Lydia Brüll
Was ist ein Haibun ?
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Immer mehr westliche Haiku-Dichter/innen entdecken das Haibun als ein neues Betätigungsfeld für ihre kreative Gestaltung. Deshalb möchte ich dieses Genre der japanischen Literatur in einigen in loser Folge erscheinenden Beiträgen in dieser Zeitschrift vorstellen. Ich bin der Auffassung, daß es wichtig ist, eine Kunstform, noch dazu wenn sie aus einer für den Europäer doch relativ fremden Kultur erwachsen ist, am Original kennenzulernen und zu studieren. Ein klares Bild von der Entwicklung des Haibun und seinen Forderungen an Form und Gehalt ist für das Verstehen und noch mehr, wenn man selbst in diesem Bereich kreativ werden will, unabdingbar. Nun ist ein Studium am Original nur jenen möglich, die der japanischen Sprache mächtig sind und über ein fundiertes Hintergrundwissen der japanischen Kultur verfügen. Müssen aber am Haibun Interessierte, die über diese Voraussetzungen nicht verfügen, deshalb außen vor bleiben? Natürlich nicht. Allerdings muß die Bereitschaft, sich in das Sujet mit seinen formalen und kunsttheoretischen Stilmitteln wirklich einarbeiten zu wollen, vorhanden sein. Denn der sichere Umgang mit dem japanischen Haibun und seinen künstlerischen Ausgestaltungen ist Bedingung für eine adäquate Übertragung dieser Kunstform in unseren Sprach- und Kulturraum.
In dem vorliegenden Beitrag gebe ich einen kurzen historischen Überblick über das Haibun. In den nachfolgenden Beiträgen stelle ich einige Haibun in deutscher Übersetzung mit Erklärungen vor. Bei diesen Erläuterungen geht es keinesfalls um ein Hineininterpretieren aus deutscher Sicht, sondern um die Aufhellung von Hintergründen, die für einen Japaner, jedoch nicht unbedingt für uns, selbstverständlich sind. Da nicht alle Interessenten die Möglichkeit haben, an Symposien und dgl. teilzunehmen, gebe ich weiterführende deutschsprachige Literatur für ein Selbststudium an.
Die Haikai-Dichter Japans pflegten nicht nur das Haikai, sondern auch eine dem Haikai angemessene Prosa, das Haibun. „Haibun" ist eine Zusammenziehung von „Haikai no bunshô" und bedeutet Hai(kai)-Prosa (bun) oder Prosa im Haikai-Stil. Der Terminus kam zu Beginn des 17. Jh. auf. Diese Prosaaussagen wurden in der Form von Miszellen, von Tagebuchaufzeichnungen oder Reisetagebüchern, Briefen, literaturtheoretischen und philosophischen Essays u.ä. festgehalten.
Das Haibun hatte in der japanischen Literatur bereits seine Vorläufer. Vor allem die Literaturgattung „Zuihitsu" (Miszellen) und die Tagebuch- und Reisetagebuchliteratur (Nikki, Kikô)(1) erfreuten sich schon vor ihm großer Beliebtheit. „Zuihitsu" bedeutet „dem Pinsel (hitsu) folgend (zui)" und weist auf Schriften hin, die aus spontaner Eingebung Eindrücke, Erfahrungen und Überlegungen „in den Pinsel fließen lassen" und skizzenhaft zu Papier bringen. Ein Zuihitsu kann aus einfachen Wortnotizen, Sentenzen, aber auch aus längeren Essays bestehen. Inhaltlich weist es eine thematische Vielfalt auf: Natur und Menschenleben, Gesellschaftskritik, Wissenschaft, Philosophie, Literaturtheorie usw. Gerade wegen dieser Themenvielfalt bedienten sich Schriftsteller, Gelehrte, Staatsmänner, Mönche gern dieser Form literarischer Aufzeichnung. Als klassische Meisterwerke des Zuihitsu gelten das Makura no sôshi (Kopfkissenbuch) der Hofdame Sei Shônagon (10. Jh. n. Chr.), das Hôjôki (Aufzeichnungen aus den zehn Fuß im Geviert meiner Hütte) des Kamo no Chômei (1153-1216), das Tsurezuregusa (Aufzeichnungen in Mußestunden) des Yoshida Kenkô (1283-1350) und das Kagetsusôshi (Notizen bei Kirschblüten und Vollmondnacht) des Matsudaira Sadanobu (1758-1829).(2) Es ist empfehlenswert, sich anhand dieser Werke in das Genre des Zuihitsu einzulesen. Übrigens findet in Japan auch heute noch diese Literaturgattung großes Interesse. Vor allem Literaten, Journalisten und Wissenschaftler greifen gern auf das Zuihitsu zurück, um ihre Gedanken einem breiteren Leserpublikum vorzustellen.
Im allgemeinen rechnen die japanischen Literurwissenschaftler die gesamten Prosaaussagen der Haikai-Dichter zum Genre Haibun, wobei das Haibun für sie wiederum eine Untergruppe der Zuihitsu-Literatur bildet. Manche Literaturwissenschaftler klammern jedoch die Reisetagebücher der Haikai-Dichter aus und ordnen diese der Literaturgattung Tagebuch zu.(3)
Der Haibun-Verfasser gestaltet seine Texte aus seinem inneren Erleben heraus und reiht Gedanken an Gedanken skizzenhaft aneinander. In der Stoffwahl wird dem Schriftsteller große Freiheit zugestanden. „Wir finden dort alles, was einer Darstellung wert, was nur überhaupt erlebbar und wahrnehmbar ist. Landschaften, Jahreszeiten, Feste im Wandel des Jahres, volkskundlich interessante Begebenheiten oder Dinge, Tiere, Pflanzen, Steine, das gesamte Leben und Wirken der Natur werden im gleichen Maße geschildert wie rein persönliche Gedanken und Betrachtungen, Belehrungen und Ermahnungen, Überlieferungen aus dem Leben der Dichter vergangener Zeiten. Aber auch Vorworte zu Sammlungen, Kritiken an Werken anderer und Briefe an Freunde und Bekannte finden Aufnahme.(4)" Daß ein Haibun einen hohen Anteil von Haikai aufweist, versteht sich eigentlich von selbst. So ist ein Haibun im allgemeinen eine lockere Abfolge von Haikai-Prosa und -Poesie. Die Haikai werden entweder in den Prosatext eingestreut oder schließen diesen ab. Dabei stellt das Haikai in seiner Prägnanz jeweils den lyrischen Höhepunkt des Prosatextes dar. Wie die Haibun-Literatur jedoch zeigt, muß ein Haibun nicht unbedingt ein oder mehrere Haikai aufweisen. Viele Texte kommen auch ohne dieses aus, ohne deshalb an dichterischem Wert zu verlieren.
Wie für das Haikai gilt auch für das Haibun Matsuo Bashô (1644-1694) als der erste, wenn nicht überhaupt bedeutendste Vertreter. Durch seine besondere Haltung gegenüber dem All und durch seine kunsttheoretische Auffassung prägte Bashô diese Literaturgattung maßgeblich. Deshalb wenden wir uns auch ihm zuerst zu. Weitere angesehene Haibun-Schriftsteller sind u. a. Yosa Buson (1715-1783), Yokoi Yayû (1702-1783), Kobayashi Issa (1763-1827).
Für Bashô muß ein gelungenes Haibun folgende Kriterien erfüllen:
• Es darf kein vom Verstand her konstruiertes Machwerk sein, sondern muß aus dem spontanen Erlebnis heraus entstehen;
• es muß eine geschlossene Gesamtkonzeption besitzen und darf dennoch nicht abschließend sein;
• es muß einen prägnanten und schlichten Stil aufweisen;
• Verwendung von Anspielungen auf Gedankenbilder berühmter Dichter, Gelehrter, Mönche usw. aus vergangener Zeit gelten als ein wesentliches Stilmittel;
• alle den Gehalt eines Haikai bestimmenden kunsttheoretischen Forderungen wie yoin (Nachhall), makoto (WahrheitlWahrhaftigkeit), fueki-ryûkô (Wandelbare und Unwandelbare), sabi („Einsamkeit") usw., die eigentlich jedem westlichen Haiku-Dichter bekannt sein müßten, gelten auch für das Haibun.
Wie wir später sehen werden, sind diese Kriterien nicht nur graue Theorie, sondern Bashô selbst erfüllt diese in seiner Haikai-Prosa. Nicht ohne Grund äußert Yokoi Yayû, daß „es schwer sein dürfte, die Höhe Bashôs auf dem Gebiet des Haibun zu erreichen", und Soryû hält in seinem Nachwort zu Bashôs Reisetagebuch Oku no hosomichi (Auf schmalen Pfaden durchs Hinterland) fest: „Da ist eben alles vorhanden in diesem Werk: Trockenes und Brilliantes sowie Imposant-Kräftiges und Zart-Sich-Verflüchtigendes...! Verfolgen wir Schritt für Schritt diese schmalen Pfade durchs Hinterland, können wir nicht umhin, manchmal vor Begeisterung aufzuspringen und in die Hände zu klatschen, dann aber auf dem Boden uns vor Schmerzen zu winden, als würden uns Leber und Eingeweide zerhackt. Mitunter kommt es vor, daß wir schon drauf und dran sind, nach dem Strohumhang zu greifen, um selber auf die Reise zu gehen auf eine solche Reise! Und ein andermal sitzen wir wie angewurzelt und betrachten nur die Landschaft, die da gerade vor unseren Augen ersteht. Was für eine überwältigende Vielfalt an Eindrücken, die wie zu Perlen gefrorene Tränen von Meerjungfrauen anmuten! Was für eine Reise und was für ein Mensch mit dem Talent, alles zu fassen!(5)"
Im Gegensatz dazu beurteilt Bashô in seiner Bescheidenheit und stets an den großen Dichter-Vorbildern der Vergangenheit orientiert seine Haikai-Prosa als „geist-und talentlose Schreibereien". „Obwohl man nun meint, daß Dinge wie „an diesem Tage fällt Regen und um die Mittagszeit hellt es sich auf, da stehen Kieferbäume und dortfließt ein so und so genannter Fluß" ein jeder aussprechen kann, so soll man sie doch nicht niederschreiben, wenn nichts von der Originalität eines Huang und der Frische eines Su(6) vorhanden ist. Aber sei es auch so, die Landschaft der verschiedenen Plätze bleibt mir im Herzen haften und auch die kümmerliche Traurigkeit der Bergrasthäuser und Landherbergen, sie geben bald einen Gesprächsstoff. Auch die Regungen von Wind und Wolken leben in meinen Gedanken weiter und unvergeßliche Orte und Plätze; all das schreibe ich, ganz ohne Ordnung, zusammen. Nun, man nehme es für das Schwätzen eines Betrunkenen, man halte es für die Phantasterei eines im Schlafe Sprechenden; man fasse es als Worte ohne Bedeutung auf.(7)"
Wie die Haikai des Bashô weisen auch seine Haibun stilistische und inhaltliche Entwicklungsstufen auf. Dies hängt eng mit seinem persönlichen Werdegang zusammen.(8) Der Durchbruch Bashôs zu seiner letzten und reifen persönlichen wie künstlerischen Entwicklungsstufe erfolgte um 1680, als er sein Bashôan (Bananenstauden-Hüttlein) im Stadtteil Fukagawa von Edo (Tôkyô) bezieht. Ein Schüler schenkte ihm eine Bananenstaude, die Bashô über alles liebte und die ihn zu seinem endgültigen Dichternamen „Bashô" veranlasste. Eine 1682 in Fukagawa wütende Feuersbrunst zerstörte seine Behausung.
Erst 1683 kehrte er wieder nach Edo zurück, nachdem er gemeinsam mit Schülern und Freunden sein Domizil wieder aufgebaut hatte. In die Spätzeit fallen auch seine fünf Wanderfahrten, die er in seinen Reisetagebüchern(9) festhält und die uns einen guten Einblick in seine Lyrik und Prosa geben. In seinem persönlichen Leben trat nun die Bindung an den Zen-Buddhismus und Taoismus in den Vordergrund und sein dichterisches Schaffen wird durch den shôfû genannten Stil („wahrhafter Stil") geprägt.
Bashô hat uns aus seiner Spät-Zeit ein besonders reizvolles Haibun hinterlassen, das „Bashô o utsusu kotoba (Worte /kotoba/ zum Umpflanzen /utsusu/ der Bananenstaude /bashô/, verf.1692). Ich wähle dieses Haibun als erstes für eine Interpretation, da sich an ihm besonders gut alle wesentlichen Kriterien eines Bashô-Haibun erläutern lassen. Es ist übrigens ein Haibun ohne Haikai. Der kursiv gedruckte Text gibt jeweils das von H.Hammitzsch(10) aus dem Japanischen übersetzte Original wieder, dazwischen befinden sich meine Erläuterungen.
Das Haibun widmet sich dem Thema „Aufbruch zu einer Wanderfahrt, Abschied, Rückkehr". Ausgangspunkt des Haibun ist die Beschreibung der äußeren Umgebung seiner Behausung, nämlich seines „Bananenstauden-Hüttleins".
 
