuten! Was für eine
Reise und was für ein Mensch mit dem Talent, alles zu fassen!(5)"
- Im Gegensatz dazu beurteilt Bashô in seiner
Bescheidenheit und stets an den großen Dichter-Vorbildern der Vergangenheit orientiert
seine Haikai-Prosa als geist-und talentlose Schreibereien". Obwohl man
nun meint, daß Dinge wie an diesem Tage fällt Regen und um die Mittagszeit hellt
es sich auf, da stehen Kieferbäume und dortfließt ein so und so genannter Fluß"
ein jeder aussprechen kann, so soll man sie doch nicht niederschreiben, wenn nichts von
der Originalität eines Huang und der Frische eines Su(6) vorhanden ist. Aber sei es auch so, die
Landschaft der verschiedenen Plätze bleibt mir im Herzen haften und auch die kümmerliche
Traurigkeit der Bergrasthäuser und Landherbergen, sie geben bald einen Gesprächsstoff.
Auch die Regungen von Wind und Wolken leben in meinen Gedanken weiter und unvergeßliche
Orte und Plätze; all das schreibe ich, ganz ohne Ordnung, zusammen. Nun, man nehme es
für das Schwätzen eines Betrunkenen, man halte es für die Phantasterei eines im Schlafe
Sprechenden; man fasse es als Worte ohne Bedeutung auf.(7)"
- Wie die Haikai des Bashô weisen auch seine Haibun
stilistische und inhaltliche Entwicklungsstufen auf. Dies hängt eng mit seinem
persönlichen Werdegang zusammen.(8) Der Durchbruch
Bashôs zu seiner letzten und reifen persönlichen wie künstlerischen Entwicklungsstufe
erfolgte um 1680, als er sein Bashôan (Bananenstauden-Hüttlein) im Stadtteil Fukagawa
von Edo (Tôkyô) bezieht. Ein Schüler schenkte ihm eine Bananenstaude, die Bashô über
alles liebte und die ihn zu seinem endgültigen Dichternamen Bashô"
veranlasste. Eine 1682 in Fukagawa wütende Feuersbrunst zerstörte seine Behausung.
- Erst 1683 kehrte er wieder nach Edo zurück, nachdem er
gemeinsam mit Schülern und Freunden sein Domizil wieder aufgebaut hatte. In die Spätzeit
fallen auch seine fünf Wanderfahrten, die er in seinen Reisetagebüchern(9) festhält und die uns einen guten Einblick in seine
Lyrik und Prosa geben. In seinem persönlichen Leben trat nun die Bindung an den
Zen-Buddhismus und Taoismus in den Vordergrund und sein dichterisches Schaffen wird durch
den shôfû genannten Stil (wahrhafter Stil") geprägt.
- Bashô hat uns aus seiner Spät-Zeit ein besonders
reizvolles Haibun hinterlassen, das Bashô o utsusu kotoba (Worte
/kotoba/ zum
Umpflanzen /utsusu/ der Bananenstaude /bashô/, verf.1692). Ich wähle dieses Haibun als
erstes für eine Interpretation, da sich an ihm besonders gut alle wesentlichen Kriterien
eines Bashô-Haibun erläutern lassen. Es ist übrigens ein Haibun ohne Haikai. Der kursiv
gedruckte Text gibt jeweils das von H.Hammitzsch(10)
aus dem Japanischen übersetzte Original wieder, dazwischen befinden sich meine
Erläuterungen.
- Das Haibun widmet sich dem Thema Aufbruch zu einer
Wanderfahrt, Abschied, Rückkehr". Ausgangspunkt des Haibun ist die Beschreibung der
äußeren Umgebung seiner Behausung, nämlich seines
Bananenstauden-Hüttleins".
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- Die Chrysanthemen stehen an der Osthecke in
voller Pracht, der Bambusbusch ist Herr des Nordfensters. Die Päonien stehen im
Wettstreit zwischen Rot und Weiß und werden so vom Staub der Welt beschmutzt. Des Lotos
Blätter erheben sich nicht vom flachen Grund; solang das Wasser nicht klar ist,
öffnet er keine Blüten."
-
- Diese Anfangssätze wirken aufs erste äußerst karg. Bei
Chrysantheme, Bambus, Päonie und Lotos handelt es sich jedoch um in Ostasien beliebte
Pflanzen und sie werden in der Malerei und Dichtung häufig dargestellt, bzw. besungen.
Sie stecken voller Anspielungen und Symbolik, die bei einem Japaner beim Lesen assoziativ
vor seinem geistigen Auge erstehen. Damit auch wir die Aussage dieser einleitenden Sätze
in ihrer Tiefe erfassen, müssen wir um diese Assoziationen wissen.
- Die Chrysantheme ist die Blume des Herbstes und steht also
auch symbolisch für diese Jahreszeit, genauer für den neunten Monat des alten
japanischen Kalenders. Deshalb heißt dieser Monat auch Kikutsuki (Chrysanthemenmonat) und
der 9.Tag dieses Monats wird als Fest der Chrysanthemenblüte (Kiku no sekku, Chôyô no
sekku) gefeiert. Dieses Fest ist eines der fünf Jahresfeste (Gosekku) und wird feierlich
begangen. Aus früherer Zeit haben sich Bräuche wie Gedichtwettstreite,
Chrysanthemen-Wettbewerbe und -Festessen oder der Brauch, Wein mit Chrysanthemenblüten zu
trinken, erhalten. Im bäuerlichen Bereich fällt das Erntefest auf diesen Tag. Die
Chrysantheme ist auch das Sinnbild eines langen Lebens und wird oft in Verbindung mit der
Kiefer, welcher der gleiche Symbolgehalt zukommt, dargestellt. Bashô spielt hier auf ein
Gedicht des chinesischen Lyrikers T'ao Yüan-ming (365-427) an, der die Chrysanthemen
über alles liebte. Das Gedicht lautet:
-
- In später Pracht erblühn die Chrysanthemen.
- Ich pflücke sie vom Perlentau benetzt.
- Um ihre Reinheit in mich aufzunehmen,
- Hab einsam ich zum Wein mich hergesetzt.
- Die Sonne sinkt, die Tiere gehn zum Schlummer.
- Die Vögel sammeln sich im stillen Wald.
- Fern liegt die Welt mit ihrer Unrast Kummer.
- Das Leben fand ich, wo der Wahn verhallt.(11)
-
- Der Bambus ist aus dem alltäglichen Leben des Japaners
nicht wegzudenken und seit jeher war dieser ihm vertraut. Als Symbol von vielfältiger
Bedeutung steht er einmal für die Jahreszeit Winter und für ein ethisches Menschenideal.
So symbolisiert sein gerader Stamm mit den regelmäßigen Knoten Aufrichtigkeit, offene
Gesinnung und Unbeirrbarkeit, sein immergrünes und unveränderliches Blattwerk über den
Winter versinnbildlicht Treue, auch Alter, sein elastisch sich im Winde beugender Stamm
Nachgiebigkeit und zugleich Widerstandskraft. Ferner beinhaltet er die ästhetischen Werte
der Schlichtheit, Anmut, Eleganz. Konkret spielt Bashô hier auf eine Stelle aus dem
Shih-shuo hsin-yü des Chinesen Hui-chih (gest. 388) an: Wie könnte ich einen Tag
ohne diesen Edlen (Bambus) sein".
- Als Königin unter den Blumen gilt die
Päonie. Sie kommt
in den Färbungen weiß und rot vor, wobei die rote Päonie noch immer die am meisten
verehrte ist. Sie ist Symbol des Reichtums, Ansehens und der Vornehmheit, aber auch der
Liebe und Zuneigung. In der Malerei finden wir die Päonie oft zusammen mit Lotos, Pflaume
und Chrysantheme als die Blumen der vier Jahreszeiten dargestellt, wobei sie für die
Jahreszeit Frühling steht. Bashôs Worte die Päonien stehen im Wettstreit zwischen
Rot und Weiß" sind eine Anspielung auf den Wettstreit unter den chinesischen
Dichtern, ob die rote oder weiße Päonie schöner sei. Und werden so vom Staub der
Welt beschmutzt" ist ein Hinweis auf das von Ehrgeiz, Wettstreit, Ruhm geprägte
Gebaren der Menschen, die der irdischen Welt noch verhaftetet sind, und somit vom Staub
des Weltlichen beschmutzt werden.
- Eine der wichtigsten Pflanzen Ostasiens ist der Lotos. Er
schmückt Teiche und Seen mit seinen tiefgrünen Blättern und seinen weiß- oder
rosa-farbenen Blüten. Lotos steht für die Jahreszeit Sommer. Im Buddhismus spielt der
Lotos eine besondere Rolle. So ist er Symbol für das durch den Schlamm der irdischen Welt
und durch das Nichtwissen oder die Verblendung im Grunde unbefleckt bleibende wahre Wesen
des Menschen, ist also Sinnbild für Reinheit und Unsterblichkeit. Ferner verkörpern
Frucht, Blüte und Stengel des Lotos im Buddhismus Vergangenheit, Jetztzeit und Zukunft.
Oft ist die Lotosblüte auch ein Symbol der Welt mit dem Stengel als Weltachse.
Ikonographisch ist die Lotosblüte eine Form des Thronsitzes des Buddha als universellem
geistigen Herrscher und als Verkörperung des Absoluten. Bashô spielt hier auf Worte des
chinesischen Schriftstellers und Philosophen Chou Tun-i (1017-1073), der Lotos besonders
liebte und bildlich als Mann im Boot, umgeben von Lotos dargestellt wird, an. Sie lauten:
Der Lotos entsteigt dem Schlamm und bleibt unbeschmutzt; von klaren Wellen wird er
bespült und ist doch nicht prahlerisch."
- Wenn wir die ersten Zeilen nun nochmals lesen und dabei
die Assoziationen mitschwingen lassen, vermögen wir sie in einem tieferen Sinn zu
verstehen. Allein durch die Nennung von Chrysantheme, Bambus, Päonie und Lotos fängt
Bashô das jahreszeitliche Werden und Vergehen - eine Chiffre für die ostasiatische
Lebensauffassung der Vergänglichkeit allen irdischen Lebens - ein, ohne die Jahreszeiten
mit einem Wort zu erwähnen. Durch die den Pflanzen zugrundeliegende Symbolik sikzziert er
überdies ethische und ästhetische Werte. Obwohl Chrysantheme, Bambus, Päonie und Lotos
durchaus in ihrer konkreten Dinglichkeit gemeint sind, handelt es sich eben nicht nur um
eine einfache Naturbeschreibung, sondern Bashô spricht" durch die für die
Pflanzen gültige Chiffre von ihrem Wesen und fängt damit etwas von dem Weltwesen ein.
