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Göttingen - Die Zukunft der Liebensfähigkeit Autorin:
Katja Baumgarten
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Zukunft der
Liebesfähigkeit
Inspiriert
durch das neue Buch von Michel Odent „Die Wurzeln der Liebe -
wie unsere wichtigste Emotion entsteht“ hatte Elisabeth Geisel
von der Gesellschaft für Geburtsvorbereitung (GfG) e.V. die Idee,
Experten aus unterschiedlichen Disziplinen unter diesem Gesichtspunkt
zusammenkommen zu lassen. Über 200 Fachfrauen, auch einige Männer,
saßen in den Reihen - angesichts der hochkarätigen Vorträge
hätte das Auditorium ruhig noch größer sein mögen:
Vorwiegend Hebammen, Geburtsvorbereiterinnen und Familienbegleiterinnen,
aber auch Psychologinnen, Sozialpädagoginnen und ÄrztInnen.
„Es
sollte alles daran gesetzt werden, dass Mütter sich bedingungslos
in ihre Babys verlieben!“ war ihr Appell zur Eröffnung. „Gewalt
und das Gewaltpotential in der Welt ist in unserem Bewusstsein näher
gerückt. Die Aktualität ruft uns auf: Sie sollte uns noch
grundsätzlicher aufrütteln, um entschiedene Wege zu gehen,
die von Mitgefühl, Gerechtigkeit und Barmherzigkeit - eben Liebe
- gepflastert sind.“ Sichere
emotionale Bindungserfahrungen Der
Neurobiologe Prof. Dr. Gerald Hüther, Hirnforscher an der psychiatrischen
Universität Göttingen und Autor der Bücher „Die Evolution der Liebe“ oder
neu erschienen: „Bedienungsanleitung für ein menschliches
Gehirn“, wies auf die außerordentliche
Bedeutung früher Bindungen für die Hirnentwicklung und damit
für das Verhalten von Kindern hin. Bereits hergestellte Verschaltungen
im Gehirn könnten durch unbewältigte psychische Belastungen
wieder zerstört werden. Hüther: „Sichere emotionale
Bindungserfahrungen bilden die wichtigste Voraussetzung für die
umfassende Nutzung und optimale Entfaltung der Potenzen zur Ausbildung
eines komplexen, intensiv vernetzten und zeitlebens lernfähigen
Gehirns. Kinder, denen es nicht gelingt, solche Sicherheit bietenden
Beziehungen aufzubauen und zu festigen, bleiben entweder instabil oder
entwickeln sehr einseitige pseudoautonome Bewältigungsstrategien,
bei denen einzelne Fähigkeiten überstark und auf Kosten anderer
stabilisiert und gebahnt werden. Diese frühen Bahnungs- und Kanalisierungsmuster
sind später umso schwerer wieder auflösbar, je früher
sie entstanden und je häufiger und subjektiv erfolgreicher sie
zur Problembewältigung benutzt worden sind.“ Demgegenüber
könnte Angst- und Stressreaktionen entgegengewirkt werden durch
Vertrauen beispielsweise in die eigene Fähigkeit durch Wissen und
Erfahrung, durch Glaube und durch Vertrauen in die Fähigkeiten
anderer, das heißt durch Bindung. „Neuere
Forschungsergebnisse zur nutzungsabhängigen Plastizität des
sich entwickelnden menschlichen Gehirns haben eine grundsätzliche
Wandlung bisheriger Vorstellungen über die Bedeutung und den Einfluss
früher Bindungserfahrungen auf die Hirnentwicklung eingeleitet“,
erklärte Hüther. Angeborene genetische Verschaltungen bildeten
das neuronale Substrat. Das wiederum werde geprägt durch soziokulturelle
Einflüsse. Wachstum und Strukturierung des Gehirns hörten
nie auf - und beides würde bereits in der Schwangerschaft beginnen.