„Die Chrysanthemen stehen an der Osthecke in voller Pracht, der Bambusbusch ist Herr des Nordfensters. Die Päonien stehen im Wettstreit zwischen Rot und Weiß und werden so vom Staub der Welt beschmutzt. Des Lotos Blätter erheben sich nicht vom flachen Grund; solang das Wasser nicht klar ist, öffnet er keine Blüten."
 
Diese Anfangssätze wirken aufs erste äußerst karg. Bei Chrysantheme, Bambus, Päonie und Lotos handelt es sich jedoch um in Ostasien beliebte Pflanzen und sie werden in der Malerei und Dichtung häufig dargestellt, bzw. besungen. Sie stecken voller Anspielungen und Symbolik, die bei einem Japaner beim Lesen assoziativ vor seinem geistigen Auge erstehen. Damit auch wir die Aussage dieser einleitenden Sätze in ihrer Tiefe erfassen, müssen wir um diese Assoziationen wissen.
Die Chrysantheme ist die Blume des Herbstes und steht also auch symbolisch für diese Jahreszeit, genauer für den neunten Monat des alten japanischen Kalenders. Deshalb heißt dieser Monat auch Kikutsuki (Chrysanthemenmonat) und der 9.Tag dieses Monats wird als Fest der Chrysanthemenblüte (Kiku no sekku, Chôyô no sekku) gefeiert. Dieses Fest ist eines der fünf Jahresfeste (Gosekku) und wird feierlich begangen. Aus früherer Zeit haben sich Bräuche wie Gedichtwettstreite, Chrysanthemen-Wettbewerbe und -Festessen oder der Brauch, Wein mit Chrysanthemenblüten zu trinken, erhalten. Im bäuerlichen Bereich fällt das Erntefest auf diesen Tag. Die Chrysantheme ist auch das Sinnbild eines langen Lebens und wird oft in Verbindung mit der Kiefer, welcher der gleiche Symbolgehalt zukommt, dargestellt. Bashô spielt hier auf ein Gedicht des chinesischen Lyrikers T'ao Yüan-ming (365-427) an, der die Chrysanthemen über alles liebte. Das Gedicht lautet:
 
In später Pracht erblühn die Chrysanthemen.
Ich pflücke sie vom Perlentau benetzt.
Um ihre Reinheit in mich aufzunehmen,
Hab einsam ich zum Wein mich hergesetzt.
Die Sonne sinkt, die Tiere gehn zum Schlummer.
Die Vögel sammeln sich im stillen Wald.
Fern liegt die Welt mit ihrer Unrast Kummer.
Das Leben fand ich, wo der Wahn verhallt.(11)
 
Der Bambus ist aus dem alltäglichen Leben des Japaners nicht wegzudenken und seit jeher war dieser ihm vertraut. Als Symbol von vielfältiger Bedeutung steht er einmal für die Jahreszeit Winter und für ein ethisches Menschenideal. So symbolisiert sein gerader Stamm mit den regelmäßigen Knoten Aufrichtigkeit, offene Gesinnung und Unbeirrbarkeit, sein immergrünes und unveränderliches Blattwerk über den Winter versinnbildlicht Treue, auch Alter, sein elastisch sich im Winde beugender Stamm Nachgiebigkeit und zugleich Widerstandskraft. Ferner beinhaltet er die ästhetischen Werte der Schlichtheit, Anmut, Eleganz. Konkret spielt Bashô hier auf eine Stelle aus dem Shih-shuo hsin-yü des Chinesen Hui-chih (gest. 388) an: „Wie könnte ich einen Tag ohne diesen Edlen (Bambus) sein".
Als Königin unter den Blumen gilt die Päonie. Sie kommt in den Färbungen weiß und rot vor, wobei die rote Päonie noch immer die am meisten verehrte ist. Sie ist Symbol des Reichtums, Ansehens und der Vornehmheit, aber auch der Liebe und Zuneigung. In der Malerei finden wir die Päonie oft zusammen mit Lotos, Pflaume und Chrysantheme als die Blumen der vier Jahreszeiten dargestellt, wobei sie für die Jahreszeit Frühling steht. Bashôs Worte „die Päonien stehen im Wettstreit zwischen Rot und Weiß" sind eine Anspielung auf den Wettstreit unter den chinesischen Dichtern, ob die rote oder weiße Päonie schöner sei. „Und werden so vom Staub der Welt beschmutzt" ist ein Hinweis auf das von Ehrgeiz, Wettstreit, Ruhm geprägte Gebaren der Menschen, die der irdischen Welt noch verhaftetet sind, und somit vom Staub des Weltlichen beschmutzt werden.
Eine der wichtigsten Pflanzen Ostasiens ist der Lotos. Er schmückt Teiche und Seen mit seinen tiefgrünen Blättern und seinen weiß- oder rosa-farbenen Blüten. Lotos steht für die Jahreszeit Sommer. Im Buddhismus spielt der Lotos eine besondere Rolle. So ist er Symbol für das durch den Schlamm der irdischen Welt und durch das Nichtwissen oder die Verblendung im Grunde unbefleckt bleibende wahre Wesen des Menschen, ist also Sinnbild für Reinheit und Unsterblichkeit. Ferner verkörpern Frucht, Blüte und Stengel des Lotos im Buddhismus Vergangenheit, Jetztzeit und Zukunft. Oft ist die Lotosblüte auch ein Symbol der Welt mit dem Stengel als Weltachse. Ikonographisch ist die Lotosblüte eine Form des Thronsitzes des Buddha als universellem geistigen Herrscher und als Verkörperung des Absoluten. Bashô spielt hier auf Worte des chinesischen Schriftstellers und Philosophen Chou Tun-i (1017-1073), der Lotos besonders liebte und bildlich als Mann im Boot, umgeben von Lotos dargestellt wird, an. Sie lauten: „Der Lotos entsteigt dem Schlamm und bleibt unbeschmutzt; von klaren Wellen wird er bespült und ist doch nicht prahlerisch."
Wenn wir die ersten Zeilen nun nochmals lesen und dabei die Assoziationen mitschwingen lassen, vermögen wir sie in einem tieferen Sinn zu verstehen. Allein durch die Nennung von Chrysantheme, Bambus, Päonie und Lotos fängt Bashô das jahreszeitliche Werden und Vergehen - eine Chiffre für die ostasiatische Lebensauffassung der Vergänglichkeit allen irdischen Lebens - ein, ohne die Jahreszeiten mit einem Wort zu erwähnen. Durch die den Pflanzen zugrundeliegende Symbolik sikzziert er überdies ethische und ästhetische Werte. Obwohl Chrysantheme, Bambus, Päonie und Lotos durchaus in ihrer konkreten Dinglichkeit gemeint sind, handelt es sich eben nicht nur um eine einfache Naturbeschreibung, sondern Bashô „spricht" durch die für die Pflanzen gültige Chiffre von ihrem Wesen und fängt damit etwas von dem Weltwesen ein.
 
„Als ich meine Behausung an diesen Platz verlegte, pflanzte ich mir eine einzige Bananenstaude. Wetter und Boden schienen nach dem Wunsch der Bananenstaude zu sein, sie trieb zahllose Schößlinge, üppig entfächerten sich ihre Blätter und schmälerten den Raum des Gartens, sogar die schilfbedeckte Dachtraufe blieb ganz verborgen. So gaben die Leute dem Hüftlein seinen Namen. Zusammen mit den alten Freunden und meinen Schülern mochte ich die Bananenstaude gern. Ich brach Triebe ab und trennte Wurzelstöcke Ios, schickte sie als Geschenk hierhin und dorthin, so ging es Jahr für Jahr. "
 
Im Gegensatz zu Europa, wo die Frucht der Banane Symbolträger ist, werden in Ostasien die Blätter hervorgehoben. Die Bananenstaude steht für Selbsterziehung und gehört zu den acht bzw. vierzehn Kostbarkeiten, die der Gelehrte für seine Arbeit benötigt. In Japan gewann die Bananenstaude überdies durch die Persönlichkeit und das Wirken des Dichters Bashô - die Schriftzeichen für „Bananenstaude" und die des Dichters sind identisch - besondere Bedeutung. Der Reiz dieses Haibun liegt somit auch darin, daß die „Bananenstaude" auch für Bashô selbst stehen kann. Unter sparsamer Verwendung von Worten entwirft Bashô ein Bild des Gedeihens (zahllose Schößlinge, sich üppig entfaltende Blätter), des In-Sich-Wohl-Fühlens und der Zufriedenheit; Zufriedenheit verstanden als ein In-Frieden-Sein mit sich selbst, mit der natürlichen Umwelt (Wetter und Boden schienen nach dem Wunsch der Bananenstaude zu sein) und den Mitmenschen (Freunde und Schüler brachten ihr Zuneigung entgegen). Ja noch mehr, ihre/seine Lebensfülle war so groß, daß sie/er über ihren/seinen Standort hinaus auf andere Menschen Wirkung tat (ich brach Triebe ab und trennte Wurzelstöcke Ios und verschenkte sie hierhin und dorthin). Bashô zeichnet das Bild eines erfüllten Lebens, in dem Wachstum und Reifung, Zuneigung und Liebe, Geben und Nehmen ihren ausgewogenen Platz haben. Eine solche Bananenstaude / ein solcher Mensch prägt fürwahr ihren / seinen Lebensraum und „so gaben die Leute dem Hüttlein den Namen Bananenstaudenhüttlein". Dennoch keimt in dieser „Zufriedenheit" der Aufbruch.
 