-
- Als ich meine Behausung an diesen Platz verlegte,
pflanzte ich mir eine einzige Bananenstaude. Wetter und Boden schienen nach dem Wunsch der
Bananenstaude zu sein, sie trieb zahllose Schößlinge, üppig entfächerten sich ihre
Blätter und schmälerten den Raum des Gartens, sogar die schilfbedeckte Dachtraufe blieb
ganz verborgen. So gaben die Leute dem Hüftlein seinen Namen. Zusammen mit den alten
Freunden und meinen Schülern mochte ich die Bananenstaude gern. Ich brach Triebe ab und
trennte Wurzelstöcke Ios, schickte sie als Geschenk hierhin und dorthin, so ging es Jahr
für Jahr. "
-
- Im Gegensatz zu Europa, wo die Frucht der Banane
Symbolträger ist, werden in Ostasien die Blätter hervorgehoben. Die Bananenstaude steht
für Selbsterziehung und gehört zu den acht bzw. vierzehn Kostbarkeiten, die der Gelehrte
für seine Arbeit benötigt. In Japan gewann die Bananenstaude überdies durch die
Persönlichkeit und das Wirken des Dichters Bashô - die Schriftzeichen für
Bananenstaude" und die des Dichters sind identisch - besondere Bedeutung. Der
Reiz dieses Haibun liegt somit auch darin, daß die Bananenstaude" auch für
Bashô selbst stehen kann. Unter sparsamer Verwendung von Worten entwirft Bashô ein Bild
des Gedeihens (zahllose Schößlinge, sich üppig entfaltende Blätter), des
In-Sich-Wohl-Fühlens und der Zufriedenheit; Zufriedenheit verstanden als ein
In-Frieden-Sein mit sich selbst, mit der natürlichen Umwelt (Wetter und Boden schienen
nach dem Wunsch der Bananenstaude zu sein) und den Mitmenschen (Freunde und Schüler
brachten ihr Zuneigung entgegen). Ja noch mehr, ihre/seine Lebensfülle war so groß, daß
sie/er über ihren/seinen Standort hinaus auf andere Menschen Wirkung tat (ich brach
Triebe ab und trennte Wurzelstöcke Ios und verschenkte sie hierhin und dorthin). Bashô
zeichnet das Bild eines erfüllten Lebens, in dem Wachstum und Reifung, Zuneigung und
Liebe, Geben und Nehmen ihren ausgewogenen Platz haben. Eine solche Bananenstaude / ein
solcher Mensch prägt fürwahr ihren / seinen Lebensraum und so gaben die Leute dem
Hüttlein den Namen Bananenstaudenhüttlein". Dennoch keimt in dieser
Zufriedenheit" der Aufbruch.
-
- Eines Jahres nun entschloß ich mich zu einer
Wanderfahrt nach den fernen Nordprovinzen, und weil mein Bananenstaudenhüttlein schon am
Verfallen war, verpflanzte ich jene Staude an einen Platz in der Nähe der Hecke. Bekannte
aus der Nachbarschaft bat ich wieder und wieder, sie mit Frosthüllen und Windschutz zu
versorgen. Auch ein paar flüchtig niedergeschriebene Pinselzeichen hinterließ ich zu
diesem Zwecke. Einen Gedanken ,Die Kiefer, wie einsam wird sie wohl sein!' wahrte ich im
Herzen auf der Reise in die weite Ferne. Der Abschied von den Bekannten, die Trennung von
meiner Bananenstaude - ein Gefühl unendlicher Verlassenheit."
- Der Aufbruch wird zunächst durch den Entschluß zu seiner
Wanderfahrt angedeutet. Es handelt sich um die im Oku no hosomichi beschriebene
Wanderfahrt, zu der er 1689 aufbrach. Ziehen wir das erste Kapitel dieses Reisetagebuches
heran, so vernehmen wir seine wachsende Unruhe: Die Gottheiten der Verführung
betörten mein Herz und die Wegegötter winkten mir zu, so daß mir keine Arbeit mehr von
der Hand ging. Ich flickte daher meine Hose, wechselte das Band meines Wanderhutes...(12)"
Das eigentliche Motiv seines Aufbruchs - seiner Wanderfahrten überhaupt - wird klar aus
den Anfangssätzen: Sonne und Mond, Tage und Monate verweilen nur kurz als Gäste
ewiger Zeiten.(13)"
Diese Worte stammen aus dem ,Frühlingsnachtgelage unter Pflaumen und Pfirsichblüten'
betitelten Gedicht des von ihm hoch geschätzten chinesischen Dichters Li Po (699-762):
-
- Himmel und Erde - das ganze All - ist nur
- ein Gästehaus,
- es beherbergt alle Wesen insgesamt.
- Sonne und Mond sind darin auch nur Gäste,
- Laufgäste ewiger Zeiten.
- Das Leben in dieser flüchtigen Welt gleicht einem Traum.
- Wer weiß wie oft wir noch lachen?
- Unsere Altvorderen zündeten daher
- Kerzen an, um die Nacht zu preisen...(14)
-
- Und Bashô fährt fort: Und so ist es mit den Jahren
auch: Sie gehen und kommen, sind stets auf Reisen. Nicht anders ergeht es den Menschen,
die ihr ganzes Leben auf Booten dahinschaukeln lassen, oder jenen, die mit ihren am Zügel
geführten Pferden dem Alter entgegenziehen: tagtäglich unterwegs, machen sie das Reisen
zu ihrem ständigen Aufenthalt. Viele Dichter, die vor uns lebten, starben bereits auf der
Wanderschaft. Meine Gedanken hören dennoch nicht auf, wohl angeregt durch den Wind, der
die Wolkenfetzen jagt, um das stete Getriebenwerden zu schweifen...(15)"
- Aus der vor allem in seiner Spätzeit von Zen und Taoismus
geprägten Lebensanschauung Bashôs geht hervor, daß er Wandern als Symbol des Lebens
auffaßt. Gemeint ist nicht das ziellose Umherwandern, sondern ein Wandern gleich den
Fußwanderungen (angya) derZen-Mönche, um durch persönliches Erleben und Versenkung die
Erleuchtung (satori) zu erreichen.(16)
- Der Aufbruch wird aber auch durch die Worte mein
Bananenstaudenhüttlein war schon am Verfallen" angedeutet. Wie bei uns steht Haus,
Hütte, Klause sowohl für geordneter, umfriedeter Bezirk und ist als solcher oft Sinnbild
der kosmischen Ordnung. Das Haus wird aber auch als Symbol des menschlichen Körpers
gesehen; so beispielsweise im Buddhismus in der Verbindung mit der Vorstellung, daß der
Leib der Seele nur Herberge für kurze Zeit bietet. Das Haus steht ferner für die
Persönlichkeitsstruktur und damit auch für die Befindlichkeit des Menschen. Das
Bananenstaudenhüttlein symbolisch für Bashôs eigene Befindlichkeit? Wenn etwas brüchig
oder im Verfall ist, ist es an der Zeit, diesen Zustand zu ändern, sich zu wandeln. Denn
in dem ,Verfall keimt ein neuer Werdeprozeß. Sich diesem Werdeprozeß zu öffnen,
fordert die Loslösung von Altvertrautem, sich auf zunächst Unbekanntes einzulassen,
fordert Selbstbesinnung, ermöglicht aber auch neue Selbstbestimmung.
- Die scheinbar so leicht hingeschriebenen Zeilen
Bashôs,
mit denen er seiner Sorge um die Staude Ausdruck verleiht, sind von höchst
psychologischem Feingespür durchwoben. Bashô vollzieht das ,Loslassen' mit Bedacht. Beim
Loslassen geht es ja nicht darum, daß man sein bisheriges Leben einfach von sich wirft.
Bashô steht voll zu seinem im Augenblick befindlichen Sein. So bedeutet die Verpflanzung
der Bananenstaude einerseits Obhut für dieses augenblickliche Sein, andererseits weist
sie auf einen Neuanfang, neue Wurzeln zu fassen und sich zu entfalten, hin. Damit beides
gewährleistet ist, bittet er Bekannte aus der Nachbarschaft, sie mit Frosthüllen
und Windschutz zu versorgen. Auch ein paar flüchtig niedergeschriebene Pinselzeilen
hinterließ ich zu diesem Zwecke."
- Loslassen hat immer etwas mit Abschied, mit Verlust zu
tun. Das Gefühl, das uns hilft, Abschied und Verluste aufzuarbeiten, ist die Trauer.
Allerdings müssen wir das Trauern zulassen. Bashô läßt es zu. Sein Aufbruch wird von
dem Gedanken die Kiefer, wie einsam wird sie wohl sein" begleitet. Hier spielt
Bashô auf ein Tanka des von ihm verehrten Dichters Saigyô (1118-1190) an: Diese Klause
ward / erneut mir ein einsam Heim / und geh ich nun fort, / die Kiefer, wie so einsam /
und verlassen wird sie sein!
- Das Zurücklassen der Bambusstaude beinhaltet zugleich, er
läßt sich, sein ,bisheriges Ich' zurück. So gesehen, ist das zurückgelassene Ich
einsam und verlassen, und dieses Gefühl begleitet ihn die ganze Wanderfahrt über.
Die Trennung von meiner Bananenstaude, der Abschied von den Bekannten - ein Gefühl
unendlicher Verlassenheit." Dieses mit Traurigkeit verbundene ,Loslassen' kommt auch
im zweiten Kapitel des Oku no hosomichi zum Ausdruck: Es kam also der siebte Tag der
letzten Dekade des Dritten Monats (nach heutigem Kalender 16. Mai 1689). Der Himmel des
anbrechenden Morgens zeigte sich leicht in Dunst gehüllt, der Mond - die abnehmende
Sichel - hatte an Leuchtkraft eingebüßt und der Gipfel des Fuji gab sich dem Auge nur
vage zu erkennen. Meine Freunde, die sich am Vorabend versammelt hatten, gaben mir zu
Schiff das Abschiedsgeleit. An einem Ort namens Senju gingen wir von Bord. Meine Kehle
schnürte sich zu, als ich plötzlich an die bevorstehenden 3000 ,Meilen' denken
mußte.