Kurz gesagt: „Das Hirn entwickelt sich so, wie man es benutzt.“
Abschließend interpretierte Prof. Hüther die Weisheit eines
afrikanischen Sprichwortes: „Um ein Kind vernünftig aufzuziehen,
braucht man ein ganzes Dorf“ - es biete sich einerseits Vielfalt
für das Kind, andererseits verhindere es die Überforderung
einer einzelnen, in unserer Kultur häufig isolierten Mutter. Das
verweigerte Antlitz
Sigrid
Chamberlain, Soziologin und Supervisorin aus Frankfurt hat als Autorin
des Buches „Adolf Hitler - die Deutsche Mutter und ihr erstes
Kind“ die verheerende
Wirkung eines bekannten und bis in die 60er Jahre weit verbreiteten
Ratgebers von Johanna Haarer zur Säuglingspflege und Sozialisation
im 3. Reich untersucht. Die Hinwendung der Mutter zu ihrem Kind würde
in dem Ratgeber systematisch „aberzogen“. In ihrem Vortrag
„Das verweigerte Antlitz - Über die Verhinderung von Liebesfähigkeit“
analysiert sie, auf welche Weise Müttern die angebliche Notwendigkeit
der Verweigerung des Blickkontakts durch dogmatische, aus heutiger Sicht
unglaubliche Handlungsanweisungen, nahegebracht und damit bereits „absichtsvoll
zu Beginn des menschlichen Lebens Bindungs-, Beziehungs- und Liebesfähigkeit
zerstört wurden.“ Ein
bestimmter Menschentypus, der schließlich zu Beziehungsunfähigkeit
und damit zu Kühle und Härte neige, habe dem erwünschten
„Erziehungsziel“ der Nazizeit entsprochen. Sigrid
Chamberlain setzt sich vor allem mit der nach wie vor starken Tabuisierung
dieses Themas auseinander: „Warum fällt es uns so schwer
zu erkennen, dass wir gerade im Umgang mit dem sehr kleinen Kind noch
sehr unter dem destruktiven Erbe des Nationalsozialismus leiden?“
Man denke nur daran, wie lange ‚strenge Fütterungszeiten‘
propagiert wurden oder an die auch heute noch bekannten Warnungen, ‘man
könne einen Säugling schnell zum Tyrannen erziehen‘,
wenn man seine Ängste und sein Bedürfnis nach Nähe bereitwillig
beruhige. Das
Rooming-in wurde in den letzen 20 Jahren nur sehr zögerlich eingeführt.
Sigrid Chamberlain gibt dabei zu bedenken, dass Frauen, die als Hebammen
oder im Pflege- und Erziehungsbereich ihre Ausbildung in der Nazizeit
erhielten, ihre rigiden, beziehungsfeindlichen Auffassungen zum Teil
noch weit in die 80er Jahre beruflich anwenden und weitergeben konnten. Eltern
sind nicht für alles verantwortlich!
Die
Zahl kinderloser Menschen wächst. 95 Prozent der unter 25-jährigen
wünschen sich ein Leben mit Kindern. Die Wirklichkeit sieht anders
aus: 30 Prozent der Frauen im entsprechenden Alter leben ohne Kinder
- Akademikerinnen und Führungskräfte sogar zu 50 Prozent. „Familien
brauchen Unterstützung - Prävention von Anfang an“ -
in Ihrem Vortrag fragt Ines Albrecht-Engel, Ethnologin, GfG-Bundesvorsitzende
und Autorin mehrerer Bücher: „Warum werden immer weniger
Kinder geboren?“ und „Warum sind Eltern heute so unsicher
im Umgang mit ihrem Kind, dass der Ratgeber-Markt boomt? Warum haben
wir Schlagzeilen über zunehmende Gewaltbereitschaft und fehlende
Konzentration bei den SchülerInnen, über mangelndes Verantwortungsgefühl,
über geringe Bereitschaft zum gesellschaftlichen Engagement? Niemals
in der Geschichte sind Kinder so wohlhabend und so gut versorgt aufgewachsen.