„Eines Jahres nun entschloß ich mich zu einer Wanderfahrt nach den fernen Nordprovinzen, und weil mein Bananenstaudenhüttlein schon am Verfallen war, verpflanzte ich jene Staude an einen Platz in der Nähe der Hecke. Bekannte aus der Nachbarschaft bat ich wieder und wieder, sie mit Frosthüllen und Windschutz zu versorgen. Auch ein paar flüchtig niedergeschriebene Pinselzeichen hinterließ ich zu diesem Zwecke. Einen Gedanken ,Die Kiefer, wie einsam wird sie wohl sein!' wahrte ich im Herzen auf der Reise in die weite Ferne. Der Abschied von den Bekannten, die Trennung von meiner Bananenstaude - ein Gefühl unendlicher Verlassenheit."
Der Aufbruch wird zunächst durch den Entschluß zu seiner Wanderfahrt angedeutet. Es handelt sich um die im Oku no hosomichi beschriebene Wanderfahrt, zu der er 1689 aufbrach. Ziehen wir das erste Kapitel dieses Reisetagebuches heran, so vernehmen wir seine wachsende Unruhe: „Die Gottheiten der Verführung betörten mein Herz und die Wegegötter winkten mir zu, so daß mir keine Arbeit mehr von der Hand ging. Ich flickte daher meine Hose, wechselte das Band meines Wanderhutes...(12)" Das eigentliche Motiv seines Aufbruchs - seiner Wanderfahrten überhaupt - wird klar aus den Anfangssätzen: „Sonne und Mond, Tage und Monate verweilen nur kurz als Gäste ewiger Zeiten.(13)" Diese Worte stammen aus dem ,Frühlingsnachtgelage unter Pflaumen und Pfirsichblüten' betitelten Gedicht des von ihm hoch geschätzten chinesischen Dichters Li Po (699-762):
 
Himmel und Erde - das ganze All - ist nur
ein Gästehaus,
es beherbergt alle Wesen insgesamt.
Sonne und Mond sind darin auch nur Gäste,
Laufgäste ewiger Zeiten.
Das Leben in dieser flüchtigen Welt gleicht einem Traum.
Wer weiß wie oft wir noch lachen?
Unsere Altvorderen zündeten daher
Kerzen an, um die Nacht zu preisen...(14)
 
Und Bashô fährt fort: „Und so ist es mit den Jahren auch: Sie gehen und kommen, sind stets auf Reisen. Nicht anders ergeht es den Menschen, die ihr ganzes Leben auf Booten dahinschaukeln lassen, oder jenen, die mit ihren am Zügel geführten Pferden dem Alter entgegenziehen: tagtäglich unterwegs, machen sie das Reisen zu ihrem ständigen Aufenthalt. Viele Dichter, die vor uns lebten, starben bereits auf der Wanderschaft. Meine Gedanken hören dennoch nicht auf, wohl angeregt durch den Wind, der die Wolkenfetzen jagt, um das stete Getriebenwerden zu schweifen...(15)"
Aus der vor allem in seiner Spätzeit von Zen und Taoismus geprägten Lebensanschauung Bashôs geht hervor, daß er Wandern als Symbol des Lebens auffaßt. Gemeint ist nicht das ziellose Umherwandern, sondern ein Wandern gleich den Fußwanderungen (angya) derZen-Mönche, um durch persönliches Erleben und Versenkung die Erleuchtung (satori) zu erreichen.(16)
Der Aufbruch wird aber auch durch die Worte „mein Bananenstaudenhüttlein war schon am Verfallen" angedeutet. Wie bei uns steht Haus, Hütte, Klause sowohl für geordneter, umfriedeter Bezirk und ist als solcher oft Sinnbild der kosmischen Ordnung. Das Haus wird aber auch als Symbol des menschlichen Körpers gesehen; so beispielsweise im Buddhismus in der Verbindung mit der Vorstellung, daß der Leib der Seele nur Herberge für kurze Zeit bietet. Das Haus steht ferner für die Persönlichkeitsstruktur und damit auch für die Befindlichkeit des Menschen. Das Bananenstaudenhüttlein symbolisch für Bashôs eigene Befindlichkeit? Wenn etwas brüchig oder im Verfall ist, ist es an der Zeit, diesen Zustand zu ändern, sich zu wandeln. Denn in dem ,Verfall’ keimt ein neuer Werdeprozeß. Sich diesem Werdeprozeß zu öffnen, fordert die Loslösung von Altvertrautem, sich auf zunächst Unbekanntes einzulassen, fordert Selbstbesinnung, ermöglicht aber auch neue Selbstbestimmung.
Die scheinbar so leicht hingeschriebenen Zeilen Bashôs, mit denen er seiner Sorge um die Staude Ausdruck verleiht, sind von höchst psychologischem Feingespür durchwoben. Bashô vollzieht das ,Loslassen' mit Bedacht. Beim Loslassen geht es ja nicht darum, daß man sein bisheriges Leben einfach von sich wirft. Bashô steht voll zu seinem im Augenblick befindlichen Sein. So bedeutet die Verpflanzung der Bananenstaude einerseits Obhut für dieses augenblickliche Sein, andererseits weist sie auf einen Neuanfang, neue Wurzeln zu fassen und sich zu entfalten, hin. Damit beides gewährleistet ist, bittet er „Bekannte aus der Nachbarschaft, sie mit Frosthüllen und Windschutz zu versorgen. Auch ein paar flüchtig niedergeschriebene Pinselzeilen hinterließ ich zu diesem Zwecke."
Loslassen hat immer etwas mit Abschied, mit Verlust zu tun. Das Gefühl, das uns hilft, Abschied und Verluste aufzuarbeiten, ist die Trauer. Allerdings müssen wir das Trauern zulassen. Bashô läßt es zu. Sein Aufbruch wird von dem Gedanken „die Kiefer, wie einsam wird sie wohl sein" begleitet. Hier spielt Bashô auf ein Tanka des von ihm verehrten Dichters Saigyô (1118-1190) an: Diese Klause ward / erneut mir ein einsam Heim / und geh ich nun fort, / die Kiefer, wie so einsam / und verlassen wird sie sein!
Das Zurücklassen der Bambusstaude beinhaltet zugleich, er läßt sich, sein ,bisheriges Ich' zurück. So gesehen, ist das zurückgelassene Ich einsam und verlassen, und dieses Gefühl begleitet ihn die ganze Wanderfahrt über. „Die Trennung von meiner Bananenstaude, der Abschied von den Bekannten - ein Gefühl unendlicher Verlassenheit." Dieses mit Traurigkeit verbundene ,Loslassen' kommt auch im zweiten Kapitel des Oku no hosomichi zum Ausdruck: „Es kam also der siebte Tag der letzten Dekade des Dritten Monats (nach heutigem Kalender 16. Mai 1689). Der Himmel des anbrechenden Morgens zeigte sich leicht in Dunst gehüllt, der Mond - die abnehmende Sichel - hatte an Leuchtkraft eingebüßt und der Gipfel des Fuji gab sich dem Auge nur vage zu erkennen. Meine Freunde, die sich am Vorabend versammelt hatten, gaben mir zu Schiff das Abschiedsgeleit. An einem Ort namens Senju gingen wir von Bord. Meine Kehle schnürte sich zu, als ich plötzlich an die bevorstehenden 3000 ,Meilen' denken mußte. Ich stand an der Wegkreuzung der Traum-Illusionen und vergoß Tränen des Abschieds:
 
 
Der Frühling scheidet:
Die Vögel weinen - selbst den Fischen
kommen die Tränen...
„... Alle standen sie da- einer neben dem anderen - mitten auf dem Weg.
Sie werden uns nachgeschaut haben, bis selbst die Umrisse unserer Gestalten
in der Ferne verschwunden waren.(17)"
 
Hier wird von Bashô der Aufbruch in eine ungewisse Zukunft poetisch einfühlsam erfaßt: Der Morgen (der Aufbruch) zeigt sich in Dunst gehüllt! Die abnehmende Mondsichel hat an Leuchtkraft eingebüßt! Der Fuji gab sich nur vage zu erkennen! Meine Kehle schnürte sich zu! Wegkreuzung der Traumillusionen! Tränen des Abschieds! Selbst Vögeln und Fischen kommen die Tränen! Dombrady interpretiert treffend: „Die Tränen der Vögel und Fische sind Bashôs eigene Tränen! Der Dichter kann es sich nicht vorstellen, daß die Natur (die Vögel stehen symbolisch für alles ,oben` und die Fische für alles ,unten`) nicht mittrauert. Bashôs Abschiedsschmerz und der seiner Freunde vereinigen sich so mit der Trauer der gesamten Natur, die-wie Bashô selbst - gleichzeitig auch vom Frühling Abschied nehmen muß.(18)"
 
„So verbrachte ich schließlich dreier Jahre Frühlinge und Herbste und mit Tränen in den Augen habe ich jetzt meine Bananenstaude wieder. In diesem Jahr, um die Mitte des fünften Monats, wenn der Duft der Tachibana-Blüten(19)" nicht mehr gar so fern ist, da sind die Beziehungen zu den Freunden wie in alten Zeiten unverändert."
 
Bashô kehrte im Winter des Jahres 1691 nach Edo zurück. Mit einem einzigen Satz zieht Bashô den genialen Bogen vom Aufbruch (Abschiedstränen) zur Heimkehr (Freudentränen). Zugleich ist die Erfahrung enthalten, daß Wandel nicht Entfremdung von sich selbst, sondern Neuentdeckung bedeutet. Auch jene bei seinem Aufbruch angedeutete Angst vor dem Ungewissen, vor dem Verlust geliebter Menschen erweist sich nun als unbegründet. Der ,alte’ Wohnort ist ihm willkommen, sich ,erneut' hier niederzulassen. Denn das Haibun fährt fort:
 
„Ich kann nun einfach diese Umgebung nicht verlassen und ganz in der Nähe meiner alten Klause errichte ich ein gemäßes schilfgedecktes Hüttlein von drei Klaftern. Nach Süden lasse ich eine Veranda über dem Wasser anbringen. Der Platz liegt dem Fuji gegenüber und die reisiggeflochtene Pforte ist, den Blick auf die Landschaft betonend, schräg gearbeitet. Die Flut von Che-chiang, sie füllt die Tiefen von Mitsumata, und weil der Ort sehr geeignet ist, den vollen Mond zu bewundern, so bin ich schon von der Nacht des ersten Mondes an in Sorge um Wolken und in Angst wegen eines Regens. Als Zier für die Vollmondnacht pflanze ich zuallererst meine Bananenstaude um. Ihre Blätter sind breit, einem Koto-Überzug gleichen sie. Oder vom Wind halb abgeknickt, lassen sie mich mit Traurigkeit an den Schweif des Phönix denken. Ein grüner Fächer, ganz zerschlissen, stimmen sie mich beim Wehen des Windes wehmütig. Ab und zu treibt sie wohl auch eine Blüte, aber ganz unaufdringlich ist diese. Ihre Triebe sind mächtig, doch keine Axt kommt ihnen zu nahe. Sie gleicht der Art jenes nutzlosen Baumes auf dem Berge, ihre Natur ist unübertrefflich. Der Mönch Huai Su hätte über diese ihre Blätter seinen Pinsel gleiten lassen, Chang Heng-ch'ü hätte, ihre frischgetriebenen Blätter sehend, sie zum Kraftquell seiner Studien gemacht. Ich aber, ich folge diesen beiden nicht. Ich ergötze mich nur in ihrem Schatten und liebe ihre leichte Zerbrechlichkeit bei Wind und Regen."
 
