Göttingen - Die Zukunft der Liebensfähigkeit

Autorin: Katja Baumgarten

DEUTSCHE HEBAMMEN-ZEITSCHRIFT Heft 12/2001

 

 

 

 

 

 

 

 

 

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Zukunft der Liebesfähigkeit


Katja Baumgarten - Das Glück, voll neuer Gedanken, reich beschenkt nach Hause zu fahren, hatte ich auf dem Heimweg von Göttingen - die anregende interdisziplinäre Tagung „Die Zukunft der Liebesfähigkeit“ am 26. und 27. Oktober lag hinter mir

Inspiriert durch das neue Buch von Michel Odent „Die Wurzeln der Liebe - wie unsere wichtigste Emotion entsteht“ hatte Elisabeth Geisel von der Gesellschaft für Geburtsvorbereitung (GfG) e.V. die Idee, Experten aus unterschiedlichen Disziplinen unter diesem Gesichtspunkt zusammenkommen zu lassen. Über 200 Fachfrauen, auch einige Männer, saßen in den Reihen - angesichts der hochkarätigen Vorträge hätte das Auditorium ruhig noch größer sein mögen: Vorwiegend Hebammen, Geburtsvorbereiterinnen und Familienbegleiterinnen, aber auch Psychologinnen, Sozialpädagoginnen und ÄrztInnen.

„Es sollte alles daran gesetzt werden, dass Mütter sich bedingungslos in ihre Babys verlieben!“ war ihr Appell zur Eröffnung. „Gewalt und das Gewaltpotential in der Welt ist in unserem Bewusstsein näher gerückt. Die Aktualität ruft uns auf: Sie sollte uns noch grundsätzlicher aufrütteln, um entschiedene Wege zu gehen, die von Mitgefühl, Gerechtigkeit und Barmherzigkeit - eben Liebe - gepflastert sind.“

Sichere emotionale Bindungserfahrungen

Der Neurobiologe Prof. Dr. Gerald Hüther, Hirnforscher an der psychiatrischen Universität Göttingen und Autor der Bücher „Die Evolution der Liebe“ oder neu erschienen: „Bedienungsanleitung für ein menschliches Gehirn“, wies auf die außerordentliche Bedeutung früher Bindungen für die Hirnentwicklung und damit für das Verhalten von Kindern hin. Bereits hergestellte Verschaltungen im Gehirn könnten durch unbewältigte psychische Belastungen wieder zerstört werden. Hüther: „Sichere emotionale Bindungserfahrungen bilden die wichtigste Voraussetzung für die umfassende Nutzung und optimale Entfaltung der Potenzen zur Ausbildung eines komplexen, intensiv vernetzten und zeitlebens lernfähigen Gehirns. Kinder, denen es nicht gelingt, solche Sicherheit bietenden Beziehungen aufzubauen und zu festigen, bleiben entweder instabil oder entwickeln sehr einseitige pseudoautonome Bewältigungsstrategien, bei denen einzelne Fähigkeiten überstark und auf Kosten anderer stabilisiert und gebahnt werden. Diese frühen Bahnungs- und Kanalisierungsmuster sind später umso schwerer wieder auflösbar, je früher sie entstanden und je häufiger und subjektiv erfolgreicher sie zur Problembewältigung benutzt worden sind.“ Demgegenüber könnte Angst- und Stressreaktionen entgegengewirkt werden durch Vertrauen beispielsweise in die eigene Fähigkeit durch Wissen und Erfahrung, durch Glaube und durch Vertrauen in die Fähigkeiten anderer, das heißt durch Bindung.

„Neuere Forschungsergebnisse zur nutzungsabhängigen Plastizität des sich entwickelnden menschlichen Gehirns haben eine grundsätzliche Wandlung bisheriger Vorstellungen über die Bedeutung und den Einfluss früher Bindungserfahrungen auf die Hirnentwicklung eingeleitet“, erklärte Hüther. Angeborene genetische Verschaltungen bildeten das neuronale Substrat. Das wiederum werde geprägt durch soziokulturelle Einflüsse. Wachstum und Strukturierung des Gehirns hörten nie auf - und beides würde bereits in der Schwangerschaft beginnen. Kurz gesagt: „Das Hirn entwickelt sich so, wie man es benutzt.“ Abschließend interpretierte Prof. Hüther die Weisheit eines afrikanischen Sprichwortes: „Um ein Kind vernünftig aufzuziehen, braucht man ein ganzes Dorf“ - es biete sich einerseits Vielfalt für das Kind, andererseits verhindere es die Überforderung einer einzelnen, in unserer Kultur häufig isolierten Mutter.