Niemals waren Eltern so gut informiert, gab es so viele Förderprogramme
und Beratungsmöglichkeiten - und doch steigt die Verunsicherung
der Eltern und das Gefühl, überfordert zu sein durch ständige
Präsenz, ständigen Entscheidungszwang und durch die Verantwortung,
als Eltern perfekt sein zu müssen - „Eltern sind immer an
allem Schuld!“ Ines
Albrecht-Engel hält die Isolation von Eltern für bedenklich:
„Eltern fragen eher online nach, als bei der eigenen Mutter oder
anderen Müttern.“ Da der Austausch mit anderen, die in der
selben Situation sind, für Eltern sehr entlastend sein kann, arbeitet
sie und die Familienbegleiterinnen der GfG an einem niedrig schwelligen
Kursangebot zur Stärkung der Kompetenz von Eltern, zum ‚Empowerment‘. Biographie
der Gewalt
Als
Prof. für Kriminologie hat Dr. Christian Pfeiffer, Justizminister
in Niedersachsen, in einer Untersuchung 30.000 Jugendliche über
ihre Familiensituation und ihre bisherigen Erfahrungen von Liebe bzw.
von Gewalt befragt. Er belegte in seinem Vortrag „Die Biographie
der Gewalt - viele Hiebe, wenig Liebe - Folgerungen für die Prävention“
das eindeutige, gleichzeitig einleuchtende und erschreckende Ergebnis:
Die eigene Erfahrung von Gewalt, hat einen unmittelbaren Zusammenhang
zu Jugendkriminalität, Drogenabhängigkeit oder Selbstmordgefährdung.
Umgekehrt legt eine unautoritäre, gewaltfreie und liebevolle Erziehung
den Keim für spätere Zivilcourage, beim Miterleben von Unrecht
und Gewalt beherzt einzugreifen und Opfern zu Hilfe zu kommen. Das
„elterliche Züchtigungsrecht“ wurde 1980 in Deutschland
abgeschafft. Noch immer wissen viele Eltern nicht, dass selbst die berühmte
„Ohrfeige“ verboten ist. Einen Mangel an Prävention
sieht Pfeiffer in dem alarmierenden Umstand, dass nur fünf Prozent
aller misshandelten Kinder beim Jugendamt oder Kinderschutzbund bekannt
werden - nur zehn Prozent der betroffenen Kinder ziehen einen Lehrer
ins Vertrauen. Eine „Garantie des Schweigens“ für das
Kind gegenüber seinen eigenen Eltern wäre eine notwendige
Maßnahme zum Schutze des Kindes auf seinem Weg Hilfe zu suchen,
so Pfeiffer. Gewalt
wird in der Familie gelernt
Dr.
Jürgen Schmetz, Kinder- und Jugendarzt, hat das Institut für
Prävention und Frühintervention im Kindes- und Jugendalter
in Hamburg gegründet. In seinem Vortrag über „Gewaltprävention
ab Nabelschnur durch Kinder- und Jugendärzte im Verbund mit beruflichen
Nachbarn“ stellte er die Frage: „Wie kommt Gewalt in die
Biographie?“. Und: „Wie können wir die Motivation,
Eltern zu sein, immer wieder anfrischen, wenn sich die ganz normalen
Krisen im Leben der Familie einstellen?“ Gewalt
werde vor allem in der Familie gelernt, wenngleich Eltern sich zunächst
nicht vorstellten, ihrem Kind mit Gewalt zu begegnen - die meisten Kinder
kämen heute als Wunschkinder auf die Welt. Doch das in der Phantasie
vorgestellte Kind weiche oft ab vom tatsächlich geborenen. Bereits
nach kurzer Zeit kann es zu einer „Anpassungsstörung zwischen
Eltern und Kind“ kommen. Schmetz
sieht eine gute Möglichkeit, in der kinderärztlichen Sprechstunde
gezielt die Eltern in ihrer feinfühligen Interaktion mit ihrem
Kind zu bestärken und nötigenfalls durch behutsame Hinweise
zu einer dauerhaften elterlichen Kompetenz zu führen. Elterliche
Andeutungen von Ratlosigkeit und Erschöpfung seien besonders Ernst
zu nehmen. So könnten Gefahren, die sich in der Kommunikation und
damit in der Beziehung zwischen Eltern und ihren Kindern ergeben, frühzeitig
erkannt werden – „bevor jemand zum ´Fall` wird.“
In
diesem Bemühen appellierte Dr. Jürgen Schmetz an eine vernetzte
interdisziplinäre Zusammenarbeit benachbarter Berufsgruppen, vor
allem auch an die Zusammenarbeit mit Hebammen. Schmetz hat die Methode
videogestützter Interaktionsanalyse entwickelt. Situationen im
Umgang zwischen Eltern und ihrem Kind werden in der Sprechstunde mit
Hilfe einer Videokamera aufgezeichnet, Passagen dieser Aufzeichnungen
gemeinsam betrachtet und analysiert. „Oft werden klare Signale
des Babys übersehen.“ Mit diesem vorgehaltenen Spiegel wird
Eltern ihr eigenes Verhalten im Umgang mit ihrem Kind deutlich, notwendige
Änderungen in der Kommunikation können sichtbar gemacht werden.