Das stroh- oder schilfgedeckte Dach einer Einsiedelei versinnbildlicht in der japanischen Dichtung ein Leben in Zurückgezogenheit und einen bescheidenen Zufluchtsort für das vergängliche Leben. Die naturbelassenen Materialien sind Ausdruck für Bescheidenheit und Armut, entsprechen aber auch dem ästhetischen Empfinden einer bestimmten Schicht der damaligen Zeit. Das Naturbelassene fügt sich nicht nur harmonisch in die umgebende Natur ein, sondern Vereinfachung und Schlichtheit wurde als künstlerische Steigerung und geistige Vertiefung gesehen. Die Armut und Schlichtheit, die der Zen-Buddhismus wie viele andere Religionen preist, müssen daher nicht nur als materielle, sondern auch als eine ,Armut' des Geistes im zenbuddhistischen Sinn von ’den Geist frei von Gedanken und Begriffen machen' (munen, mushin) verstanden werden. Die ’Flut von Che-chiang' ist eine Anspielung auf die chinesische Provinz Che chiang, wo der Fluß Ch'ein-t'ang-chiang in die gleichnamige Bucht fließt und bei Flut einen herrlichen Anblick bietet. Die ’Tiefen von Mitsumata’ ist eine Anspielung auf den Unterlauf des Sumida-Flusses in Edo (Tôkyô), in den der Onagi-Fluß mündet. Mit der Andeutung, daß dieser Unterlauf des Sumida-Flusses mit der Flut von Che-chiang aufgefüllt ist, ruft Bashô ein besonders ansprechendes Naturbild - tiefes Wasser und Herbstmond - beim Leser hervor.
Nach ostasiatischer Auffassung ist der Mond im Herbst am schönsten, nämlich der hell leuchtende große Herbstvollmond am klaren Himmel, genau am 15. Tag des achten Monats nach dem Mondkalender (Mitte September). Es handelt sich also um ein feststehendes Bild, mit dem jeder Japaner etwas anzufangen weiß. Der Mond spielt aber auch in der ostasiatischen Philosophie eine Rolle. Der Vollmond ist beispielsweise im Zen ein Symbol für die Wahrheit. Bashôs In-Sorge-Sein von der Nacht des ersten Mondes an (gemeint ist shogetsu, die schmale Sichel des zunehmenden Mondes vom 3.Tag an) bis hin zur Vollmondnacht greift also nicht nur jenes feststehende Bild von der Herbst-Mond-Schau, für die man klares Wetter erhofft, auf, sondern steht auch in Zusammenhang mit dem In-Sorge-Sein um die ‘Schau der letzten Erkenntnis’ (satori).
Den Höhepunkt des Haibun bildet die Beschreibung seiner Bananenstaude, die auch die Sicht seiner selbst ist. „Ihre Blätter sind breit, einem Koto-Überzug gleichen sie ... Ihre Triebe sind mächtig." Aber nicht nur das Üppige, Raumeinnehmende wird geschildert, sondern „Blätter sind auch abgeknickt, zerschlissen" und erinnern Bashô „mit Traurigkeit an den Schweif des Phönix, ein grüner Fächer, ganz zerschlissen, stimmen die Blätter mich beim Wehen des Windes wehmütig." Der ostasiatische Phönix ist mythologischen Ursprungs, hat aber keine Gemeinsamkeiten mit dem Mythos des europäischen. Er gehört zusammen mit dem Drachen, dem Einhorn und der Schildkröte zu den Führern der Tierarten, wobei er den Führer der Federtiere darstellt. Er ist ein glückverheißendes Symbol. Auffallend an ihm ist u.a. sein langer Schweif. In der ostasiatischen Kunst ist dieser Fabelvogel häufig als Motiv in der Malerei oder als dekorative Ausschmückung von Räumen zu finden. So verdankt die berühmte Hôôdô (‘Phönixhalle’ des Byôdô-Tempels in Uji bei Kyôto) ihren Namen ihrem Grundriß, der die Form eines auffliegenden Phönix nachahmt, und den Bronzephönixen auf den Firstenden. Beide Bilder, Phönixschweif und zerschlissener Fächer, versinnbildlichen die Verletzungen, die das Leben zufügt.
Bashô läßt die Staude/sich selbst wachsen: „Keine Axt kommt den mächtigen Trieben zu nahe", er duldet keine künstliche Verformung des Natürlichen, er akzeptiert sie/sich in ihrem/seinem Sosein. Dieses ‘Sosein’ wird im nachfolgenden Satz „sie gleicht der Art jenes nutzlosen Baumes auf dem Berge, ihre Natur ist unübertrefflich" näher bestimmt. Mit diesen Worten spielt Bashô auf Chuang-tzu(20) (Buch 1, Kap. 5) an. Das Kapitel gibt ein Gespräch zwischen Chuang Chou und dem Logiker Hui Shih (ca. 300 - 250) wieder, das in humorvoller Weise zeigt, wie ‘große Gelehrtenworte’ für den Alltag nichts taugen. Es geht um einen Menschen, der sich von allem Irdischen befreite und in dieser gewonnenen Freiheit die große Ruhe im taoistischen Sinn fand. „Hui Shih redete zu Chuang Chou und sprach: ’Ich habe einen großen Baum. Die Leute nennen ihn Götterbaum. Der hat einen Stamm so knorrig und verwachsen, daß man ihn nicht nach der Richtschnur zersägen kann. Seine Zweige sind so krumm und gewunden, daß man sie nicht nach Zirkel und Winkelmaß verarbeiten kann. Da steht er am Weg, aber kein Zimmermann sieht ihn an. So sind Eure Worte, o Herr, groß und unbrauchbar, und alle wenden sich einmütig von ihnen ab.’ Chuang Chou sprach: ‘...Nun habt Ihr so einen großen Baum und bedauert, daß er zu nichts nütze ist. Warum pflanzt ihr ihn nicht auf eine öde Heide oder auf ein weites leeres Feld? Da könntet Ihr untätig in seiner Nähe umherstreifen und in Muße unter seinen Zweigen schlafen. Nicht Beil noch Axt bereitet ihm ein vorzeitiges Ende, und niemand kann ihm schaden. Daß etwas keinen Nutzen hat: was braucht man sich darüber zu bekümmern!’(21)"
Hier verbindet Bashô mit der Bananenstaude/sich selbst das taoistische Ideal des ‘Wandern in Muße’, des abgeklärten heiteren Lebensstils. In einem Brief an seinen Schüler Hirose Izen (1652-1711) erläutert Bashô jenes ‘Wandern in Muße’ als ‘zielloses Wandern’ (shôyô) näher: „Für den Weg gibt es die beiden Schriftzeichen ‘Zielloses Wandern’, was nichts anderes bedeutet, als im Herzen sich im Spiel an den Himmel verlieren und an der Welt erfreuen. Am Himmel leuchtet durch den Weg der Mond in strahlender Helle, auf der Erde blühen durch ihn die Blumen. Und Vögel und Fische, auch sie verlieren sich tummelnd im Spiel. Sommerfäden treiben im Winde dahin, das Rind, das am Gras seinen Hunger gestillt hat, ruht gesättigt aus. Eine Fliege möchte auf seinem Schwanz spielen, da will der Hirt des Rindes sie zur Ruhe kommen lassen und erschlagen. Daß sie plötzlich geschlagen wird und dadurch Kummer erleidet, das trifft den Sinn des Spieles ... Bei allem kommt zuerst das Spiel, dann folgt das Leid. Wer würde beim Sich-Verlieren im Spiel nicht Leid empfinden! Wen gibt es wohl in der Welt, der ohne Leid zu empfinden sich im Spiel verliert!(22)" Sich im Spiel verlieren, sich ganz dem Wandel der Natur hingeben, um durch intuitives Erfassen des Alls eins zu werden mit den Dingen des Alls, ohne jedoch mit ihnen identisch zu sein, diese taoistische Haltung greift Bashô nochmals auf: „Sollten nicht die Menschen der heutigen Zeit, auf das Nichtsein des Weisen Chuang Chou blickend, sich im Spiel verlieren?" Bashô spielt hier auf den ‘Schmetterlingstraum’ des Chuang Chou an, wo der taoistische Gedanke der All-Einheitslehre, in der Sein und Nichtsein, Leben und Tod aller Wesen nichtig sind, veranschaulicht wird: „Einst träumte Chuang Chou, daß er ein Schmetterling sei, ein flatternder Schmetterling, der sich wohl und glücklich fühlte und nichts wußte von Chuang Chou. Plötzlich wachte er auf: da war er wieder wirklich und wahrhaftig Chuang Chou. Nun weiß ich nicht, ob Chuang Chou geträumt hat, daß er ein Schmetterling sei, oder ob der Schmetterling geträumt hat, daß er Chuang Chou sei, obwohl zwischen dem Chuang Chou und dem Schmetterling sicher ein Unterschied ist. So ist es mit der Wandlung der Dinge.(23)"
Bashô verdeutlicht dieses ‘Sich-im-Spiel-Verlieren’ noch durch die Worte „der Mönch Huai Su hätte über diese ihre Blätter seinen Pinsel gleiten lassen, Chang Heng-ch'ü hätte, ihre frischgetriebenen Blätter sehend, sie zum Kraftquell seiner Studien gemacht". Auch hier ist die Nennung der beiden Persönlichkeiten keinesfalls zufällig, sondern sinntragend. Der chinesische Kalligraph Huai Su (7. Jh.) war zu arm, um sich Papier zum Schreiben zu kaufen und verwendete deshalb die Blätter der Bananenstaude als Schreibmaterial. Dem Gelehrten und Dichter Chang Heng-ch'ü (Chang Tsai, 1020 - 1077) war die Kraft der Bananenstaude, die stets neue Triebe hervorbringt, ein Vorbild für seine eigene wissenschaftliche Arbeit. Während der Kalligraph und der Dichter-Gelehrte sich noch der Bananenstaude ‘bedienen’, diese für sie noch ein Mittel zum Zweck ist, hat sich Bashô von dieser Haltung frei gemacht. Der Dichter Bashô, ganz geläuterte ‘Natur’, läßt nunmehr selbst Kunst und Wissenschaft außer acht: „Ich aber, ich folge diesen beiden nicht." Er verliert sich im ‘Spiel’ an der Bananenstaude/sich selbst und erfreut sich einfach an ihrem Schatten und liebt ihre leichte Zerbrechlichkeit bei Wind und Regen. -Dieser Schluß, der ganz im Sinne eines Bashô-Haibun kein Schluß ist, ‘atmet’ im wahrsten Sinne ‘Nachhall’ (yoin).