Das verweigerte Antlitz

Sigrid Chamberlain, Soziologin und Supervisorin aus Frankfurt hat als Autorin des Buches „Adolf Hitler - die Deutsche Mutter und ihr erstes Kind“  die verheerende Wirkung eines bekannten und bis in die 60er Jahre weit verbreiteten Ratgebers von Johanna Haarer zur Säuglingspflege und Sozialisation im 3. Reich untersucht. Die Hinwendung der Mutter zu ihrem Kind würde in dem Ratgeber systematisch „aberzogen“. In ihrem Vortrag „Das verweigerte Antlitz - Über die Verhinderung von Liebesfähigkeit“ analysiert sie, auf welche Weise Müttern die angebliche Notwendigkeit der Verweigerung des Blickkontakts durch dogmatische, aus heutiger Sicht unglaubliche Handlungsanweisungen, nahegebracht und damit bereits „absichtsvoll zu Beginn des menschlichen Lebens Bindungs-, Beziehungs- und Liebesfähigkeit zerstört wurden.“

Ein bestimmter Menschentypus, der schließlich zu Beziehungsunfähigkeit und damit zu Kühle und Härte neige, habe dem erwünschten „Erziehungsziel“ der Nazizeit entsprochen.

Sigrid Chamberlain setzt sich vor allem mit der nach wie vor starken Tabuisierung dieses Themas auseinander: „Warum fällt es uns so schwer zu erkennen, dass wir gerade im Umgang mit dem sehr kleinen Kind noch sehr unter dem destruktiven Erbe des Nationalsozialismus leiden?“ Man denke nur daran, wie lange ‚strenge Fütterungszeiten‘ propagiert wurden oder an die auch heute noch bekannten Warnungen, ‘man könne einen Säugling schnell zum Tyrannen erziehen‘, wenn man seine Ängste und sein Bedürfnis nach Nähe bereitwillig beruhige.

Das Rooming-in wurde in den letzen 20 Jahren nur sehr zögerlich eingeführt. Sigrid Chamberlain gibt dabei zu bedenken, dass Frauen, die als Hebammen oder im Pflege- und Erziehungsbereich ihre Ausbildung in der Nazizeit erhielten, ihre rigiden, beziehungsfeindlichen Auffassungen zum Teil noch weit in die 80er Jahre beruflich anwenden und weitergeben konnten.

Eltern sind nicht für alles verantwortlich!

Die Zahl kinderloser Menschen wächst. 95 Prozent der unter 25-jährigen wünschen sich ein Leben mit Kindern. Die Wirklichkeit sieht anders aus: 30 Prozent der Frauen im entsprechenden Alter leben ohne Kinder - Akademikerinnen und Führungskräfte sogar zu 50 Prozent.

„Familien brauchen Unterstützung - Prävention von Anfang an“ - in Ihrem Vortrag fragt Ines Albrecht-Engel, Ethnologin, GfG-Bundesvorsitzende und Autorin mehrerer Bücher: „Warum werden immer weniger Kinder geboren?“ und „Warum sind Eltern heute so unsicher im Umgang mit ihrem Kind, dass der Ratgeber-Markt boomt? Warum haben wir Schlagzeilen über zunehmende Gewaltbereitschaft und fehlende Konzentration bei den SchülerInnen, über mangelndes Verantwortungsgefühl, über geringe Bereitschaft zum gesellschaftlichen Engagement? Niemals in der Geschichte sind Kinder so wohlhabend und so gut versorgt aufgewachsen. Niemals waren Eltern so gut informiert, gab es so viele Förderprogramme und Beratungsmöglichkeiten - und doch steigt die Verunsicherung der Eltern und das Gefühl, überfordert zu sein durch ständige Präsenz, ständigen Entscheidungszwang und durch die Verantwortung, als Eltern perfekt sein zu müssen - „Eltern sind immer an allem Schuld!“