Ich stand an der Wegkreuzung der Traum-Illusionen und vergoß Tränen des Abschieds:
-
-
- Der Frühling scheidet:
- Die Vögel weinen - selbst den Fischen
- kommen die Tränen...
- ... Alle standen sie da- einer neben dem anderen -
mitten auf dem Weg.
- Sie werden uns nachgeschaut haben, bis selbst die Umrisse
unserer Gestalten
- in der Ferne verschwunden waren.(17)"
-
- Hier wird von Bashô der Aufbruch in eine ungewisse
Zukunft poetisch einfühlsam erfaßt: Der Morgen (der Aufbruch) zeigt sich in Dunst
gehüllt! Die abnehmende Mondsichel hat an Leuchtkraft eingebüßt! Der Fuji gab
sich nur vage zu erkennen! Meine Kehle schnürte sich zu! Wegkreuzung der
Traumillusionen! Tränen des Abschieds! Selbst Vögeln und Fischen kommen
die Tränen! Dombrady interpretiert treffend: Die Tränen der Vögel und Fische
sind Bashôs eigene Tränen! Der Dichter kann es sich nicht vorstellen, daß die Natur
(die Vögel stehen symbolisch für alles ,oben` und die Fische für alles ,unten`) nicht
mittrauert. Bashôs Abschiedsschmerz und der seiner Freunde vereinigen sich so mit der
Trauer der gesamten Natur, die-wie Bashô selbst - gleichzeitig auch vom Frühling
Abschied nehmen muß.(18)"
-
- So verbrachte ich schließlich dreier Jahre
Frühlinge und Herbste und mit Tränen in den Augen habe ich jetzt meine Bananenstaude
wieder. In diesem Jahr, um die Mitte des fünften Monats, wenn der Duft der
Tachibana-Blüten(19)" nicht mehr gar so
fern ist, da sind die Beziehungen zu den Freunden wie in alten Zeiten unverändert."
-
- Bashô kehrte im Winter des Jahres 1691 nach Edo zurück.
Mit einem einzigen Satz zieht Bashô den genialen Bogen vom Aufbruch (Abschiedstränen)
zur Heimkehr (Freudentränen). Zugleich ist die Erfahrung enthalten, daß Wandel nicht
Entfremdung von sich selbst, sondern Neuentdeckung bedeutet. Auch jene bei seinem Aufbruch
angedeutete Angst vor dem Ungewissen, vor dem Verlust geliebter Menschen erweist sich nun
als unbegründet. Der ,alte Wohnort ist ihm willkommen, sich ,erneut' hier
niederzulassen. Denn das Haibun fährt fort:
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- Ich kann nun einfach diese Umgebung nicht
verlassen und ganz in der Nähe meiner alten Klause errichte ich ein gemäßes
schilfgedecktes Hüttlein von drei Klaftern. Nach Süden lasse ich eine Veranda über dem
Wasser anbringen. Der Platz liegt dem Fuji gegenüber und die reisiggeflochtene Pforte
ist, den Blick auf die Landschaft betonend, schräg gearbeitet. Die Flut von
Che-chiang,
sie füllt die Tiefen von Mitsumata, und weil der Ort sehr geeignet ist, den vollen Mond
zu bewundern, so bin ich schon von der Nacht des ersten Mondes an in Sorge um Wolken und
in Angst wegen eines Regens. Als Zier für die Vollmondnacht pflanze ich zuallererst meine
Bananenstaude um. Ihre Blätter sind breit, einem Koto-Überzug gleichen sie. Oder vom
Wind halb abgeknickt, lassen sie mich mit Traurigkeit an den Schweif des Phönix denken.
Ein grüner Fächer, ganz zerschlissen, stimmen sie mich beim Wehen des Windes wehmütig.
Ab und zu treibt sie wohl auch eine Blüte, aber ganz unaufdringlich ist diese. Ihre
Triebe sind mächtig, doch keine Axt kommt ihnen zu nahe. Sie gleicht der Art jenes
nutzlosen Baumes auf dem Berge, ihre Natur ist unübertrefflich. Der Mönch Huai Su hätte
über diese ihre Blätter seinen Pinsel gleiten lassen, Chang Heng-ch'ü hätte, ihre
frischgetriebenen Blätter sehend, sie zum Kraftquell seiner Studien gemacht. Ich aber,
ich folge diesen beiden nicht. Ich ergötze mich nur in ihrem Schatten und liebe ihre
leichte Zerbrechlichkeit bei Wind und Regen."
-
- Das stroh- oder schilfgedeckte Dach einer Einsiedelei
versinnbildlicht in der japanischen Dichtung ein Leben in Zurückgezogenheit und einen
bescheidenen Zufluchtsort für das vergängliche Leben. Die naturbelassenen Materialien
sind Ausdruck für Bescheidenheit und Armut, entsprechen aber auch dem ästhetischen
Empfinden einer bestimmten Schicht der damaligen Zeit. Das Naturbelassene fügt sich nicht
nur harmonisch in die umgebende Natur ein, sondern Vereinfachung und Schlichtheit wurde
als künstlerische Steigerung und geistige Vertiefung gesehen. Die Armut und Schlichtheit,
die der Zen-Buddhismus wie viele andere Religionen preist, müssen daher nicht nur als
materielle, sondern auch als eine ,Armut' des Geistes im zenbuddhistischen Sinn von
den Geist frei von Gedanken und Begriffen machen' (munen, mushin) verstanden werden.
Die Flut von Che-chiang' ist eine Anspielung auf die chinesische Provinz Che
chiang,
wo der Fluß Ch'ein-t'ang-chiang in die gleichnamige Bucht fließt und bei Flut einen
herrlichen Anblick bietet. Die Tiefen von Mitsumata ist eine Anspielung auf
den Unterlauf des Sumida-Flusses in Edo (Tôkyô), in den der Onagi-Fluß mündet. Mit der
Andeutung, daß dieser Unterlauf des Sumida-Flusses mit der Flut von Che-chiang
aufgefüllt ist, ruft Bashô ein besonders ansprechendes Naturbild - tiefes Wasser und
Herbstmond - beim Leser hervor.
- Nach ostasiatischer Auffassung ist der Mond im Herbst am
schönsten, nämlich der hell leuchtende große Herbstvollmond am klaren Himmel, genau am
15. Tag des achten Monats nach dem Mondkalender (Mitte September). Es handelt sich also um
ein feststehendes Bild, mit dem jeder Japaner etwas anzufangen weiß. Der Mond spielt aber
auch in der ostasiatischen Philosophie eine Rolle. Der Vollmond ist beispielsweise im Zen
ein Symbol für die Wahrheit. Bashôs In-Sorge-Sein von der Nacht des ersten Mondes an
(gemeint ist shogetsu, die schmale Sichel des zunehmenden Mondes vom 3.Tag an) bis hin zur
Vollmondnacht greift also nicht nur jenes feststehende Bild von der Herbst-Mond-Schau,
für die man klares Wetter erhofft, auf, sondern steht auch in Zusammenhang mit dem
In-Sorge-Sein um die Schau der letzten Erkenntnis (satori).
- Den Höhepunkt des Haibun bildet die Beschreibung seiner
Bananenstaude, die auch die Sicht seiner selbst ist. Ihre Blätter sind breit, einem
Koto-Überzug gleichen sie ... Ihre Triebe sind mächtig." Aber nicht nur das
Üppige, Raumeinnehmende wird geschildert, sondern Blätter sind auch abgeknickt,
zerschlissen" und erinnern Bashô mit Traurigkeit an den Schweif des Phönix,
ein grüner Fächer, ganz zerschlissen, stimmen die Blätter mich beim Wehen des Windes
wehmütig." Der ostasiatische Phönix ist mythologischen Ursprungs, hat aber keine
Gemeinsamkeiten mit dem Mythos des europäischen. Er gehört zusammen mit dem Drachen, dem
Einhorn und der Schildkröte zu den Führern der Tierarten, wobei er den Führer der
Federtiere darstellt. Er ist ein glückverheißendes Symbol. Auffallend an ihm ist u.a.
sein langer Schweif. In der ostasiatischen Kunst ist dieser Fabelvogel häufig als Motiv
in der Malerei oder als dekorative Ausschmückung von Räumen zu finden. So verdankt die
berühmte Hôôdô (Phönixhalle des Byôdô-Tempels in Uji bei
Kyôto) ihren
Namen ihrem Grundriß, der die Form eines auffliegenden Phönix nachahmt, und den
Bronzephönixen auf den Firstenden. Beide Bilder, Phönixschweif und zerschlissener
Fächer, versinnbildlichen die Verletzungen, die das Leben zufügt.