In Heft Nr. 41 und 42 habe ich ein Haibun von Matsuo Bashô vorgestellt. In diesem Beitrag wende ich mich einem Haibun von Kobayashi Issa (1763-1827) zu. Neben Bashô dürfte Issa bei den deutschen Haiku-DichterInnen am bekanntesten sein, denn viele seiner Gedichte wurden ins Deutsche übersetzt. Issa verfaßte aber auch mehrere Tagebücher, in denen Lyrik und Prosa abwechseln. Unter diesen fand das „Chichi no shûen nikki" (Tagebuch /nikki/ am Sterbebett /shûen/ meines Vaters /chichi/, verf. 1801), in dem Issa die letzten Lebenstage seines Vaters in sehr realistischer Weise schildert, große Beachtung(24). Das „Ora ga haru(25)" (Mein /ora/ Frühling /haru/, verf. 1820) ist Issas bedeutendstes Prosawerk. Die darin enthaltenen Haibun gelten als Meisterstücke seiner Prosa. Da der Titel gleichbedeutend für Frühlings- und Jahresanfang steht, wird er auch mit „Mein Frühlingsneujahr" übersetzt. Der Titel ist etwas irreführend, weil das Werk nicht nur das Neujahr, sondern das Geschehen des ganzen Jahres von Neujahr 1819 bis zum letzten Tag des zwölften Monats zum Inhalt hat.
Der formale Aufbau des „Ora ga haru": In dem aus achtzehn Kapiteln bestehenden Werk sind achtzehn Haibun unterschiedlicher Länge zusammengefaßt. Jedes Kapitel besteht aus einem Prosatext, der mit einem thematisch von diesem bestimmten Haikai ausklingt. Diesem folgen weitere Haikai und auch Haikaika (31 silbige Haikai-Verse(26)), die teilweise von Issa selbst, teilweise von anderen Dichtern aus Bashôs Zeit oder von Schülern und Zeitgenossen Issas stammen. Sie sind also nicht unbedingt zum Zeitpunkt der Niederschrift des jeweiligen Haibun verfaßt worden. Die Gedichte sind gekonnt ausgewählt und vertiefen das jeweils behandelte Haibun-Motiv.
Die Themen der achtzehn Haibun sind: Die Neujahrszeremonie / Tod des Priestersohnes / Sphärenmusik / Abgebrochene Wanderschaft / Päonien / Froschgeschichten / Schlangenrache / Mißhandelte Kastanien / Stiefkind Issa / Der Kinder-Schutzgott / Satojo / Mutterliebe / Satojos Tod / Liebe zum Kind / Die Heimat / Der glückliche Kastanienbaum / Geschenkklöße / Amidas Gnade(27). Obwohl das Werk aus achtzehn Haibun besteht, weist es trotzdem eine Geschlossenheit auf:
1. Einmal wird sie durch die Anordnung der Haibun, die nach dem Ablauf der vier Jahreszeiten erfolgt, gewährleistet: Haibun 1bis3 gehören in den Frühling, Haibun 4 bis 13 in den Sommer, 14 bis 18 in den Herbst und Winter.
2. Die Geschlossenheit zeigt sich ferner in der von Issa bewußt vorgenommenen gedanklichen Einrahmung durch den Inhalt im ersten und letzten Haibun. Sie verdeutlicht Issas Verwurzelung im Jôdo-Buddhismus, einer bestimmten Strömung des Mahâyâna, und sein unerschütterliches Vertrauen auf Amida-Buddha - ein Leitgedanke, der auch in den übrigen Haibun immer wieder aufscheint. Dieser Artikel soll bewußt nicht mit den verschiedenen Ausprägungen des Buddhismus -sie bilden eine sehr wesentliche Komponente in der japanischen Haikai-Literatur - befrachtet werden. In meiner späteren zusammenfassenden Betrachtung werde ich darauf näher eingehen. Im Haibun 1 lesen wir:
„Das Leben in dieser Welt bedeutet für jedermann ein Obermaß anLeiden ... ."Oder: „Im Sommer des Vorjahres, zur Zeit des Bambuspflanzens, ist unser Töchterchen in diese flüchtige Welt hineingeboren worden - eine Welt reicher an Kummer als Knoten an Bambusstämmen" (Haibun 11).
Issa nimmt hier Bezug auf die buddhistische Grundauffassung, daß alles Leben Leid ist, solange der Mensch den ‘Illusionen’ des irdischen Daseins verhaftet ist -
„... Von unseren Lebensumständen bestimmt, durchwandern wir den irdischen Staub dieser Welt und unsere Neujahrsfestbräuche sind entsprechend gemein: mit Kranich und Schildkröte, Symbolen der Langlebigkeit, oder mit nachgeplapperten Sprüchen der Unglücksaustreiber erschöpfen sie sich schon ...! Leer und verlogen ist das alles! Deshalb habe ich ... in diesem Jahr absichtlich keinen Kiefernschmuck aufgestellt und keinen Hausputz vorgenommen. Ich begrüße das Neujahr und den Frühling hier an den Krümmungen dieses verschneiten, unwegsamen Bergpfades einfach im Vertrauen auf die Gnade des Erhabenen Buddha ... " (Haibun 1).
Auch die Vergänglichkeit aller Dinge spricht Issa mehrfach an:
„... Alle Pflanzenwesen - wie Huflattich und Löwenzahn - warten lange Tage und Monate beharrlich unter dem Schnee, um allmählich, wenn die frühlingslinden Lüfte wehen, an den freigeschmolzenen Stellen ihre Sprossenköpfchen fröhlich in die Höhe zu recken. Kaum aber, daß sie das Sonnenlicht dieser Welt erblickt haben, werden sie unversehens der Gefahr ausgesetzt, abgerupft zu werden ... Es heißt doch:’Gräser, Bäume, Erde und Gestein - alle Wesen ausnahmslos - besitzen die Möglichkeit, die Buddhaschaft zu erlangen! Die Buddha-Natur ist in allem’."
(Haibun 2) Oder:
„Die Nacht verdämmerte in den weißlich schimmernden Morgen hinein, als - plötzlich! - vom Pflaumenbaum vor dem Fenster her jener einmalige Ruf der chinesischen Nachtigall ertönte, des Vogels, der die Lotos-Sutra liest: / Sie tönt aus unserer Welt, /die Weise, die der Vogel(28) singt: /,Lo-tos-Su-tra!`l" (Haibun 3).
Als echter Haijin begab sich auch Issa wiederholt auf ‘Wanderungen' (angya(29)). So schreibt er im Haibun 4:
„Fest entschlossen, dieses Jahr auf den Pfaden des Hinterlandes(30) zu einer <Asketen-Wanderung> aufzubrechen, hängte ich meinen Bettlerbeutel um und schulterte mein Bündel - doch nur mein Schatten sah der Mönchsgestalt des Meisters Saigyô(31) ähnlich ... Nicht weiter als zwei, drei Meilen war ich gewandert, gedankenverloren mit meinem Wanderstab weglängs stakend. Mir wurde einiges klar: Kurz davor, den steilen Pfad der Sechziger zu erklimmen, steht der Lebensmond meines irdischen Daseins nun bereits schon über den Westbergen(32), zum Untergehen geneigt... " Im Haibun 18: „Stellt man nun die Frage, wie man den rechten Weg findet und wie dieser mit unserer (Shinshû-) Religion zu vereinbaren sei - so ist meine Antwort einfach: Hier bestehen keine Gründe, Schwierigkeiten zu sehen ... Denn <Erlösung-aus-eigener-Kraft> oder <Erlösung-durch-des—Anderen-Gnade>(33) oder wer weiß was für ein sonst noch genannter Gedankenschutt: alles wird am Ende der Zeiten doch unaufhaltsam in das ferne Chikura-Meer der Sagen geschwemmt. Vielmehr kommt es auf jenes einzige einschneidende Ereignis an - auf die Hinübergeburt! Ihrer eingedenk, werfe man sich vor das verehrungswürdige Antlitz des erhabenen Amida-Buddha und überlasse gänzlich seiner Entscheidung, ob es einst Hölle heißen wird oder Paradies, und sage: <Herr, ganz nach Eurem gnädigen Ermessen möge es geschehen!> Das ist die einzige richtige Einstellung ... Dies würde ich im Sinne meiner Religion als den wahren, tiefinnersten Seelenfrieden betrachten ... "
3. Schließlich offenbart sich die Geschlossenheit auch in den Leitthemen der achtzehn Haibun. Die Höhen und Tiefen seines Lebens, die von seiner instabilen Gesundheit, von seiner materiellen Not und seinen zahlreichen Schicksalsschlägen in Zusammenhang standen, werden gleichsam in ihnen fokussiert. Als Sohn eines Bauern geboren, verlor er bereits mit drei Jahren seine Mutter und wurde zunächst von seiner verwitweten Großmutter aufgezogen. Nach der Wiederverheiratung seines Vaters erlitt er ab seinem zehnten Lebensjahr ein Stiefkinddasein. Deshalb verließ er fünfzehnjährig seinen geliebten Heimatort Kawashibara (Präfektur Nagano) und begab sich nach Edo (Tôkyô). Mit 39 Jahren verlor Issa seinen Vater, der ihm zwar einen Teil seines Vermögens hinterließ, aber er konnte diesen aufgrund von Erbstreitigkeiten erst einundfünfzigjährig in Anspruch nehmen. Seine erste Frau verlor er nach neun Ehejahren, seine drei Söhne und seine Tochter Sato starben bereits frühzeitig. Seine zweite Ehe scheiterte. Zwei Jahre vor seinem Tod verheiratete er sich ein drittes Mal, erlebte jedoch die Geburt seiner Tochter nicht mehr. Ohne das Wissen um den glücklosen Verlauf seines Lebens ist Issas Dichtung nicht zu verstehen. Denn in seiner Dichtung greift er immer wieder in der ihm eigenen Art die Themen der Liebe zur bäuerlichen Heimat, von der er allzu früh Abschied nehmen mußte, der Naturverbundenheit, des Mitgefühls für die Schwachen und Unglücklichen, der Liebe zu den Kindern und zu den Tieren und des Stiefkinddaseins auf. So vergleicht Issa in anrührender Weise sein Lebensschicksal mit drei Kastanien, die er in eine Ecke seines Gartens eingrub und die sich prächtig entwickelten. Durch den Bau eines Nachbarhauses bekamen sie jedoch nicht mehr genug Licht und Feuchtigkeit und in den in seiner Heimat ohnehin strengen, schneereichen Wintern rutschte der Schnee nun zusätzlich auch noch von den Hausdächern und verschüttete die Kastanien. Nach der Schneeschmelze sah Issa, daß die Triebe abgebrochen waren. Aus den alten Wurzeln schossen zwar neue hervor, aber weil sich Winter für Winter dasselbe Schneedrama wiederholte,
„... scheint ihre schicksalhafte Verknüpfung mit der hiesigen Welt weiter anzuhalten, und so müssen sie, ohne endgültig eingehen zu können und nicht größer als einen Fuß hoch, ihr Dasein auch fürderhin fristen. Mir als Erstgeborenem scheint es nicht anders zu gehen. Mein Lebensbereich wurde durch den Nächstgeborenen eingeschränkt, meine Lebenszweige durch den stiefmütterlichen Hexenberg und die von dort herabbrausenden Stürme immer wieder abgeknickt, und es gab kaum einen Tag, an dem meine sprießenden Knospen und Triebe sich in eine heitere Welt hätten hineinwachsen sehen. In diesem Zustand bin ich siebenundfünfzig Jahre alt geworden, und es ist ein Wunder, daß mein Lebensfaden - tauperlengleich vergänglich - noch nicht abgerissen ist ... /Nelkenblüte - Streichelkind (34)!/ Unter dem Stiefmutterbesen führst du / ein Schattendasein ... "/ (Haibun 8).
 