Ines Albrecht-Engel hält die Isolation von Eltern für bedenklich: „Eltern fragen eher online nach, als bei der eigenen Mutter oder anderen Müttern.“ Da der Austausch mit anderen, die in der selben Situation sind, für Eltern sehr entlastend sein kann, arbeitet sie und die Familienbegleiterinnen der GfG an einem niedrig schwelligen Kursangebot zur Stärkung der Kompetenz von Eltern, zum ‚Empowerment‘.

Biographie der Gewalt

Als Prof. für Kriminologie hat Dr. Christian Pfeiffer, Justizminister in Niedersachsen, in einer Untersuchung 30.000 Jugendliche über ihre Familiensituation und ihre bisherigen Erfahrungen von Liebe bzw. von Gewalt befragt. Er belegte in seinem Vortrag „Die Biographie der Gewalt - viele Hiebe, wenig Liebe - Folgerungen für die Prävention“ das eindeutige, gleichzeitig einleuchtende und erschreckende Ergebnis: Die eigene Erfahrung von Gewalt, hat einen unmittelbaren Zusammenhang zu Jugendkriminalität, Drogenabhängigkeit oder Selbstmordgefährdung. Umgekehrt legt eine unautoritäre, gewaltfreie und liebevolle Erziehung den Keim für spätere Zivilcourage, beim Miterleben von Unrecht und Gewalt beherzt einzugreifen und Opfern zu Hilfe zu kommen.

Das „elterliche Züchtigungsrecht“ wurde 1980 in Deutschland abgeschafft. Noch immer wissen viele Eltern nicht, dass selbst die berühmte „Ohrfeige“ verboten ist. Einen Mangel an Prävention sieht Pfeiffer in dem alarmierenden Umstand, dass nur fünf Prozent aller misshandelten Kinder beim Jugendamt oder Kinderschutzbund bekannt werden - nur zehn Prozent der betroffenen Kinder ziehen einen Lehrer ins Vertrauen. Eine „Garantie des Schweigens“ für das Kind gegenüber seinen eigenen Eltern wäre eine notwendige Maßnahme zum Schutze des Kindes auf seinem Weg Hilfe zu suchen, so Pfeiffer.

Gewalt wird in der Familie gelernt

Dr. Jürgen Schmetz, Kinder- und Jugendarzt, hat das Institut für Prävention und Frühintervention im Kindes- und Jugendalter in Hamburg gegründet. In seinem Vortrag über „Gewaltprävention ab Nabelschnur durch Kinder- und Jugendärzte im Verbund mit beruflichen Nachbarn“ stellte er die Frage: „Wie kommt Gewalt in die Biographie?“. Und: „Wie können wir die Motivation, Eltern zu sein, immer wieder anfrischen, wenn sich die ganz normalen Krisen im Leben der Familie einstellen?“

Gewalt werde vor allem in der Familie gelernt, wenngleich Eltern sich zunächst nicht vorstellten, ihrem Kind mit Gewalt zu begegnen - die meisten Kinder kämen heute als Wunschkinder auf die Welt. Doch das in der Phantasie vorgestellte Kind weiche oft ab vom tatsächlich geborenen. Bereits nach kurzer Zeit kann es zu einer „Anpassungsstörung zwischen Eltern und Kind“ kommen.

Schmetz sieht eine gute Möglichkeit, in der kinderärztlichen Sprechstunde gezielt die Eltern in ihrer feinfühligen Interaktion mit ihrem Kind zu bestärken und nötigenfalls durch behutsame Hinweise zu einer dauerhaften elterlichen Kompetenz zu führen. Elterliche Andeutungen von Ratlosigkeit und Erschöpfung seien besonders Ernst zu nehmen. So könnten Gefahren, die sich in der Kommunikation und damit in der Beziehung zwischen Eltern und ihren Kindern ergeben, frühzeitig erkannt werden – „bevor jemand zum ´Fall` wird.“