„Schauen wir, dass sich die Biographie der Familie stressarm entwickelt,“
ermutigt Schmetz: „Weniger Stress für die Eltern bedeutet
immer auch weniger Misshandlungsrisiko für die Kinder.“ Getrennte
Geburtsvorbereitung
„Geburtsbegleitung
als Nährboden der Liebe“ hieß der Vortrag der Hebamme
Hanna Fischer. Väter müssten noch mehr von Anfang an einbezogen
werden und das sei ihnen auch zuzumuten. In
ihren Geburtsvorbereitungskursen vergleicht die Hebamme den Schmerz
und die extreme körperliche Belastung von Frauen bei der Geburt
mit sportlichen Höchstleistungen und die Geburt des Kindes mit
einem Olympiasieg, der bei jedem Kind als solcher gefeiert werden sollte.
Sie
könne sie Männern beispielsweise leicht erklären, warum
die Frau bei der Geburt „laut“ sein müsse, wenn sie
diese Parallelen zum Leistungssport zieht. Männer müssten
besser, vor allem anders auf die Geburt vorbereitet werden. Sie plädiert
für eine getrennte Vorbereitung, weil Mann und Frau unterschiedliche
Aufgaben bei der Geburt zu leisten hätten. Eine „Ehrfurcht
vor der Leistung der Frau“ müsse noch mehr vermittelt werden.
Angesichts der herrschenden Realität der Geburtshilfe, sagt sie:
„Wir können auf die Mithilfe des Mannes mittlerweile nicht
mehr verzichten.“ Früher sei eine Gebärende von bis
zu fünf helfenden Frauen begleitet worden, heute sei das Verhältnis
nicht selten umgekehrt. „Gute
Geburtsbegleitung beginnt schon in der Schwangerschaft: In der Vorsorge
und Geburtsvorbereitung“ ist die Auffassung von Hanna Fischer.
„Eine ungestörte erste Begegnung zwischen Mutter, Vater und
Kind ist so wichtig, hier nimmt die Liebe ihren Anfang!“ ((Hanna
Fischer machte auf ein Mysterium aufmerksam: „Eine gebärende
Frau schüttet dieselben Hormone aus, wie ein sterbender Mensch.“
Und bei beiden könne man das gleiche Zeichen beobachten: ein weißes
Dreieck um Mund und Nase sei in beiden Fällen ein Anzeichen, dass
der große Moment unmittelbar bevor stehe.)) „Im Moment der
Geburt des Kindes findet die höchste Ausschüttung von Oxytocin
statt, mehr als während der ganzen Geburt zuvor.“ In diesem
Moment der totalen Erregung erlebe die Frau die totale Offenheit für
ihr Kind, ihre Seele liege bloß. Sie folgerte: „Die Mutter
braucht Zeit, um wieder zu sich zu kommen und um bei ihrem Kind zu sein.“
Wenn Tiere in dieser Zeit gestört würden, verließen
sie ihre Jungen. Auch beim Menschen bleibe dies nicht ohne Auswirkungen.