Im Haibun 11 und 13 berichtet Issa voller Hingebung über sein Töchterchen Sato:
 
„Wir gaben ihr den Namen Sato, die <Tüchtige>, mit dem frommen Wunsch, alles Einfältige in ihr möge sich einmal zur Tüchtigkeit entwickeln. Seit ihrem ersten Lebensjahr macht sie auch tatsächlich alles nach, was man ihr zeigt und vorspricht, Kopf- und Handbewegungen, kindliche Sprüche: <Klatsch mal, klatsch mal, Händchen - ha, ha, ha! Patsch mal, patsch mal Stirnchen! Schüttle mal, schüttle das Köpfchen!> Um ein Windrad, wie andere Kinder es haben, quengelt sie auch schon. Ich schenke ihr eins: Sie nimmt es gleich in ihren gierigen Mund, lutscht daran herum und wirft es dann fort. Ein unschuldiges Tautröpfchen ist sie, das keineswegs an den Dingen hängt: Ihr Herz richtet sich unvermittelt auf die Erscheinungen der Außenwelt. Eben hat sie noch die Teeschale in ihrer greifbaren Nähe zerbrochen, wird ihr das auch wieder über, und sie reißt - ritsch-ratsch - das dünne Papier der Schiebetür ein. Im Scherz sage ich zu ihr: <Das hast du aber fein gemacht!>, und sie hält das beileibe für ein großes Lob, das ihr ein hell aufklingendes Lachen entlockt... In der Tiefe ihres Herzens haftet kein Körnchen Staub dieser Welt: klar und rein ist es wie der in seiner vollen Pracht strahlende Mond ... Ich halte sie noch für viel anmutiger als alle Schmetterlinge der Welt mit ihrem Gaukelspiel überjungen Frühlingsgräsern... "
Im Haibun 13 folgt dann die Schilderung von Issas tiefer Trauer über den frühen Tod seines geliebten Töchterchens:
„Auf übergroße Freude folgt Leid, so ist nun einmal der Lauf dieser vergänglichen Welt... Wir aber hatten von den Freuden noch lange nicht die Hälfte ausgekostet, und schon wurde unser <Grünkindchen> - so jung und grün wie die winzigen Triebe der tausendjährigen Kiefer - von der Pockengottheit ungestüm befallen, noch ehe sein Lachen richtig aufgeblüht war... Unsere Kleine wurde gleichwohl zusehends schwächer, und von einem Tag zum anderen schwand jegliche Hoffnung dahin. - Schließlich am 21. Tag des 4. Monats, schied sie aus dieser Welt, zur gleichen Stunde mit dem Verblühen der Windenblüte jenes Tages... Schwere Stunden wie diese zu erleben, schien uns nun einmal auferlegt worden zu sein - das wußte ich wohl und versuchte, mich gefaßt und schicksalsergeben zu zeigen. Ich kramte jene klugen Sprüche über sinnloses Klagen hervor: <Verflossenes - wie Wasser - kehrt nie mehr wieder > und <Die abgefallene Blüte fliegt nie mehr zum Zweig zurück >. Was es mir so ungeheuerlich schwer machte, mich ins Unvermeidliche zu fügen ... ? Die Fesseln der Liebe - der Liebe zu meinem Kind... / Unsere Welt ist/ flüchtig wie Tau - mag sein - / Und dennoch ... und dennoch ... !"/ -
Diese Textstellen mögen als Belege genügen.
Issa war äußerst belesen und literarischen Einflüssen und Stilen gegenüber aufgeschlossen - seine großen Vorbilder waren vor allem der Dichter-Mönch Saigyô und natürlich Bashô -, in seiner Kultur und im Buddhismus war er bestens bewandert. Nicht nur im „Ora ga haru", sondern in seinem gesamten literarischen Schaffen finden sich Anspielungen auf Fabeln, Sagen und Legenden (z.B. die Haibun 3: Sphärenmusik; 6: Froschgeschichten; Haibun 7: Schlangenrache), findet sich die Verwendung von Sprichwörtern und Zitaten, das Aufgreifen von Gedichtthemen früherer oder zeitgenössischer Tanka- und Haikai-Dichter, onomatopoetische Wendungen, reiche Symbolik usw. Angesichts dieser Tatsachen ist kaum zu glauben, daß Issa von so manchen Kritikern als einfältig-sentimental abgewertet wird.
Der Issa-Kenner Dombrady bezeichnet das „Ora ga haru" als eines der ergreifendsten Haibun in der japanischen Haibun-Literatur überhaupt. Tatsächlich kommt in Issas Dichtung die Verwobenheit von Dichtung und eigenem Lebensschicksal besonders deutlich zum Ausdruck. Trotzdem handelt es sich nicht um einen in schöne Worte gekleideten Seelenerguß. Selbst die Darstellung seiner persönlichsten Gefühle ist niemals eine weinerliche Herzausschüttung. Issa spricht zu uns spontan, mit unverstellter Stimme. Hierin liegt gewiß der Grund, daß Issa so viele Leser in Japan und im Ausland auch heute noch begeistert. Ein besonderes Kennzeichen Issas ist jedoch sein ihn niemals verlassender feiner Humor, der beispielsweise trefflich im Haibun 5 (Päonien) zur Geltung kommt. Hierin erzählt er von den unvergleichlich schönen Blütenköpfen der Päonien - weiße, purpurviolette, gelbe, schwarze - im Garten seines Freundes Nabuchi. Während ihrer Blütezeit pilgerten viele Schaulustige zu diesem Ort. So auch Issa. Nachdem sich seine erste Verblüffung ob dieser Farbenpracht gelegt hatte und er die Päonien näher betrachtete, bemerkte er, daß sein Freund sich einen Jux erlaubt hatte. Denn unter den Blättern echter Päonien hatte er solche aus Papier angebracht, um die Menschen zu narren. Sein Freund freute sich einfach darüber, den herbeiströmenden Gästen Reiswein und Tee zu spendieren. - Bei Issa ist das Heitere, Komische und Witzige niemals oberflächlich oder gar unseriös. Sein Humor offenbart einen tiefen Sinn, ein Stück menschliche Weisheit.
Zunächst können wir festhalten, daß auch für Issas Haikai-Prosa die oben für ein Haibun genannten Kriterien(35) zutreffen: Kein vom Verstand her konstruiertes Machwerk, eine geschlossene Gesamtkonzeption und dennoch nicht abschließend, prägnanter, schlichter Stil, der zum Teil mit Dialektwörtern durchsetzt ist, Umsetzung kunsttheoretischer Forderungen. Aber nach der Lektüre der Haibun von Bashô und des „Ora ga haru" von Issa werden Sie bemerken, daß es innerhalb der Haibun-Literatur viele Varianten der Gestaltung gibt. Deshalb kann man von d e m Haikai oder d e m Haibun nur sprechen, wenn man damit die Literaturgattung im allgemeinen meint. Jede Dichtung ist eine Gestaltung aus der jeweiligen Zeit heraus. Damit ist sie einem steten Wandel unterworfen. Der persönliche Werdegang eines Dichters, seine Lebenseinstellung, seine ihm eigene Befähigung, im Alltäglichen das Einmalige zu sehen, seine Ausdrucksformen usw., all dies verleiht der Dichtung die besonderen Akzente, macht sie lebendig und vielgestaltig. Dies trifft auch für die japanische Haikai-Literatur zu. Sie dämmerte nicht, wie so mancher glaubt, rückwärtsgewandt durch die Jahrhunderte vor sich hin, sie ist keinesfalls steril, sondern erweist sich bis in unsere Tage als wandlungsfähig. Daher liegen in ihr unerschöpfliche Möglichkeiten, die nur erkannt werden müssen. Dies kommt dem Kunstgenuß zugute und dient auch der Vervollkommnung der eigenen dichterischen Ausformung.
Für diese Fortsetzungsfolge genügt es erst einmal, wenn es mir gelungen ist, Sie auf die Lektüre des „Ora ga haru" neugierig gemacht zu haben und ich Sie dazu anregen konnte, selbst auf Entdeckungsreise zu gehen und für sich allein schon einmal einen Vergleich zwischen den Haibun von Bashô und Issa vorzunehmen.
Ein Vergleich zwischen Bashô und Issa zeigt, von wie unterschiedlichen Standpunkten man sich dem Haibun nähern und es gestalten kann. Ihre Schaffenszeit - auch die des nachfolgend noch abzuhandelnden Yukio Yayû (1702-1783) - fiel in das 17. und 18., das Spätwerk des Issa sogar in das frühe 19. Jahrhundert. In der japanischen Geschichte wird diese Epoche als das Zeitalter des Kriegeradels - er stellte die neuen Machthaber - und des Bürgertums charakterisiert. Aufgrund der während dieser Zeit einsetzenden Urbanisierung - die großen Städte Osaka, Kyôto und Edo (das heutige Tôkyô) entwickelten sich zu Zentren der kulturellen Blüte - wuchs ein neues Bürgertum mit neuen Lebensvorstellungen heran. Konfuzianismus, Buddhismus und Shintôismus prägten zwar das gesellschaftliche und religiöse Wertebild dieser Zeit, aber die Interessen des neuen Bürgerstandes, der sich aus den chônin, den Kaufleuten und Handwerkern, zusammensetzte, gingen in eine andere Richtung. Sie liebten das Diesseits mit all seinen Höhen und Tiefen, seinen Sitten, seiner Erotik, seinem Streben nach Wohlstand und Erfolg. Sie sehnten sich nach einer echten urbanen Volkskultur, die ihr Leben widerspiegelte. Auch im literarischen Bereich verlangten sie allgemein verständliche, aus ihrem Leben gegriffene Stoffe. Viele Literaten der damaligen Zeit entsprachen diesem Zeitgeist, ja mussten ihm entsprechen, weil sich ihre Leserschaft hauptsächlich aus den neuen Bürgern zusammensetzte. Und so entwickelte sich u.a. auch eine auf diesen Stand zugeschnittene populäre Erzählprosa, in der das unterhaltende Moment im Mittelpunkt stand. Sie umfasste realistische Sittenschilderungen, Liebesgeschichten und erotische Literatur, Scherzgeschichten, Histörchen und anderes mehr.
Das Anliegen von Bashô, Issa und Yayû war nicht die Darstellung der ‘vulgären' Lebenswelt der Städter in ihren Haibun. Sie verfolgten ein anderes Ziel. Natürlich wollten auch sie ihre Zeitgenossen erreichen und bezogen ihre Themen ebenfalls aus dem Alltäglichen, wandten sich Grundthemen des menschlichen Lebens zu: Der Mensch im Kreislauf von Geburt und Tod, der Mensch mit seinen Hoffnungen, seinem Streben, seinen Niederlagen, seinen Freuden und Leiden, der Mensch in seinem Verhältnis zu der Natur, zu seinen Mitmenschen. Weil die drei Dichter ein jeweils anderes Milieu, das ihre Lebensweise und Lebensanschauung prägte, umgab, wurde dieses ‘Alltägliche' von ihnen unterschiedlich empfunden, sprachlich auch unterschiedlich gestaltet und erschien somit in einem jeweils anderen Licht.
Bashô, der wahrscheinlich dem Schwertadel angehörte, stand zunächst in Diensten eines lokalen Samurai, siedelte aber im Jahr 1672 nach Edo (Tôkyô) über, um sich ganz seiner dichterischen Laufbahn zu widmen. Bereits zu Lebzeiten war Bashô als Dichter und Lehrer großer Erfolg beschieden. Er musste nicht in Armut leben, da er Gönner hatte, die ihn unterstützten, und auf seinen Reisen war er bei ortsansässigen Dichtern oder bei wohlhabenden, seiner Dichtung aufgeschlossenen Familien ein gern gesehener Gast. Bashô zog sich aus dem Samurai- und Bürger-Milieu bewusst zurück. Diese Distanzierung hatte vor allem künstlerische Gründe: Es war Bashôs ausdrücklicher Wunsch, ein Leben für die Kunst zu leben. In seinem Werk finden wir weder ein Engagement für die Vorstellungen und Werte der Samurai noch für die des Bürgertums. Ihm ging es um eine besondere Sichtweise der Natur und das Einbezogensein des Menschen in diese, um den unmittelbaren Eindruck des Augenblicks und um die Erarbeitung einer Ästhetik, die es ermöglicht, diese poetischen Stimmungsmomente sprachlich adäquat zum Ausdruck zu bringen. Sein Spätwerk ist zweifellos von zenbuddhistischen und taoistischen Gedanken geprägt und sie geben seinem Kunststil eine noch zusätzlich eigene Note. Eine Schulung im Zen sensibilisiert den Künstler in hohem Maß, die unmittelbare, tiefste Wahrheit intuitiv im alltäglichen Leben zu erfassen und dieser symbolhaft und in prägnanter Form Ausdruck zu verleihen.
Issa entstammte einer wohlhabenden Bauernfamilie und wurde von diesem Umfeld geprägt. Er lebte in Armut und Krankheit und hatte eine eher fatalistische Lebenseinstellung. Im Gegensatz zu Bashô war die Dichtung für ihn gemüthafte Begegnung mit seinem Lebensschicksal und sie zeigt ein warmes Mitgefühl für die Kreatur. Issas Haibun ist durch und durch subjektiv, ist eine realistische Prosa des Alltagslebens. Dennoch gewinnt er seinem Einzelschicksal immer wieder Allgemeingültiges ab und verfällt somit nicht der Gefahr eines sentimentalen Zerfließens. Religiös war Issa, wenn auch erst im reifen Alter, von der Jôdô-Shin-Schule (Wahre Schule des Reinen Landes) geprägt, die seiner Mentalität besonders zu entsprechen schien. Diese Glaubensrichtung ist eine Schule des Amidismus. Unter der Bezeichnung Amidismus sind jene Schulen des chinesischen und japanischen Buddhismus zusammengefasst, die den Buddha Amitâbha (jap. Amida) in den Mittelpunkt ihrer Lehren stellen. Amitâbha (,Grenzenloses Licht') ist einer der wichtigsten Buddhas im Mahâyâna-Buddhismus und symbolisiert Erbarmen und Weisheit. Die von Shinran (1173-1262) begründete und auch heute noch im religiösen Leben eine bedeutende Rolle spielende Jôdô-Shin-Schule erhob die Verehrungsformel für Amida, ‘Namu Amida Butsu' (‘Verehrung dem Buddha Amitâbha'), zum Kern ihrer Glaubenspraxis. Der Gläubige, der diese Formel mit vollkommener Hingabe rezitiert, kann eine Wiedergeburt im Reinen Land des Amida (sukhâvati: Westliches Paradies) bewirken. Das westliche Paradies wird im Volksglauben als ein Ort der Seligkeit beschrieben, ist jedoch in übertragenem Sinn als erleuchteter Bewusstseinszustand, der die Vorstufe zum Nirvâna bedeutet, zu verstehen. Issas Haibun spiegeln jenes einfache Vertrauen auf die Barmherzigkeit und Kraft des Amida deutlich wider.
Yokoi Yayû ist der dritte Schriftsteller, den ich im Rahmen der japanischen Haibun-Literatur vorstellen möchte. Seine Haibun sind in dem Werk „Uzura goromo" (Wachtelkleid, posthum 1785 und 1823 herausgegeben) aufgenommen(36). Yayû entstammte dem berühmten Geschlecht der Hôjô und lebte in Nagoya. Er wuchs in einer dichterisch ambitionierten Familie (sein Großvater und Vater übten die Haikai-Dichtung aus) auf. Yavû war künstlerisch hoch begabt und ein Kenner der chinesischen und japanischen Dichtung, Malerei, Kalligraphie und des Nô.(37) Er stand in Diensten des Lehnsherren von Owari (heutige Präfektur Aichi), trat jedoch 53jährig in den Ruhestand, um sich wie Bashô ganz auf die Kunst zu konzentrieren.
Im Gegensatz zu Bashô und Issa entfaltete sich Yayû dichterisch in mehreren Richtungen. Er verfasste Haibun mit autobiographisch wertvollen Reiseaufzeichnungen(38), die er mit zahlreichen Haikai durchsetzte und in denen er berühmte Landschaften beschreibt und von menschlichen Begegnungen erzählt. Diese Aufzeichnungen sind besonders im Vergleich mit Bashôs Reisetagebüchern interessant zu lesen. -
In vielen seiner Haibun setzte sich Yayû mit der chinesischen und japanischen literarischen Überlieferung auseinander und nahm die zu seiner Zeit zu festen Klischees erstarrten poetischen Kategorien aufs Korn. Es sind sprachkünstlerische Parodien, in die er gedanklich-argumentative Elemente und zahlreiche Anspielungen auf die japanische und chinesische Geschichte und Literatur geschickt einarbeitet. - Besonders ansprechend sind jene Haibun, in denen Yayû sich von seiner humorvollen Seite zeigt. Bereits die Überschriften vieler seiner Haibun geben Aufschluss darüber, welche Themen er mit Vorliebe abhandelte: „Ein Wort zum Morgenschlaf", „Lob der irdenen Röstpfanne", „Inschrift für ein Handwaschbecken", „Biographie des Grillenalten", „Liste der hundert Insekten", „Worte über den Reiskuchen", „Holzschuhgeschichte", „Denkwürdiges über das Heim der Wasserpfefferblüte" usw. Auch Yayûs Erzählprosa liegt das realistische Erfassen menschlichen Lebens zugrunde, aber er liebte das Heitere und Witzige und bediente sich gern humoriger und bespöttelnder Schilderungen menschlicher Unzulänglichkeiten. Vor allem bei der Lektüre dieser Haibun wird klar, dass er mit seinen Haibun ein anderes Ziel als Bashô und Issa verfolgte. Er knüpfte an das humoristische Element der Schulen der Vor-Bashô-Zeit an. Damit kam er dem oben geschilderten Zeitgeist der neuen Bürger entgegen, ohne jedoch jemals ins Vulgäre oder Minderwertige abzugleiten. Yayû schrieb einen schlicht-populären, geschliffenen, pointierten Stil. Seine Komik ist voller Feingefühl, niemals gibt er seine Personen und Objekte schonungslos dem Lächerlichen preis. Er wahrt stets die für einen Dichter notwendige Distanz und verlangt sie somit auch dem Leser ab.
Als Beispiel seien einige Auszüge aus dem Haibun „Ein Wort zum Morgenschlaf" -ein von ihm feinsinnig gestalteter Lobgesang auf den Langschläfer - angeführt:
 