In diesem Bemühen appellierte Dr. Jürgen Schmetz an eine vernetzte interdisziplinäre Zusammenarbeit benachbarter Berufsgruppen, vor allem auch an die Zusammenarbeit mit Hebammen. Schmetz hat die Methode videogestützter Interaktionsanalyse entwickelt. Situationen im Umgang zwischen Eltern und ihrem Kind werden in der Sprechstunde mit Hilfe einer Videokamera aufgezeichnet, Passagen dieser Aufzeichnungen gemeinsam betrachtet und analysiert. „Oft werden klare Signale des Babys übersehen.“ Mit diesem vorgehaltenen Spiegel wird Eltern ihr eigenes Verhalten im Umgang mit ihrem Kind deutlich, notwendige Änderungen in der Kommunikation können sichtbar gemacht werden. „Schauen wir, dass sich die Biographie der Familie stressarm entwickelt,“ ermutigt Schmetz: „Weniger Stress für die Eltern bedeutet immer auch weniger Misshandlungsrisiko für die Kinder.“

Getrennte Geburtsvorbereitung

„Geburtsbegleitung als Nährboden der Liebe“ hieß der Vortrag der Hebamme Hanna Fischer. Väter müssten noch mehr von Anfang an einbezogen werden und das sei ihnen auch zuzumuten.

In ihren Geburtsvorbereitungskursen vergleicht die Hebamme den Schmerz und die extreme körperliche Belastung von Frauen bei der Geburt mit sportlichen Höchstleistungen und die Geburt des Kindes mit einem Olympiasieg, der bei jedem Kind als solcher gefeiert werden sollte.

Sie könne sie Männern beispielsweise leicht erklären, warum die Frau bei der Geburt „laut“ sein müsse, wenn sie diese Parallelen zum Leistungssport zieht. Männer müssten besser, vor allem anders auf die Geburt vorbereitet werden. Sie plädiert für eine getrennte Vorbereitung, weil Mann und Frau unterschiedliche Aufgaben bei der Geburt zu leisten hätten. Eine „Ehrfurcht vor der Leistung der Frau“ müsse noch mehr vermittelt werden. Angesichts der herrschenden Realität der Geburtshilfe, sagt sie: „Wir können auf die Mithilfe des Mannes mittlerweile nicht mehr verzichten.“ Früher sei eine Gebärende von bis zu fünf helfenden Frauen begleitet worden, heute sei das Verhältnis nicht selten umgekehrt.

„Gute Geburtsbegleitung beginnt schon in der Schwangerschaft: In der Vorsorge und Geburtsvorbereitung“ ist die Auffassung von Hanna Fischer. „Eine ungestörte erste Begegnung zwischen Mutter, Vater und Kind ist so wichtig, hier nimmt die Liebe ihren Anfang!“

((Hanna Fischer machte auf ein Mysterium aufmerksam: „Eine gebärende Frau schüttet dieselben Hormone aus, wie ein sterbender Mensch.“ Und bei beiden könne man das gleiche Zeichen beobachten: ein weißes Dreieck um Mund und Nase sei in beiden Fällen ein Anzeichen, dass der große Moment unmittelbar bevor stehe.)) „Im Moment der Geburt des Kindes findet die höchste Ausschüttung von Oxytocin statt, mehr als während der ganzen Geburt zuvor.“ In diesem Moment der totalen Erregung erlebe die Frau die totale Offenheit für ihr Kind, ihre Seele liege bloß. Sie folgerte: „Die Mutter braucht Zeit, um wieder zu sich zu kommen und um bei ihrem Kind zu sein.“ Wenn Tiere in dieser Zeit gestört würden, verließen sie ihre Jungen. Auch beim Menschen bleibe dies nicht ohne Auswirkungen.