- Bashô läßt die Staude/sich selbst wachsen: Keine
Axt kommt den mächtigen Trieben zu nahe", er duldet keine künstliche Verformung des
Natürlichen, er akzeptiert sie/sich in ihrem/seinem Sosein. Dieses Sosein
wird im nachfolgenden Satz sie gleicht der Art jenes nutzlosen Baumes auf dem Berge,
ihre Natur ist unübertrefflich" näher bestimmt. Mit diesen Worten spielt Bashô auf
Chuang-tzu(20) (Buch 1, Kap. 5) an. Das Kapitel gibt
ein Gespräch zwischen Chuang Chou und dem Logiker Hui Shih (ca. 300 - 250) wieder, das in
humorvoller Weise zeigt, wie große Gelehrtenworte für den Alltag nichts
taugen. Es geht um einen Menschen, der sich von allem Irdischen befreite und in dieser
gewonnenen Freiheit die große Ruhe im taoistischen Sinn fand. Hui Shih redete zu
Chuang Chou und sprach: Ich habe einen großen Baum. Die Leute nennen ihn
Götterbaum. Der hat einen Stamm so knorrig und verwachsen, daß man ihn nicht nach der
Richtschnur zersägen kann. Seine Zweige sind so krumm und gewunden, daß man sie nicht
nach Zirkel und Winkelmaß verarbeiten kann. Da steht er am Weg, aber kein Zimmermann
sieht ihn an. So sind Eure Worte, o Herr, groß und unbrauchbar, und alle wenden sich
einmütig von ihnen ab. Chuang Chou sprach: ...Nun habt Ihr so einen großen
Baum und bedauert, daß er zu nichts nütze ist. Warum pflanzt ihr ihn nicht auf eine öde
Heide oder auf ein weites leeres Feld? Da könntet Ihr untätig in seiner Nähe
umherstreifen und in Muße unter seinen Zweigen schlafen. Nicht Beil noch Axt bereitet ihm
ein vorzeitiges Ende, und niemand kann ihm schaden. Daß etwas keinen Nutzen hat: was
braucht man sich darüber zu bekümmern!(21)"
- Hier verbindet Bashô mit der Bananenstaude/sich selbst
das taoistische Ideal des Wandern in Muße, des abgeklärten heiteren
Lebensstils. In einem Brief an seinen Schüler Hirose Izen (1652-1711) erläutert Bashô
jenes Wandern in Muße als zielloses Wandern (shôyô) näher:
Für den Weg gibt es die beiden Schriftzeichen Zielloses Wandern, was
nichts anderes bedeutet, als im Herzen sich im Spiel an den Himmel verlieren und an der
Welt erfreuen. Am Himmel leuchtet durch den Weg der Mond in strahlender Helle, auf der
Erde blühen durch ihn die Blumen. Und Vögel und Fische, auch sie verlieren sich tummelnd
im Spiel. Sommerfäden treiben im Winde dahin, das Rind, das am Gras seinen Hunger
gestillt hat, ruht gesättigt aus. Eine Fliege möchte auf seinem Schwanz spielen, da will
der Hirt des Rindes sie zur Ruhe kommen lassen und erschlagen. Daß sie plötzlich
geschlagen wird und dadurch Kummer erleidet, das trifft den Sinn des Spieles ... Bei allem
kommt zuerst das Spiel, dann folgt das Leid. Wer würde beim Sich-Verlieren im Spiel nicht
Leid empfinden! Wen gibt es wohl in der Welt, der ohne Leid zu empfinden sich im Spiel
verliert!(22)" Sich im Spiel verlieren, sich
ganz dem Wandel der Natur hingeben, um durch intuitives Erfassen des Alls eins zu werden
mit den Dingen des Alls, ohne jedoch mit ihnen identisch zu sein, diese taoistische
Haltung greift Bashô nochmals auf: Sollten nicht die Menschen der heutigen Zeit,
auf das Nichtsein des Weisen Chuang Chou blickend, sich im Spiel verlieren?" Bashô
spielt hier auf den Schmetterlingstraum des Chuang Chou an, wo der taoistische
Gedanke der All-Einheitslehre, in der Sein und Nichtsein, Leben und Tod aller Wesen
nichtig sind, veranschaulicht wird: Einst träumte Chuang Chou, daß er ein
Schmetterling sei, ein flatternder Schmetterling, der sich wohl und glücklich fühlte und
nichts wußte von Chuang Chou. Plötzlich wachte er auf: da war er wieder wirklich und
wahrhaftig Chuang Chou. Nun weiß ich nicht, ob Chuang Chou geträumt hat, daß er ein
Schmetterling sei, oder ob der Schmetterling geträumt hat, daß er Chuang Chou sei,
obwohl zwischen dem Chuang Chou und dem Schmetterling sicher ein Unterschied ist. So ist
es mit der Wandlung der Dinge.(23)"
- Bashô verdeutlicht dieses
Sich-im-Spiel-Verlieren noch durch die Worte der Mönch Huai Su hätte
über diese ihre Blätter seinen Pinsel gleiten lassen, Chang Heng-ch'ü hätte, ihre
frischgetriebenen Blätter sehend, sie zum Kraftquell seiner Studien gemacht". Auch
hier ist die Nennung der beiden Persönlichkeiten keinesfalls zufällig, sondern
sinntragend. Der chinesische Kalligraph Huai Su (7. Jh.) war zu arm, um sich Papier zum
Schreiben zu kaufen und verwendete deshalb die Blätter der Bananenstaude als
Schreibmaterial. Dem Gelehrten und Dichter Chang Heng-ch'ü (Chang Tsai, 1020 - 1077) war
die Kraft der Bananenstaude, die stets neue Triebe hervorbringt, ein Vorbild für seine
eigene wissenschaftliche Arbeit. Während der Kalligraph und der Dichter-Gelehrte sich
noch der Bananenstaude bedienen, diese für sie noch ein Mittel zum Zweck ist,
hat sich Bashô von dieser Haltung frei gemacht. Der Dichter Bashô, ganz geläuterte
Natur, läßt nunmehr selbst Kunst und Wissenschaft außer acht: Ich
aber, ich folge diesen beiden nicht." Er verliert sich im Spiel an der
Bananenstaude/sich selbst und erfreut sich einfach an ihrem Schatten und liebt ihre
leichte Zerbrechlichkeit bei Wind und Regen. -Dieser Schluß, der ganz im Sinne eines
Bashô-Haibun kein Schluß ist, atmet im wahrsten Sinne Nachhall
(yoin).
- In Heft Nr. 41 und 42 habe ich ein Haibun von Matsuo
Bashô vorgestellt. In diesem Beitrag wende ich mich einem Haibun von Kobayashi Issa
(1763-1827) zu. Neben Bashô dürfte Issa bei den deutschen Haiku-DichterInnen am
bekanntesten sein, denn viele seiner Gedichte wurden ins Deutsche übersetzt. Issa
verfaßte aber auch mehrere Tagebücher, in denen Lyrik und Prosa abwechseln. Unter diesen
fand das Chichi no shûen nikki" (Tagebuch /nikki/ am Sterbebett
/shûen/
meines Vaters /chichi/, verf. 1801), in dem Issa die letzten Lebenstage seines Vaters in
sehr realistischer Weise schildert, große Beachtung(24).
Das Ora ga haru(25)" (Mein
/ora/
Frühling /haru/, verf. 1820) ist Issas bedeutendstes Prosawerk. Die darin enthaltenen
Haibun gelten als Meisterstücke seiner Prosa. Da der Titel gleichbedeutend für
Frühlings- und Jahresanfang steht, wird er auch mit Mein Frühlingsneujahr"
übersetzt. Der Titel ist etwas irreführend, weil das Werk nicht nur das Neujahr, sondern
das Geschehen des ganzen Jahres von Neujahr 1819 bis zum letzten Tag des zwölften Monats
zum Inhalt hat.
- Der formale Aufbau des Ora ga haru": In dem aus
achtzehn Kapiteln bestehenden Werk sind achtzehn Haibun unterschiedlicher Länge
zusammengefaßt. Jedes Kapitel besteht aus einem Prosatext, der mit einem thematisch von
diesem bestimmten Haikai ausklingt. Diesem folgen weitere Haikai und auch Haikaika (31
silbige Haikai-Verse(26)), die teilweise von Issa selbst, teilweise von
anderen Dichtern aus Bashôs Zeit oder von Schülern und Zeitgenossen Issas stammen. Sie
sind also nicht unbedingt zum Zeitpunkt der Niederschrift des jeweiligen Haibun verfaßt
worden. Die Gedichte sind gekonnt ausgewählt und vertiefen das jeweils behandelte
Haibun-Motiv.
- Die Themen der achtzehn Haibun sind: Die Neujahrszeremonie
/ Tod des Priestersohnes / Sphärenmusik / Abgebrochene Wanderschaft / Päonien /
Froschgeschichten / Schlangenrache / Mißhandelte Kastanien / Stiefkind Issa / Der
Kinder-Schutzgott / Satojo / Mutterliebe / Satojos Tod / Liebe zum Kind / Die Heimat / Der
glückliche Kastanienbaum / Geschenkklöße / Amidas Gnade(27). Obwohl das Werk aus achtzehn Haibun besteht,
weist es trotzdem eine Geschlossenheit auf:
- 1. Einmal wird sie durch die Anordnung der Haibun, die
nach dem Ablauf der vier Jahreszeiten erfolgt, gewährleistet: Haibun 1bis3 gehören in
den Frühling, Haibun 4 bis 13 in den Sommer, 14 bis 18 in den Herbst und Winter.
- 2. Die Geschlossenheit zeigt sich ferner in der von Issa
bewußt vorgenommenen gedanklichen Einrahmung durch den Inhalt im ersten und letzten
Haibun. Sie verdeutlicht Issas Verwurzelung im Jôdo-Buddhismus, einer bestimmten
Strömung des Mahâyâna, und sein unerschütterliches Vertrauen auf Amida-Buddha - ein
Leitgedanke, der auch in den übrigen Haibun immer wieder aufscheint. Dieser Artikel soll
bewußt nicht mit den verschiedenen Ausprägungen des Buddhismus -sie bilden eine sehr
wesentliche Komponente in der japanischen Haikai-Literatur - befrachtet werden. In meiner
späteren zusammenfassenden Betrachtung werde ich darauf näher eingehen. Im Haibun 1
lesen wir:
- Das Leben in dieser Welt bedeutet für jedermann
ein Obermaß anLeiden ... ."Oder: Im Sommer des Vorjahres, zur Zeit des
Bambuspflanzens, ist unser Töchterchen in diese flüchtige Welt hineingeboren worden -
eine Welt reicher an Kummer als Knoten an Bambusstämmen" (Haibun 11).
- Issa nimmt hier Bezug auf die buddhistische
Grundauffassung, daß alles Leben Leid ist, solange der Mensch den Illusionen
des irdischen Daseins verhaftet ist -
- ... Von unseren Lebensumständen bestimmt,
durchwandern wir den irdischen Staub dieser Welt und unsere Neujahrsfestbräuche sind
entsprechend gemein: mit Kranich und Schildkröte, Symbolen der Langlebigkeit, oder mit
nachgeplapperten Sprüchen der Unglücksaustreiber erschöpfen sie sich schon ...! Leer
und verlogen ist das alles! Deshalb habe ich ... in diesem Jahr absichtlich keinen
Kiefernschmuck aufgestellt und keinen Hausputz vorgenommen. Ich begrüße das Neujahr und
den Frühling hier an den Krümmungen dieses verschneiten, unwegsamen Bergpfades einfach
im Vertrauen auf die Gnade des Erhabenen Buddha ... " (Haibun 1).