Unter all den Lehren des Shintô, des Konfuzianismus und Buddhismus, von den erlauchten morgendlichen Staatsgeschäften der Oberen bis zum emsigen Tageslauf am Rechenbrett, dem Erwerb des Lebensunterhaltes durch Einkauf auf den Märkten der Unteren - die Lehre, in den Tag hinein zu schlafen, findet sich nicht darunter ... In den kurzen Nächten des Dritten, Vierten und Fünften Monats, wenn einem so recht nach Schlaf zumute ist, da ist gerade der Morgenschlaf einfach köstlich. Zwar ist das Auge nicht mehr ganz vom Schlummer umfangen, doch liegt man schlaftrunken zwischen Traum und Wachen, und im Schlafgemach sich vorzustellen, wie die Blüten in der Morgensonne duften, wie in den Kiefern noch das Morgenzwielicht hängt, das ist wohl schöner noch als aufstehen und schauen... Da leuchtet es doch ein, dass es besser ist, im Morgenschlaf das Kissen zu drücken, als klugerweise früh aufzustehen, den ganzen Tag lang nur mit Mühe die Augen wachzuhalten und im Mittagsschlaf die Stunden zu stehlen, und so mache ich eben den Langschläfer. Wenn aber dann im Herbst die Nächte länger werden und es wieder herrlich ist, früh aufzustehen, da darf ich mich auf einmal wieder einen Frühaufsteher nennen. Darum mögen sowohl Buddha wie Konfuzius ein Weilchen in Geduld darüber hinwegsehen.
Hör die Nachtigall
tief in der Nacht und liegt doch
im Morgenschlummer(39)
 
Ein kleines Meisterwerk ist Yayû mit dem Haibun „Biographie einer irdenen Reibschüssel" gelungen. Darin erzählt er von dem Werdegang einer Reibschüssel, von ihrer ‘Geburt’ bis zu ihrem ‘tragischen Tod’. Reizvoll an diesem Haibun ist die Gleichsetzung der Schüssel mit einer jungen, hübschen Frau. Um nicht in ihrem Heimatdorf zu versauern, macht sich die Reibschüssel/die junge Frau eines Tages - es war der 12. Monat, in Japan der Monat des großen Hausputzes und des Ausrangierens und der Erneuerung der Küchengeräte - in die Hauptstadt auf. Sie findet eine gute Anstellung und wird mit einem passenden Mann, nämlich einem Reibstößel, verheiratet. „Ein Mann so rauh wie Kiefernholz, ein treuer Geselle, von ganz und gar schmuckloser Gemütsart .... Sie wünschten sich, so unzertrennlich zu sein wie Klebreis, und schlossen sich so eng zusammen, dass wohl kein Wässerlein zwischen sie tropfen konnte..." Aber, wie es das Schicksal so fügt, hält sie mit einem Mann namens Schablöffel, den man früher im Palast seines angenehmen Äußeren wegen ‘Nachtigall’ gerufen hatte, unter dem Spülstein ein Beischläfchen. Unter dem Gesinde - dem Weinwärmkessel, dem Schöpflöffel, der Röstpfanne, dem Teekessel, dem Merrettichreibeisen - wird sogleich getuschelt, und weil die Reibschüssel Schande auf sich geladen hat, ziehen sie sich alle von ihr zurück. Aus Zorn darüber wirft sie sich eines Nachts vom Rand des Wandbretts herunter. Dabei erleidet sie Bruchschäden und ihr Aussehen wird hässlich. Es kommt, wie es kommen muss. Von nun an geht es bergab mit ihr. Nicht mehr beim Kochen brauchbar, wird sie zunächst zur Auffangschüssel für den durchtropfenden Frühsommerregen erniedrigt, dann am Brunnenrand unter Bitterknöterich und Labkraut begraben. Schließlich findet sie ein Tempelwächter und wandelt sie zu einem Feuerbecken um. In dieser für sie völlig ungewohnten Funktion fristet sie den Winter über in Trübsal ihr Leben. Im Frühjahr bepflanzt man sie schließlich mit Pfefferkraut:
 