Grundbedürfnisse wie zum Einschlafen

Der französische Frauenarzt Dr. Michel Odent, Leiter des Forschungsinstituts „Primal Health Research Centre“ in London und bekannter Autor verschiedener kritischer Bücher zu Fragen der Geburtsmedizin, stellt sich die Frage: „Warum herrscht in Fachkreisen so ein ausgeprägtes Desinteresse an den wissenschaftlichen Erkenntnissen der Physiologie der Geburt, in Zeiten, in denen der Wunschkaiserschnitt in Mode gekommen ist und die Geburtshilfe von umfassender Technisierung geprägt ist?“

In Großbritannien werde gegenwärtig bei sieben Prozent aller Geburten ein Wunschkaiserschnitt durchgeführt. Odent zitierte einen Professor der Geburtshilfe, der prophezeit, dass diese Form der Entbindung demnächst die Norm sei, wo doch mittlerweile das Risiko dieser Entbindungsmethode nicht höher sei, als eine spontane Geburt. Warum sollten Frauen die Anstrengungen und die Schmerzen der natürlichen Geburt noch auf sich nehmen, während sie stattdessen in Periduralanästhesie gleichzeitig mit den Wehen beispielsweise Fernsehen können?

Dieser angebliche Mangel an Motivation zu einer physiologischen Niederkunft regt Odent an zu wissenschaftlichen Betrachtungen der ‘Wurzeln der Liebe‘. In verschiedenen Fachgebieten seien mittlerweile umfangreiche Erkenntnisse darüber zusammengetragen worden, dass die perinatale Periode Langzeitkonsequenzen für Mutter und Kind habe.

Leider würde das noch nicht überall verstanden, da viele Zusammenhänge übersehen würden: Die Forscher arbeiteten alle spezialisiert auf ihrem jeweiligen Fachgebiet, die Daten ihrer Forschungen seien zwar alle in angesehenen Fachzeitschriften veröffentlicht worden, aber: Sie würden nicht „verlinkt“.

Odent zeigte sich verwundert, dass wichtige Studien zu diesen Zusammenhängen nicht besser bekannt sind. Zum Beispiel sei in Schweden eine wichtige Studie zum Thema Drogenabhängigkeit veröffentlicht worden, die ergeben habe, dass Kinder, deren Mütter während der Geburt Schmerzmittel erhalten hätten, mit größerer Wahrscheinlichkeit später durch Drogenabhängigkeit gefährdet wären. Diese Studie wäre zwar in einer wichtigen Fachzeitschrift publiziert, jedoch nie weiter verbreitet oder erwähnt worden.

Ähnliche Beobachtungen habe Odent gemacht bei Forschungen über Zusammenhänge der Bedingungen der Geburt und der späteren Gefährdung durch Gewalt und Kriminalität, durch Anorexia nervosa, Autismus oder Selbstmordgefährdung. Odent hat die Autoren all dieser Studien selbst aufgesucht und herausgefunden, dass die Forscher die größten Schwierigkeiten bürokratischer Art oder durch ethische Gremien gehabt hätten: Zusammenhänge zur Geburt herzustellen, scheine als nicht „politisch korrekt“ zu gelten und würde entsprechend ignoriert. Es gäbe also seiner Erkenntnis nach gute Gründe, die Physiologie der Geburt besser zu verstehen, um damit die Grundbedürfnisse der Gebärenden besser zu berücksichtigen. Nach seiner Beobachtung hätten fast alle Gesellschaften die Tendenz, die Geburt und Zeitspanne von der Geburt des Kindes bis zur Geburt der Plazenta zu stören.

„Was bedeutet die Physiologie der Geburt?“ Anders als die in den Gesellschaften als „normal“ angesehenen Bedingungen während einer Geburt - eine Sicht, die entsprechend soziokulturell geprägt sei und in Tokio etwas anderes bedeuten könne als in Göttingen - lieferten die physiologischen Bedingungen der Geburt „Referenzpunkte“, die eine übergreifende, allgemeine Bedeutung hätten.

Wenn die kulturell üblichen Bedingungen von den physiologisch notwendigen Bedingungen zu stark abweichen würden, würde diese Gesellschaft von negativen Ergebnissen „bestraft“. Sie solle sich daher darüber bewusst sein, wie weit sie von diesen physiologischen Grundbedingungen der Gebärenden abweiche.