- Auch die Vergänglichkeit aller Dinge spricht Issa
mehrfach an:
- ... Alle Pflanzenwesen - wie Huflattich und
Löwenzahn - warten lange Tage und Monate beharrlich unter dem Schnee, um allmählich,
wenn die frühlingslinden Lüfte wehen, an den freigeschmolzenen Stellen ihre
Sprossenköpfchen fröhlich in die Höhe zu recken. Kaum aber, daß sie das Sonnenlicht
dieser Welt erblickt haben, werden sie unversehens der Gefahr ausgesetzt, abgerupft zu
werden ... Es heißt doch:Gräser, Bäume, Erde und Gestein - alle Wesen
ausnahmslos - besitzen die Möglichkeit, die Buddhaschaft zu erlangen! Die Buddha-Natur
ist in allem."
- (Haibun 2) Oder:
- Die Nacht verdämmerte in den weißlich
schimmernden Morgen hinein, als - plötzlich! - vom Pflaumenbaum vor dem Fenster her jener
einmalige Ruf der chinesischen Nachtigall ertönte, des Vogels, der die Lotos-Sutra liest:
/ Sie tönt aus unserer Welt, /die Weise, die der Vogel(28)
singt: /,Lo-tos-Su-tra!`l" (Haibun 3).
- Als echter Haijin begab sich auch Issa wiederholt auf
Wanderungen' (angya(29)). So schreibt er im
Haibun 4:
- Fest entschlossen, dieses Jahr auf den Pfaden des
Hinterlandes(30) zu einer <Asketen-Wanderung>
aufzubrechen, hängte ich meinen Bettlerbeutel um und schulterte mein Bündel - doch nur
mein Schatten sah der Mönchsgestalt des Meisters Saigyô(31) ähnlich ... Nicht weiter als zwei, drei
Meilen war ich gewandert, gedankenverloren mit meinem Wanderstab weglängs stakend. Mir
wurde einiges klar: Kurz davor, den steilen Pfad der Sechziger zu erklimmen, steht der
Lebensmond meines irdischen Daseins nun bereits schon über den Westbergen(32), zum Untergehen geneigt... " Im Haibun
18: Stellt man nun die Frage, wie man den rechten Weg findet und wie
dieser mit unserer (Shinshû-) Religion zu vereinbaren sei - so ist meine Antwort einfach:
Hier bestehen keine Gründe, Schwierigkeiten zu sehen ... Denn
<Erlösung-aus-eigener-Kraft> oder <Erlösung-durch-desAnderen-Gnade>(33) oder wer weiß was für ein sonst noch
genannter Gedankenschutt: alles wird am Ende der Zeiten doch unaufhaltsam in das ferne
Chikura-Meer der Sagen geschwemmt. Vielmehr kommt es auf jenes einzige einschneidende
Ereignis an - auf die Hinübergeburt! Ihrer eingedenk, werfe man sich vor das
verehrungswürdige Antlitz des erhabenen Amida-Buddha und überlasse gänzlich seiner
Entscheidung, ob es einst Hölle heißen wird oder Paradies, und sage: <Herr, ganz nach
Eurem gnädigen Ermessen möge es geschehen!> Das ist die einzige richtige Einstellung ...
Dies würde ich im Sinne meiner Religion als den wahren, tiefinnersten Seelenfrieden
betrachten ... "
- 3. Schließlich offenbart sich die Geschlossenheit auch in
den Leitthemen der achtzehn Haibun. Die Höhen und Tiefen seines Lebens, die von seiner
instabilen Gesundheit, von seiner materiellen Not und seinen zahlreichen
Schicksalsschlägen in Zusammenhang standen, werden gleichsam in ihnen fokussiert. Als
Sohn eines Bauern geboren, verlor er bereits mit drei Jahren seine Mutter und wurde
zunächst von seiner verwitweten Großmutter aufgezogen. Nach der Wiederverheiratung
seines Vaters erlitt er ab seinem zehnten Lebensjahr ein Stiefkinddasein. Deshalb verließ
er fünfzehnjährig seinen geliebten Heimatort Kawashibara (Präfektur Nagano) und begab
sich nach Edo (Tôkyô). Mit 39 Jahren verlor Issa seinen Vater, der ihm zwar einen Teil
seines Vermögens hinterließ, aber er konnte diesen aufgrund von Erbstreitigkeiten erst
einundfünfzigjährig in Anspruch nehmen. Seine erste Frau verlor er nach neun Ehejahren,
seine drei Söhne und seine Tochter Sato starben bereits frühzeitig. Seine zweite Ehe
scheiterte. Zwei Jahre vor seinem Tod verheiratete er sich ein drittes Mal, erlebte jedoch
die Geburt seiner Tochter nicht mehr. Ohne das Wissen um den glücklosen Verlauf seines
Lebens ist Issas Dichtung nicht zu verstehen. Denn in seiner Dichtung greift er immer
wieder in der ihm eigenen Art die Themen der Liebe zur bäuerlichen Heimat, von der er
allzu früh Abschied nehmen mußte, der Naturverbundenheit, des Mitgefühls für die
Schwachen und Unglücklichen, der Liebe zu den Kindern und zu den Tieren und des
Stiefkinddaseins auf. So vergleicht Issa in anrührender Weise sein Lebensschicksal mit
drei Kastanien, die er in eine Ecke seines Gartens eingrub und die sich prächtig
entwickelten. Durch den Bau eines Nachbarhauses bekamen sie jedoch nicht mehr genug Licht
und Feuchtigkeit und in den in seiner Heimat ohnehin strengen, schneereichen Wintern
rutschte der Schnee nun zusätzlich auch noch von den Hausdächern und verschüttete die
Kastanien. Nach der Schneeschmelze sah Issa, daß die Triebe abgebrochen waren. Aus den
alten Wurzeln schossen zwar neue hervor, aber weil sich Winter für Winter dasselbe
Schneedrama wiederholte,
- ... scheint ihre schicksalhafte Verknüpfung mit
der hiesigen Welt weiter anzuhalten, und so müssen sie, ohne endgültig eingehen zu
können und nicht größer als einen Fuß hoch, ihr Dasein auch fürderhin fristen. Mir
als Erstgeborenem scheint es nicht anders zu gehen. Mein Lebensbereich wurde durch den
Nächstgeborenen eingeschränkt, meine Lebenszweige durch den stiefmütterlichen Hexenberg
und die von dort herabbrausenden Stürme immer wieder abgeknickt, und es gab kaum einen
Tag, an dem meine sprießenden Knospen und Triebe sich in eine heitere Welt hätten
hineinwachsen sehen. In diesem Zustand bin ich siebenundfünfzig Jahre alt geworden, und
es ist ein Wunder, daß mein Lebensfaden - tauperlengleich vergänglich - noch nicht
abgerissen ist ... /Nelkenblüte - Streichelkind (34)!/
Unter dem Stiefmutterbesen führst du / ein Schattendasein ... "/
(Haibun 8).
-
- Im Haibun 11 und 13 berichtet Issa voller Hingebung über
sein Töchterchen Sato:
-
- Wir gaben ihr den Namen Sato, die
<Tüchtige>, mit dem frommen Wunsch, alles Einfältige in ihr möge sich einmal zur
Tüchtigkeit entwickeln. Seit ihrem ersten Lebensjahr macht sie auch tatsächlich alles
nach, was man ihr zeigt und vorspricht, Kopf- und Handbewegungen, kindliche Sprüche:
<Klatsch mal, klatsch mal, Händchen - ha, ha, ha! Patsch mal, patsch mal Stirnchen!
Schüttle mal, schüttle das Köpfchen!> Um ein Windrad, wie andere Kinder es haben,
quengelt sie auch schon. Ich schenke ihr eins: Sie nimmt es gleich in ihren gierigen Mund,
lutscht daran herum und wirft es dann fort. Ein unschuldiges Tautröpfchen ist sie, das
keineswegs an den Dingen hängt: Ihr Herz richtet sich unvermittelt auf die Erscheinungen
der Außenwelt. Eben hat sie noch die Teeschale in ihrer greifbaren Nähe zerbrochen, wird
ihr das auch wieder über, und sie reißt - ritsch-ratsch - das dünne Papier der
Schiebetür ein. Im Scherz sage ich zu ihr: <Das hast du aber fein gemacht!>, und
sie hält das beileibe für ein großes Lob, das ihr ein hell aufklingendes Lachen
entlockt... In der Tiefe ihres Herzens haftet kein Körnchen Staub dieser Welt: klar und
rein ist es wie der in seiner vollen Pracht strahlende Mond ... Ich halte sie noch
für viel anmutiger als alle Schmetterlinge der Welt mit ihrem Gaukelspiel überjungen
Frühlingsgräsern... "
- Im Haibun 13 folgt dann die Schilderung von Issas
tiefer Trauer über den frühen Tod seines geliebten Töchterchens:
- Auf übergroße Freude folgt Leid, so ist nun
einmal der Lauf dieser vergänglichen Welt... Wir aber hatten von den Freuden noch lange
nicht die Hälfte ausgekostet, und schon wurde unser <Grünkindchen> - so jung und
grün wie die winzigen Triebe der tausendjährigen Kiefer - von der Pockengottheit
ungestüm befallen, noch ehe sein Lachen richtig aufgeblüht war... Unsere Kleine wurde
gleichwohl zusehends schwächer, und von einem Tag zum anderen schwand jegliche Hoffnung
dahin. - Schließlich am 21. Tag des 4. Monats, schied sie aus dieser Welt, zur gleichen
Stunde mit dem Verblühen der Windenblüte jenes Tages... Schwere Stunden wie diese zu
erleben, schien uns nun einmal auferlegt worden zu sein - das wußte ich wohl und
versuchte, mich gefaßt und schicksalsergeben zu zeigen. Ich kramte jene klugen Sprüche
über sinnloses Klagen hervor: <Verflossenes - wie Wasser - kehrt nie mehr wieder >
und <Die abgefallene Blüte fliegt nie mehr zum Zweig zurück >. Was es mir so
ungeheuerlich schwer machte, mich ins Unvermeidliche zu fügen ... ? Die Fesseln
der Liebe - der Liebe zu meinem Kind... / Unsere Welt ist/ flüchtig wie Tau - mag sein -
/ Und dennoch ... und dennoch ... !"/ -
- Diese Textstellen mögen als Belege genügen.