 
„...und wenn ihr dabei auch die Augen brannten, nun, sie musste es auf sich nehmen. Doch damit ging die Buntheit des Herbstes vorüber und sie lag schließlich beschmutzt auf dem Schutthaufen am Ende der Brücke. Die Folge war, dass sie beim Spiel ungezogener Kinder in Scherben ging, die ihrerseits in dunkler Nacht zu Wurfgeschossen wurden, bei denen man nicht weiß, wo sie wohl landen."(40)
 
Von der Gelassenheit gegenüber Lob und Tadel eines betagten Menschen erzählt das Haibun „Biographie des Grillen-Alten":
 
 
„Die Maulwurfsgrille fliegt zwar gut, vermag jedoch nicht, über ein Haus zu gelangen. Sie klettert zwar gut, vermag aber nicht, einen Baum bis oben zu erklimmen. Sie schwimmt zwar gut, vermag aber nicht, ein Tal zu überqueren. Sie gräbt zwar gut Löcher, vermag aber nicht, sich zu verbergen. Sie läuft zwar gut, vermag aber nicht, dem Menschen zu entkommen. Da sagt man wohl, sie ist im Besitz der Fünf Fähigkeiten und übt doch nicht eine aus. Hier ist ein alter Mann. Er verfasst zwar chinesische Gedichte, aber die Gedichte werden nichts, er dichtet zwar Lieder, aber sie haben keine Ähnlichkeit mit Liedern, er schreibt zwar Dinge, aber sie sind nicht gut, er malt zwar Bilder, aber sie sind stümperhaft, er macht zwar Scherzgedichte, aber sie sind linkisch. Im Gedanken, ob ich jenem Insekt wohl nachstehe, habe ich mich selbst Grillen-Alter genannt. Ich bin schon recht alt, und da ich jetzt die Grenzen eines solchen Leibes kenne, verlange ich nicht, von anderen gelobt zu werden, und der Tadel der Menschen verdrießt mich nicht. Wozu also, wie die Grille im Sprichwort, sich ärgern und jener Amsel Freude machen? Gut, mag sie sich doch ärgern, ich möchte lieber lachen!"(41)
 
Die Übertragung menschlicher Verhältnisse auf einen Gegenstand, ein Tier (z.B. „Biographie des Grillen-Alten", „Liste der Hundert Insekten" ), eine Pflanze (z.B. „Fragewort an die Chrysanthemen") oder umgekehrt, war für Yayû ein beliebtes Erzählmuster, das er in vielfältigen Formen zu variieren verstand. Das Haibun gewinnt damit nicht nur an Bildhaftigkeit, sondern weist über das konkrete Bild hinaus und drückt eine ‘anerkannte Wahrheit’ aus. Yayû beherrscht diese Technik brillant. Die Übertragung wirkt niemals gewollt oder aufdringlich, sondern stellt sich wie selbstverständlich und natürlich ein und wird vom Leser verstanden und goutiert.
Mit Bashô, Issa und Yayû wählte ich drei ‘Klassiker’ der japanischen Haibun-Literatur aus. Innerhalb der japanischen Literatur besitzen sie einen hohen Stellenwert und auch im gegenwärtigen Japan wird ihr Werk geschätzt. Ihre Haibun sind künstlerisch anspruchsvoll, geistreich und ästhetisch befriedigend. Seit dieser ‘klassischen’ Haibun-Ära Japans sind mehrere Jahrhunderte vergangen. In dieser Zeit hat sich die japanische Gesellschaft verändert und mit ihr die japanische Literatur. Seit der Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert erlebte die japanische Literatur vor allem durch die Auseinandersetzung mit der westlichen so manchen Wandel. Westliche Strömungen wie Naturalismus, Realismus, Romantik/Neoromantik, Idealismus, Symbolismus, Sensualismus, um nur einige zu nennen, hinterließen deutlich ihre Spuren und prägten die moderne Literatur entscheidend mit. Althergebrachte Gattungen lösten sich auf oder vermischten sich mit neuen Formen, neue westliche Genres setzten sich durch.
Auch das Haibun musste in Japan anderen Erzählformen Platz machen. Allerdings neigt der Japaner auch heute noch dazu, vielmehr als wir, Erlebnisse, Gedanken usw. skizzenhaft festzuhalten, vor allem wenn er Dichter oder Künstler ist. Viele japanische Haiku-Dichter verfassen auch heute noch Haibun, obwohl sie diese nicht immer ausdrücklich Haibun nennen. Natürlich schreibt ein japanischer Haibun-Dichter des 20./21. Jahrhunderts anders als ein Bashô, Issa oder Yayû. Die menschlichen Grundthemen sind zwar die gleichen geblieben, aber durch den historischen Wandel und aufgrund der rasanten naturwissenschaftlichen und technischen Entwicklung ergeben sich notwendigerweise andere Lebenseinstellungen und Standpunkte und damit auch andere Themen für ein Haibun. Hinzu kommt, dass durch die fortschreitende Globalisierung die gesellschaftlichen und menschlichen Probleme nicht mehr ausschließlich innerjapanische sind, sondern in einem darüber hinausgreifenden Rahmen erscheinen. Trotzdem blieben bestimmte formale und ästhetische Kriterien des ‘traditionellen’ Haibun erhalten bzw. werden dem modernen Verständnis von Form und Ästhetik angepasst.
Wer sich ein klares Bild über den Werdegang des japanischen Haibun verschafft, wird mit umso größerer Sicherheit selbst in dem Genre gestalterisch tätig sein können. Auf diese Horizonterweiterung im Hinblick auf die japanische Literatur im allgemeinen und die Haibun-Literatur im besonderen möchte ich eindringlich hinweisen, damit bei der Abfassung von Haibun nicht eine ähnliche Unsicherheit und (oft völlig unnötige) Standpunktbekämpfung einsetzt wie etwa beim Haiku. So wie es kein deutsches, englisches, französisches sondern nur ein deutschsprachiges Haiku geben kann, so gibt es auch kein deutsches Haibun. Die Frage kann auch hier nur sein, entspricht das in deutscher Sprache abgefasste Haibun den Kriterien der Textgattung Haibun. Bei der Bezeichnung Haibun müssen wir bleiben, weil es keine adäquate Prosaform im deutschsprachigen Raum gibt. Epos, Kurzgeschichte, Novelle, Verserzählung u.ä. sind eben kein Haibun. Gegen Formulierungen wie „nach dem Vorbild von" oder „in Anlehnung an" (die japanische Kurzlyrik/Haibun) habe ich Vorbehalte. Wenn ich mir etwas ‘zum Vorbild nehme’, dann doch mit der Zielsetzung, dem Vorbild zu entsprechen, und wenn ich etwas ‘in Anlehnung an verfasse', dann bedeutet es, dass ich mich auf etwas (ein bestimmtes Muster: Haibun) stütze. Beide Formulierungen schützen den Verfasser nicht davor, dass seine Texte an den der japanischen Kurzlyrik bzw. dem Haibun zugrundeliegenden formalen und ästhetischen Kriterien gemessen werden. Alles andere wäre Augenauswischerei. Entweder ich verfasse ein Haibun im Rahmen des Vorgegebenen und nenne es auch so(42), oder ich wähle aus der Fülle westlicher Literaturformen die meinem Schreibstil entsprechende.
Abschließend möchte ich den Blick nochmals auf die wesentlichen Besonderheiten eines Haibun lenken. Ein Charakteristikum des Haibun ist die Verbindung von erzählendem und lyrischem Moment. Dieses Spannungsfeld von Prosa und Lyrik macht seinen besonderen Reiz aus. Dennoch gibt es viele Haibun, die kein Haiku aufweisen. Besitzt ein Haibun ein oder mehrere Haiku, so überhöhen diese ästhetisch gesehen das in der Prosa Beschriebene. Sie transportieren das vorher Erzählte sozusagen auf die lyrische Ebene. Ein Haiku, gleichgültig ob es in den Text eingestreut ist oder am Ende eines Haibun steht, wird vom Prosatext her vorbereitet. Oft hält der Prosatext im Moment äußerster Spannung inne, dann folgt das Haiku. Dieses sollte so komponiert sein, dass es das Haibun ausklingen und weiterschwingen lässt. Dennoch darf das Haiku nicht als eine simple Zusammenfassung, sozusagen als eine Kurzfassung der vorangegangenen Prosa aufgefasst werden. Es sollte auch unabhängig vom Prosatext als lyrisches Gedicht verstehbar sein. Stilistisch gesehen lebt das Haibun von der Prägnanz. Das einfache, aber treffende Wort garantiert in der Regel diese Prägnanz. Ein Haibun lebt aber auch vom Klang und Rhythmus der Worte und ihrer Bildkraft. Erst durch die Wortwahl, Wortstellung und den Wortklang, durch die rhythmische und klangliche Durchformung des Textes, erreicht der Schriftsteller bei dem Leser den hohen ästhetischen Genuss. Der Verfasser darf niemals nur beschreiben, sondern muß die sinnliche und geistige Wahrnehmung des von ihm Geschauten etwa durch Vergleiche, Symbolbilder usw. transparent werden lassen. Die Einarbeitung von Anspielungen, Sprichwörtern und Redewendungen, das Zurückgreifen auf Gedanken oder Texte berühmter Dichter oder anderer Persönlichkeiten sind gern benutzte Stilmittel. Dabei werden diese zumeist nur durch ein Wort, ein Natur- oder Gedankenbild angesprochen und der Leser stellt die Assoziation selbst her. Ein belebendes Moment kann auch die Einflechtung einer kurzen indirekten oder direkten Rede sein. All das verleiht dem Haibun Spannung und Bewegung.
Ein Haibun kann in der Ich-Form oder in der Erzählform der dritten Person abgefasst werden. Seine Themen bezieht der Verfasser aus dem eigenen Erleben, aus dem unerschöpflichen Bereich der seelischen Gestimmtheiten, des Verhältnisses von Ich zum Mitmenschen oder des von Natur und Welt. Er kann aber auch auf Wissenschaftliches, Philosophisches, Kunsttheoretisches, Gesellschaftskritisches oder auf Stoffe aus Mythen, Sagen, Fabeln, die natürlich unter einer neuen eigenen Betrachtungsweise gleichsam als Variationen bearbeitet werden müssen, zurückgreifen(43). Dabei ist nicht die Größe und Bedeutung des Geschehens ausschlaggebend. Gerade kleine Dinge und Begebenheiten tun oft große Geheimnisse kund.
Aufgrund meiner Artikelfolge ‘Was ist ein Haibun’ erreichten mich viele Briefe von an diesem Genre Interessierten. Zum Teil lagen erste Haibun-Versuche bei. Über dieses positive Echo habe ich mich natürlich sehr gefreut. Denn die Artikelfolge hatte zum Ziel, die Aufmerksamkeit an der Textgattung Haibun zu wecken und einen ersten Einstieg zu ermöglichen.