Mit den Augen des Physiologen seien die archaischen Teile des Gehirns, Hypophyse und Hypothalamus für eine optimale Aktivität der Geburtshormone verantwortlich. Sie seien aktiv bei allen Situationen sexuellen Lebens. Hemmungen dieser Aktivität entständen immer im neueren Anteil des Gehirns - der Neokortex. Für eine optimale Aktivität der archaischen Hirnanteile sei es unerlässlich, dass sich die Gebärende in einen anderen Bewusstseinszustand fallen lassen könne - der einzig wirklich wichtige Punkt: die Neokortex der gebärenden Frau solle so wenig wie möglich aktiv sein, auf keinen Fall sollte sie unter der Geburt unnötig stimuliert werden.

Zum Schutz der Geburt seien vier Faktoren zu berücksichtigen:

  1. Vorsicht bei der Wortwahl in der Sprache: Präzise Fragen, rationale Anstrengungen, alles worüber die Frau nachdenken muss, solle vermieden werden. Man überdenke die üblichen Aufnahmebefragung, die Frauen häufig während der Wehen im Krankenhaus zu beantworten hätten.
  2. Auch helles Licht rege die Neokortex an - was beispielsweise beim Enzephalogramm zur Diagnostik gezielt eingesetzt würde. Während der Geburt sei es absolut hinderlich - auch hier würden Erkenntnisse der Physiologie vernachlässigt: In keinem Lehrbuch zur Geburtshilfe fände sich ein Abschnitt zur Frage der optimalen Lichtverhältnissen.
  3. Physiologisch optimal sei außerdem „privacy“, die Intimsphäre, in der sich die Frau ungestört und unbeobachtet fühlt. In diesem Zusammenhang sei Vorsicht geboten mit der offenen Präsentation von Technik und Gerätschaften. Michel Odent nannte ein Beispiel: Ein laufendes Dauer-CTG habe erwiesenermaßen keine Verbesserung des kindlichen Zustandes zur Folge, sondern einen Anstieg der Sectiofrequenz. Geburtshelfer seien vom Ergebnis einer entsprechenden Studie überrascht gewesen - physiologisch betrachtet sei das Ergebnis eine logische Folge.
  4. Auch das Gefühl der Sicherheit der Frau sei ein wichtiges Gebot. Bei Gefahr werde durch die Ausschüttung von Adrenalin die Geburtsarbeit gebremst. Durch alle Kulturen ziehe sich eine Strategie der Gebärenden, dieses Sicherheitsgefühl zu erfahren: Auch als Erwachsene fühle sich die Gebärende nahe der Mutter oder einer Ersatzmutter am sichersten.

Dieses sei die Wurzel des Hebammenwesens: Die Hebamme repräsentiere eine Mutterfigur, den Archetyp der Sicherheit gebenden Mutter.

Michel Odent erinnerte an ein sehr altes Buch, in dem zur Physiologie der Geburt zwei hochsignifikante Beobachtungen zu finden seien: Zunächst, dass die „Sünde“, das Essen der Frucht „zuviel zu wissen“ zu schwierigen Geburten führe. Eine andere Passage beschreibe die Umstände der Geburt eines Mannes, der für seine Mission, die Liebe zu verkünden, bekannt wurde. Die Mutter dieses Mannes habe eine optimale Strategie gewählt, ihre Neokortex bei der Geburt möglichst wenig zu stimulieren: „Sie gebar ungestört in einem dunklen Stall, umgeben von Säugetieren.“


Mehr als die Summe ...

Die Wirkung der Vorträge aus ihren verschiedenen Blickwinkeln zeigte wieder einmal, dass das Ganze mehr sein kann als die Summe seiner Teile: Die vielfältigen Forschungsergebnisse und Anregungen unter dem Motto „Liebe fördern, um Gewalt zu verhindern“ machten auf beeindruckende Weise plausibel, wie wesentlich und im Grunde, wie einfach und effektiv „Gewaltprävention ab Nabelschnur“ für das ganze Leben eines Menschen sein kann.

Das Thema der Tagung hatte bereits seine Wirkung in der Organisation: Es war die erste gemeinsame Veranstaltung der GfG und des Bundes Deutscher Hebammen, die damit eine viele Jahre andauernde Fehde beigelegt hatten. Ines Albrecht-Engel (GfG) und Magdalene Weiß (BDH), verkündeten das Ende des Streits und ab jetzt die fachliche Zusammenarbeit der beiden Verbände - zum Nutzen der Familien.

 

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