- Issa war äußerst belesen und literarischen Einflüssen
und Stilen gegenüber aufgeschlossen - seine großen Vorbilder waren vor allem der
Dichter-Mönch Saigyô und natürlich Bashô -, in seiner Kultur und im Buddhismus war er
bestens bewandert. Nicht nur im Ora ga haru", sondern in seinem gesamten
literarischen Schaffen finden sich Anspielungen auf Fabeln, Sagen und Legenden (z.B. die
Haibun 3: Sphärenmusik; 6: Froschgeschichten; Haibun 7: Schlangenrache), findet sich die
Verwendung von Sprichwörtern und Zitaten, das Aufgreifen von Gedichtthemen früherer oder
zeitgenössischer Tanka- und Haikai-Dichter, onomatopoetische Wendungen, reiche Symbolik
usw. Angesichts dieser Tatsachen ist kaum zu glauben, daß Issa von so manchen Kritikern
als einfältig-sentimental abgewertet wird.
- Der Issa-Kenner Dombrady bezeichnet das Ora ga
haru" als eines der ergreifendsten Haibun in der japanischen Haibun-Literatur
überhaupt. Tatsächlich kommt in Issas Dichtung die Verwobenheit von Dichtung und eigenem
Lebensschicksal besonders deutlich zum Ausdruck. Trotzdem handelt es sich nicht um einen
in schöne Worte gekleideten Seelenerguß. Selbst die Darstellung seiner persönlichsten
Gefühle ist niemals eine weinerliche Herzausschüttung. Issa spricht zu uns spontan, mit
unverstellter Stimme. Hierin liegt gewiß der Grund, daß Issa so viele Leser in Japan und
im Ausland auch heute noch begeistert. Ein besonderes Kennzeichen Issas ist jedoch sein
ihn niemals verlassender feiner Humor, der beispielsweise trefflich im Haibun 5
(Päonien)
zur Geltung kommt. Hierin erzählt er von den unvergleichlich schönen Blütenköpfen der
Päonien - weiße, purpurviolette, gelbe, schwarze - im Garten seines Freundes
Nabuchi.
Während ihrer Blütezeit pilgerten viele Schaulustige zu diesem Ort. So auch
Issa.
Nachdem sich seine erste Verblüffung ob dieser Farbenpracht gelegt hatte und er die
Päonien näher betrachtete, bemerkte er, daß sein Freund sich einen Jux erlaubt hatte.
Denn unter den Blättern echter Päonien hatte er solche aus Papier angebracht, um die
Menschen zu narren. Sein Freund freute sich einfach darüber, den herbeiströmenden
Gästen Reiswein und Tee zu spendieren. - Bei Issa ist das Heitere, Komische und Witzige
niemals oberflächlich oder gar unseriös. Sein Humor offenbart einen tiefen Sinn, ein
Stück menschliche Weisheit.
- Zunächst können wir festhalten, daß auch für Issas
Haikai-Prosa die oben für ein Haibun genannten Kriterien(35)
zutreffen: Kein vom Verstand her konstruiertes Machwerk, eine geschlossene
Gesamtkonzeption und dennoch nicht abschließend, prägnanter, schlichter Stil, der zum
Teil mit Dialektwörtern durchsetzt ist, Umsetzung kunsttheoretischer Forderungen. Aber
nach der Lektüre der Haibun von Bashô und des Ora ga haru" von Issa werden
Sie bemerken, daß es innerhalb der Haibun-Literatur viele Varianten der Gestaltung gibt.
Deshalb kann man von d e m Haikai oder d e m Haibun nur sprechen, wenn man damit die
Literaturgattung im allgemeinen meint. Jede Dichtung ist eine Gestaltung aus der
jeweiligen Zeit heraus. Damit ist sie einem steten Wandel unterworfen. Der persönliche
Werdegang eines Dichters, seine Lebenseinstellung, seine ihm eigene Befähigung, im
Alltäglichen das Einmalige zu sehen, seine Ausdrucksformen usw., all dies verleiht der
Dichtung die besonderen Akzente, macht sie lebendig und vielgestaltig. Dies trifft auch
für die japanische Haikai-Literatur zu. Sie dämmerte nicht, wie so mancher glaubt,
rückwärtsgewandt durch die Jahrhunderte vor sich hin, sie ist keinesfalls steril,
sondern erweist sich bis in unsere Tage als wandlungsfähig. Daher liegen in ihr
unerschöpfliche Möglichkeiten, die nur erkannt werden müssen. Dies kommt dem
Kunstgenuß zugute und dient auch der Vervollkommnung der eigenen dichterischen
Ausformung.
- Für diese Fortsetzungsfolge genügt es erst einmal, wenn
es mir gelungen ist, Sie auf die Lektüre des Ora ga haru" neugierig gemacht zu
haben und ich Sie dazu anregen konnte, selbst auf Entdeckungsreise zu gehen und für sich
allein schon einmal einen Vergleich zwischen den Haibun von Bashô und Issa vorzunehmen.
- Ein Vergleich zwischen Bashô und Issa zeigt, von wie
unterschiedlichen Standpunkten man sich dem Haibun nähern und es gestalten kann. Ihre
Schaffenszeit - auch die des nachfolgend noch abzuhandelnden Yukio Yayû (1702-1783) -
fiel in das 17. und 18., das Spätwerk des Issa sogar in das frühe 19. Jahrhundert. In
der japanischen Geschichte wird diese Epoche als das Zeitalter des Kriegeradels - er
stellte die neuen Machthaber - und des Bürgertums charakterisiert. Aufgrund der während
dieser Zeit einsetzenden Urbanisierung - die großen Städte Osaka, Kyôto und Edo (das
heutige Tôkyô) entwickelten sich zu Zentren der kulturellen Blüte - wuchs ein neues
Bürgertum mit neuen Lebensvorstellungen heran. Konfuzianismus, Buddhismus und
Shintôismus prägten zwar das gesellschaftliche und religiöse Wertebild dieser Zeit,
aber die Interessen des neuen Bürgerstandes, der sich aus den chônin, den Kaufleuten und
Handwerkern, zusammensetzte, gingen in eine andere Richtung. Sie liebten das Diesseits mit
all seinen Höhen und Tiefen, seinen Sitten, seiner Erotik, seinem Streben nach Wohlstand
und Erfolg. Sie sehnten sich nach einer echten urbanen Volkskultur, die ihr Leben
widerspiegelte. Auch im literarischen Bereich verlangten sie allgemein verständliche, aus
ihrem Leben gegriffene Stoffe. Viele Literaten der damaligen Zeit entsprachen diesem
Zeitgeist, ja mussten ihm entsprechen, weil sich ihre Leserschaft hauptsächlich aus den
neuen Bürgern zusammensetzte. Und so entwickelte sich u.a. auch eine auf diesen Stand
zugeschnittene populäre Erzählprosa, in der das unterhaltende Moment im Mittelpunkt
stand. Sie umfasste realistische Sittenschilderungen, Liebesgeschichten und erotische
Literatur, Scherzgeschichten, Histörchen und anderes mehr.
- Das Anliegen von Bashô, Issa und Yayû war nicht die
Darstellung der vulgären' Lebenswelt der Städter in ihren Haibun. Sie verfolgten
ein anderes Ziel. Natürlich wollten auch sie ihre Zeitgenossen erreichen und bezogen ihre
Themen ebenfalls aus dem Alltäglichen, wandten sich Grundthemen des menschlichen Lebens
zu: Der Mensch im Kreislauf von Geburt und Tod, der Mensch mit seinen Hoffnungen, seinem
Streben, seinen Niederlagen, seinen Freuden und Leiden, der Mensch in seinem Verhältnis
zu der Natur, zu seinen Mitmenschen. Weil die drei Dichter ein jeweils anderes Milieu, das
ihre Lebensweise und Lebensanschauung prägte, umgab, wurde dieses Alltägliche' von
ihnen unterschiedlich empfunden, sprachlich auch unterschiedlich gestaltet und erschien
somit in einem jeweils anderen Licht.
- Bashô, der wahrscheinlich dem Schwertadel angehörte,
stand zunächst in Diensten eines lokalen Samurai, siedelte aber im Jahr 1672 nach Edo
(Tôkyô) über, um sich ganz seiner dichterischen Laufbahn zu widmen. Bereits zu
Lebzeiten war Bashô als Dichter und Lehrer großer Erfolg beschieden. Er musste nicht in
Armut leben, da er Gönner hatte, die ihn unterstützten, und auf seinen Reisen war er bei
ortsansässigen Dichtern oder bei wohlhabenden, seiner Dichtung aufgeschlossenen Familien
ein gern gesehener Gast. Bashô zog sich aus dem Samurai- und Bürger-Milieu bewusst
zurück. Diese Distanzierung hatte vor allem künstlerische Gründe: Es war Bashôs
ausdrücklicher Wunsch, ein Leben für die Kunst zu leben. In seinem Werk finden wir weder
ein Engagement für die Vorstellungen und Werte der Samurai noch für die des Bürgertums.
Ihm ging es um eine besondere Sichtweise der Natur und das Einbezogensein des Menschen in
diese, um den unmittelbaren Eindruck des Augenblicks und um die Erarbeitung einer
Ästhetik, die es ermöglicht, diese poetischen Stimmungsmomente sprachlich adäquat zum
Ausdruck zu bringen. Sein Spätwerk ist zweifellos von zenbuddhistischen und taoistischen
Gedanken geprägt und sie geben seinem Kunststil eine noch zusätzlich eigene Note. Eine
Schulung im Zen sensibilisiert den Künstler in hohem Maß, die unmittelbare, tiefste
Wahrheit intuitiv im alltäglichen Leben zu erfassen und dieser symbolhaft und in
prägnanter Form Ausdruck zu verleihen.
- Issa entstammte einer wohlhabenden Bauernfamilie und wurde
von diesem Umfeld geprägt. Er lebte in Armut und Krankheit und hatte eine eher
fatalistische Lebenseinstellung. Im Gegensatz zu Bashô war die Dichtung für ihn
gemüthafte Begegnung mit seinem Lebensschicksal und sie zeigt ein warmes Mitgefühl für
die Kreatur. Issas Haibun ist durch und durch subjektiv, ist eine realistische Prosa des
Alltagslebens. Dennoch gewinnt er seinem Einzelschicksal immer wieder Allgemeingültiges
ab und verfällt somit nicht der Gefahr eines sentimentalen Zerfließens. Religiös war
Issa, wenn auch erst im reifen Alter, von der Jôdô-Shin-Schule (Wahre Schule des Reinen
Landes) geprägt, die seiner Mentalität besonders zu entsprechen schien. Diese
Glaubensrichtung ist eine Schule des Amidismus. Unter der Bezeichnung Amidismus sind jene
Schulen des chinesischen und japanischen Buddhismus zusammengefasst, die den Buddha
Amitâbha (jap. Amida) in den Mittelpunkt ihrer Lehren stellen. Amitâbha (,Grenzenloses
Licht') ist einer der wichtigsten Buddhas im Mahâyâna-Buddhismus und symbolisiert
Erbarmen und Weisheit. Die von Shinran (1173-1262) begründete und auch heute noch im
religiösen Leben eine bedeutende Rolle spielende Jôdô-Shin-Schule erhob die
Verehrungsformel für Amida, Namu Amida Butsu' (Verehrung dem Buddha
Amitâbha'), zum Kern ihrer Glaubenspraxis. Der Gläubige, der diese Formel mit
vollkommener Hingabe rezitiert, kann eine Wiedergeburt im Reinen Land des Amida
(sukhâvati: Westliches Paradies) bewirken. Das westliche Paradies wird im Volksglauben
als ein Ort der Seligkeit beschrieben, ist jedoch in übertragenem Sinn als erleuchteter
Bewusstseinszustand, der die Vorstufe zum Nirvâna bedeutet, zu verstehen. Issas Haibun
spiegeln jenes einfache Vertrauen auf die Barmherzigkeit und Kraft des Amida deutlich
wider.
- Yokoi Yayû ist der dritte Schriftsteller, den ich im
Rahmen der japanischen Haibun-Literatur vorstellen möchte. Seine Haibun sind in dem Werk
Uzura goromo" (Wachtelkleid, posthum 1785 und 1823 herausgegeben) aufgenommen(36). Yayû entstammte dem berühmten Geschlecht der
Hôjô und lebte in Nagoya. Er wuchs in einer dichterisch ambitionierten Familie (sein
Großvater und Vater übten die Haikai-Dichtung aus) auf. Yavû war künstlerisch hoch
begabt und ein Kenner der chinesischen und japanischen Dichtung, Malerei, Kalligraphie und
des Nô.(37) Er stand in Diensten des Lehnsherren
von Owari (heutige Präfektur Aichi), trat jedoch 53jährig in den Ruhestand, um sich wie
Bashô ganz auf die Kunst zu konzentrieren.
- Im Gegensatz zu Bashô und Issa entfaltete sich Yayû
dichterisch in mehreren Richtungen. Er verfasste Haibun mit autobiographisch wertvollen
Reiseaufzeichnungen(38), die er mit zahlreichen
Haikai durchsetzte und in denen er berühmte Landschaften beschreibt und von menschlichen
Begegnungen erzählt. Diese Aufzeichnungen sind besonders im Vergleich mit Bashôs
Reisetagebüchern interessant zu lesen. -
- In vielen seiner Haibun setzte sich Yayû mit der
chinesischen und japanischen literarischen Überlieferung auseinander und nahm die zu
seiner Zeit zu festen Klischees erstarrten poetischen Kategorien aufs Korn. Es sind
sprachkünstlerische Parodien, in die er gedanklich-argumentative Elemente und zahlreiche
Anspielungen auf die japanische und chinesische Geschichte und Literatur geschickt
einarbeitet. - Besonders ansprechend sind jene Haibun, in denen Yayû sich von seiner
humorvollen Seite zeigt. Bereits die Überschriften vieler seiner Haibun geben Aufschluss
darüber, welche Themen er mit Vorliebe abhandelte: Ein Wort zum Morgenschlaf",
Lob der irdenen Röstpfanne", Inschrift für ein Handwaschbecken",
Biographie des Grillenalten", Liste der hundert Insekten",
Worte über den Reiskuchen", Holzschuhgeschichte",
Denkwürdiges über das Heim der Wasserpfefferblüte" usw. Auch Yayûs
Erzählprosa liegt das realistische Erfassen menschlichen Lebens zugrunde, aber er liebte
das Heitere und Witzige und bediente sich gern humoriger und bespöttelnder Schilderungen
menschlicher Unzulänglichkeiten. Vor allem bei der Lektüre dieser Haibun wird klar, dass
er mit seinen Haibun ein anderes Ziel als Bashô und Issa verfolgte. Er knüpfte an das
humoristische Element der Schulen der Vor-Bashô-Zeit an. Damit kam er dem oben
geschilderten Zeitgeist der neuen Bürger entgegen, ohne jedoch jemals ins Vulgäre oder
Minderwertige abzugleiten. Yayû schrieb einen schlicht-populären, geschliffenen,
pointierten Stil. Seine Komik ist voller Feingefühl, niemals gibt er seine Personen und
Objekte schonungslos dem Lächerlichen preis. Er wahrt stets die für einen Dichter
notwendige Distanz und verlangt sie somit auch dem Leser ab.
- Als Beispiel seien einige Auszüge aus dem Haibun
Ein Wort zum Morgenschlaf" -ein von ihm feinsinnig gestalteter Lobgesang auf
den Langschläfer - angeführt:
-
- Unter all den Lehren des Shintô, des Konfuzianismus und
Buddhismus, von den erlauchten morgendlichen Staatsgeschäften der Oberen bis zum emsigen
Tageslauf am Rechenbrett, dem Erwerb des Lebensunterhaltes durch Einkauf auf den Märkten
der Unteren - die Lehre, in den Tag hinein zu schlafen, findet sich nicht darunter ... In
den kurzen Nächten des Dritten, Vierten und Fünften Monats, wenn einem so recht nach
Schlaf zumute ist, da ist gerade der Morgenschlaf einfach köstlich. Zwar ist das Auge
nicht mehr ganz vom Schlummer umfangen, doch liegt man schlaftrunken zwischen Traum und
Wachen, und im Schlafgemach sich vorzustellen, wie die Blüten in der Morgensonne duften,
wie in den Kiefern noch das Morgenzwielicht hängt, das ist wohl schöner noch als
aufstehen und schauen... Da leuchtet es doch ein, dass es besser ist, im Morgenschlaf das
Kissen zu drücken, als klugerweise früh aufzustehen, den ganzen Tag lang nur mit Mühe
die Augen wachzuhalten und im Mittagsschlaf die Stunden zu stehlen, und so mache ich eben
den Langschläfer. Wenn aber dann im Herbst die Nächte länger werden und es wieder
herrlich ist, früh aufzustehen, da darf ich mich auf einmal wieder einen Frühaufsteher
nennen. Darum mögen sowohl Buddha wie Konfuzius ein Weilchen in Geduld darüber
hinwegsehen.
- Hör die Nachtigall
- tief in der Nacht und liegt doch
- im Morgenschlummer(39)
-
- Ein kleines Meisterwerk ist Yayû mit dem Haibun
Biographie einer irdenen Reibschüssel" gelungen. Darin erzählt er von dem
Werdegang einer Reibschüssel, von ihrer Geburt bis zu ihrem tragischen
Tod. Reizvoll an diesem Haibun ist die Gleichsetzung der Schüssel mit einer jungen,
hübschen Frau. Um nicht in ihrem Heimatdorf zu versauern, macht sich die
Reibschüssel/die junge Frau eines Tages - es war der 12. Monat, in Japan der Monat des
großen Hausputzes und des Ausrangierens und der Erneuerung der Küchengeräte - in die
Hauptstadt auf. Sie findet eine gute Anstellung und wird mit einem passenden Mann,
nämlich einem Reibstößel, verheiratet. Ein Mann so rauh wie Kiefernholz, ein
treuer Geselle, von ganz und gar schmuckloser Gemütsart .... Sie wünschten sich, so
unzertrennlich zu sein wie Klebreis, und schlossen sich so eng zusammen, dass wohl kein
Wässerlein zwischen sie tropfen konnte..." Aber, wie es das Schicksal so fügt,
hält sie mit einem Mann namens Schablöffel, den man früher im Palast seines angenehmen
Äußeren wegen Nachtigall gerufen hatte, unter dem Spülstein ein
Beischläfchen. Unter dem Gesinde - dem Weinwärmkessel, dem Schöpflöffel, der
Röstpfanne, dem Teekessel, dem Merrettichreibeisen - wird sogleich getuschelt, und weil
die Reibschüssel Schande auf sich geladen hat, ziehen sie sich alle von ihr zurück. Aus
Zorn darüber wirft sie sich eines Nachts vom Rand des Wandbretts herunter. Dabei erleidet
sie Bruchschäden und ihr Aussehen wird hässlich. Es kommt, wie es kommen muss. Von nun
an geht es bergab mit ihr. Nicht mehr beim Kochen brauchbar, wird sie zunächst zur
Auffangschüssel für den durchtropfenden Frühsommerregen erniedrigt, dann am Brunnenrand
unter Bitterknöterich und Labkraut begraben. Schließlich findet sie ein Tempelwächter
und wandelt sie zu einem Feuerbecken um. In dieser für sie völlig ungewohnten Funktion
fristet sie den Winter über in Trübsal ihr Leben. Im Frühjahr bepflanzt man sie
schließlich mit Pfefferkraut:
-
-
- ...und wenn ihr dabei auch die Augen brannten,
nun, sie musste es auf sich nehmen. Doch damit ging die Buntheit des Herbstes vorüber und
sie lag schließlich beschmutzt auf dem Schutthaufen am Ende der Brücke. Die Folge war,
dass sie beim Spiel ungezogener Kinder in Scherben ging, die ihrerseits in dunkler Nacht
zu Wurfgeschossen wurden, bei denen man nicht weiß, wo sie wohl landen."(40)
-
- Von der Gelassenheit gegenüber Lob und Tadel eines
betagten Menschen erzählt das Haibun Biographie des Grillen-Alten":
-
-
- Die Maulwurfsgrille fliegt zwar gut, vermag
jedoch nicht, über ein Haus zu gelangen. Sie klettert zwar gut, vermag aber nicht, einen
Baum bis oben zu erklimmen. Sie schwimmt zwar gut, vermag aber nicht, ein Tal zu
überqueren. Sie gräbt zwar gut Löcher, vermag aber nicht, sich zu verbergen. Sie läuft
zwar gut, vermag aber nicht, dem Menschen zu entkommen. Da sagt man wohl, sie ist im
Besitz der Fünf Fähigkeiten und übt doch nicht eine aus. Hier ist ein alter Mann. Er
verfasst zwar chinesische Gedichte, aber die Gedichte werden nichts, er dichtet zwar
Lieder, aber sie haben keine Ähnlichkeit mit Liedern, er schreibt zwar Dinge, aber sie
sind nicht gut, er malt zwar Bilder, aber sie sind stümperhaft, er macht zwar
Scherzgedichte, aber sie sind linkisch. Im Gedanken, ob ich jenem Insekt wohl nachstehe,
habe ich mich selbst Grillen-Alter genannt. Ich bin schon recht alt, und da ich jetzt die
Grenzen eines solchen Leibes kenne, verlange ich nicht, von anderen gelobt zu werden, und
der Tadel der Menschen verdrießt mich nicht. Wozu also, wie die Grille im Sprichwort,
sich ärgern und jener Amsel Freude machen? Gut, mag sie sich doch ärgern, ich möchte
lieber lachen!"(41)
-
- Die Übertragung menschlicher Verhältnisse auf einen
Gegenstand, ein Tier (z.B. Biographie des Grillen-Alten", Liste der
Hundert Insekten" ), eine Pflanze (z.B. Fragewort an die Chrysanthemen")
oder umgekehrt, war für Yayû ein beliebtes Erzählmuster, das er in vielfältigen Formen
zu variieren verstand. Das Haibun gewinnt damit nicht nur an Bildhaftigkeit, sondern weist
über das konkrete Bild hinaus und drückt eine anerkannte Wahrheit aus. Yayû
beherrscht diese Technik brillant. Die Übertragung wirkt niemals gewollt oder
aufdringlich, sondern stellt sich wie selbstverständlich und natürlich ein und wird vom
Leser verstanden und goutiert.
- Mit Bashô, Issa und Yayû wählte ich drei
Klassiker der japanischen Haibun-Literatur aus. Innerhalb der japanischen
Literatur besitzen sie einen hohen Stellenwert und auch im gegenwärtigen Japan wird ihr
Werk geschätzt. Ihre Haibun sind künstlerisch anspruchsvoll, geistreich und ästhetisch
befriedigend. Seit dieser klassischen Haibun-Ära Japans sind mehrere
Jahrhunderte vergangen. In dieser Zeit hat sich die japanische Gesellschaft verändert und
mit ihr die japanische Literatur. Seit der Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert erlebte die
japanische Literatur vor allem durch die Auseinandersetzung mit der westlichen so manchen
Wandel. Westliche Strömungen wie Naturalismus, Realismus, Romantik/Neoromantik,
Idealismus, Symbolismus, Sensualismus, um nur einige zu nennen, hinterließen deutlich
ihre Spuren und prägten die moderne Literatur entscheidend mit. Althergebrachte Gattungen
lösten sich auf oder vermischten sich mit neuen Formen, neue westliche Genres setzten
sich durch.
- Auch das Haibun musste in Japan anderen Erzählformen
Platz machen. Allerdings neigt der Japaner auch heute noch dazu, vielmehr als wir,
Erlebnisse, Gedanken usw. skizzenhaft festzuhalten, vor allem wenn er Dichter oder
Künstler ist. Viele japanische Haiku-Dichter verfassen auch heute noch
Haibun, obwohl sie
diese nicht immer ausdrücklich Haibun nennen. Natürlich schreibt ein japanischer
Haibun-Dichter des 20./21. Jahrhunderts anders als ein Bashô, Issa oder
Yayû. Die
menschlichen Grundthemen sind zwar die gleichen geblieben, aber durch den historischen
Wandel und aufgrund der rasanten naturwissenschaftlichen und technischen Entwicklung
ergeben sich notwendigerweise andere Lebenseinstellungen und Standpunkte und damit auch
andere Themen für ein Haibun. Hinzu kommt, dass durch die fortschreitende Globalisierung
die gesellschaftlichen und menschlichen Probleme nicht mehr ausschließlich
innerjapanische sind, sondern in einem darüber hinausgreifenden Rahmen erscheinen.
Trotzdem blieben bestimmte formale und ästhetische Kriterien des
traditionellen Haibun erhalten bzw. werden dem modernen Verständnis von Form
und Ästhetik angepasst.
- Wer sich ein klares Bild über den Werdegang des
japanischen Haibun verschafft, wird mit umso größerer Sicherheit selbst in dem Genre
gestalterisch tätig sein können. Auf diese Horizonterweiterung im Hinblick auf die
japanische Literatur im allgemeinen und die Haibun-Literatur im besonderen möchte ich
eindringlich hinweisen, damit bei der Abfassung von Haibun nicht eine ähnliche
Unsicherheit und (oft völlig unnötige) Standpunktbekämpfung einsetzt wie etwa beim
Haiku. So wie es kein deutsches, englisches, französisches sondern nur ein deutschsprachiges
Haiku geben kann, so gibt es auch kein deutsches Haibun. Die Frage kann auch hier nur
sein, entspricht das in deutscher Sprache abgefasste Haibun den Kriterien der Textgattung
Haibun. Bei der Bezeichnung Haibun müssen wir bleiben, weil es keine adäquate Prosaform
im deutschsprachigen Raum gibt. Epos, Kurzgeschichte, Novelle, Verserzählung u.ä. sind
eben kein Haibun. Gegen Formulierungen wie nach dem Vorbild von" oder in
Anlehnung an" (die japanische Kurzlyrik/Haibun) habe ich Vorbehalte. Wenn ich mir
etwas zum Vorbild nehme, dann doch mit der Zielsetzung, dem Vorbild zu
entsprechen, und wenn ich etwas in Anlehnung an verfasse', dann bedeutet es, dass
ich mich auf etwas (ein bestimmtes Muster: Haibun) stütze. Beide Formulierungen schützen
den Verfasser nicht davor, dass seine Texte an den der japanischen Kurzlyrik bzw. dem
Haibun zugrundeliegenden formalen und ästhetischen Kriterien gemessen werden. Alles
andere wäre Augenauswischerei. Entweder ich verfasse ein Haibun im Rahmen des
Vorgegebenen und nenne es auch so(42), oder ich
wähle aus der Fülle westlicher Literaturformen die meinem Schreibstil entsprechende.
- Abschließend möchte ich den Blick nochmals auf die
wesentlichen Besonderheiten eines Haibun lenken. Ein Charakteristikum des Haibun ist die
Verbindung von erzählendem und lyrischem Moment. Dieses Spannungsfeld von Prosa und Lyrik
macht seinen besonderen Reiz aus. Dennoch gibt es viele Haibun, die kein Haiku aufweisen.
Besitzt ein Haibun ein oder mehrere Haiku, so überhöhen diese ästhetisch gesehen das in
der Prosa Beschriebene. Sie transportieren das vorher Erzählte sozusagen auf die lyrische
Ebene. Ein Haiku, gleichgültig ob es in den Text eingestreut ist oder am Ende eines
Haibun steht, wird vom Prosatext her vorbereitet. Oft hält der Prosatext im Moment
äußerster Spannung inne, dann folgt das Haiku. Dieses sollte so komponiert sein, dass es
das Haibun ausklingen und weiterschwingen lässt. Dennoch darf das Haiku nicht als eine
simple Zusammenfassung, sozusagen als eine Kurzfassung der vorangegangenen Prosa
aufgefasst werden. Es sollte auch unabhängig vom Prosatext als lyrisches Gedicht
verstehbar sein. Stilistisch gesehen lebt das Haibun von der Prägnanz. Das einfache, aber
treffende Wort garantiert in der Regel diese Prägnanz. Ein Haibun lebt aber auch vom
Klang und Rhythmus der Worte und ihrer Bildkraft. Erst durch die Wortwahl, Wortstellung
und den Wortklang, durch die rhythmische und klangliche Durchformung des Textes, erreicht
der Schriftsteller bei dem Leser den hohen ästhetischen Genuss. Der Verfasser darf
niemals nur beschreiben, sondern muß die sinnliche und geistige Wahrnehmung des von ihm
Geschauten etwa durch Vergleiche, Symbolbilder usw. transparent werden lassen. Die
Einarbeitung von Anspielungen, Sprichwörtern und Redewendungen, das Zurückgreifen auf
Gedanken oder Texte berühmter Dichter oder anderer Persönlichkeiten sind gern benutzte
Stilmittel. Dabei werden diese zumeist nur durch ein Wort, ein Natur- oder Gedankenbild
angesprochen und der Leser stellt die Assoziation selbst her. Ein belebendes Moment kann
auch die Einflechtung einer kurzen indirekten oder direkten Rede sein. All das verleiht
dem Haibun Spannung und Bewegung.
- Ein Haibun kann in der Ich-Form oder in der Erzählform
der dritten Person abgefasst werden. Seine Themen bezieht der Verfasser aus dem eigenen
Erleben, aus dem unerschöpflichen Bereich der seelischen Gestimmtheiten, des
Verhältnisses von Ich zum Mitmenschen oder des von Natur und Welt. Er kann aber auch auf
Wissenschaftliches, Philosophisches, Kunsttheoretisches, Gesellschaftskritisches oder auf
Stoffe aus Mythen, Sagen, Fabeln, die natürlich unter einer neuen eigenen
Betrachtungsweise gleichsam als Variationen bearbeitet werden müssen, zurückgreifen(43). Dabei ist nicht die Größe und Bedeutung des
Geschehens ausschlaggebend. Gerade kleine Dinge und Begebenheiten tun oft große
Geheimnisse kund.
- Aufgrund meiner Artikelfolge Was ist ein
Haibun erreichten mich viele Briefe von an diesem Genre Interessierten. Zum Teil
lagen erste Haibun-Versuche bei. Über dieses positive Echo habe ich mich natürlich sehr
gefreut. Denn die Artikelfolge hatte zum Ziel, die Aufmerksamkeit an der Textgattung
Haibun zu wecken und einen ersten Einstieg zu ermöglichen.