Grundbedürfnisse
wie zum Einschlafen
Der
französische Frauenarzt Dr. Michel Odent, Leiter des Forschungsinstituts
„Primal Health Research Centre“ in London und bekannter
Autor verschiedener kritischer Bücher zu Fragen der Geburtsmedizin,
stellt sich die Frage: „Warum herrscht in Fachkreisen so ein ausgeprägtes
Desinteresse an den wissenschaftlichen Erkenntnissen der Physiologie
der Geburt, in Zeiten, in denen der Wunschkaiserschnitt in Mode gekommen
ist und die Geburtshilfe von umfassender Technisierung geprägt
ist?“ In
Großbritannien werde gegenwärtig bei sieben Prozent aller
Geburten ein Wunschkaiserschnitt durchgeführt. Odent zitierte einen
Professor der Geburtshilfe, der prophezeit, dass diese Form der Entbindung
demnächst die Norm sei, wo doch mittlerweile das Risiko dieser
Entbindungsmethode nicht höher sei, als eine spontane Geburt. Warum
sollten Frauen die Anstrengungen und die Schmerzen der natürlichen
Geburt noch auf sich nehmen, während sie stattdessen in Periduralanästhesie
gleichzeitig mit den Wehen beispielsweise Fernsehen können? Dieser
angebliche Mangel an Motivation zu einer physiologischen Niederkunft
regt Odent an zu wissenschaftlichen Betrachtungen der ‘Wurzeln
der Liebe‘. In verschiedenen Fachgebieten seien mittlerweile umfangreiche
Erkenntnisse darüber zusammengetragen worden, dass die perinatale
Periode Langzeitkonsequenzen für Mutter und Kind habe. Leider
würde das noch nicht überall verstanden, da viele Zusammenhänge
übersehen würden: Die Forscher arbeiteten alle spezialisiert
auf ihrem jeweiligen Fachgebiet, die Daten ihrer Forschungen seien zwar
alle in angesehenen Fachzeitschriften veröffentlicht worden, aber:
Sie würden nicht „verlinkt“. Odent
zeigte sich verwundert, dass wichtige Studien zu diesen Zusammenhängen
nicht besser bekannt sind. Zum Beispiel sei in Schweden eine wichtige
Studie zum Thema Drogenabhängigkeit veröffentlicht worden,
die ergeben habe, dass Kinder, deren Mütter während der Geburt
Schmerzmittel erhalten hätten, mit größerer Wahrscheinlichkeit
später durch Drogenabhängigkeit gefährdet wären.
Diese Studie wäre zwar in einer wichtigen Fachzeitschrift publiziert,
jedoch nie weiter verbreitet oder erwähnt worden. Ähnliche
Beobachtungen habe Odent gemacht bei Forschungen über Zusammenhänge
der Bedingungen der Geburt und der späteren Gefährdung durch
Gewalt und Kriminalität, durch Anorexia nervosa, Autismus oder
Selbstmordgefährdung. Odent hat die Autoren all dieser Studien
selbst aufgesucht und herausgefunden, dass die Forscher die größten
Schwierigkeiten bürokratischer Art oder durch ethische Gremien
gehabt hätten: Zusammenhänge zur Geburt herzustellen, scheine
als nicht „politisch korrekt“ zu gelten und würde entsprechend
ignoriert. Es gäbe also seiner Erkenntnis nach gute Gründe,
die Physiologie der Geburt besser zu verstehen, um damit die Grundbedürfnisse
der Gebärenden besser zu berücksichtigen. Nach seiner Beobachtung
hätten fast alle Gesellschaften die Tendenz, die Geburt und Zeitspanne
von der Geburt des Kindes bis zur Geburt der Plazenta zu stören. „Was
bedeutet die Physiologie der Geburt?“ Anders als die in den Gesellschaften
als „normal“ angesehenen Bedingungen während einer
Geburt - eine Sicht, die entsprechend soziokulturell geprägt sei
und in Tokio etwas anderes bedeuten könne als in Göttingen
- lieferten die physiologischen Bedingungen der Geburt „Referenzpunkte“,
die eine übergreifende, allgemeine Bedeutung hätten. Wenn
die kulturell üblichen Bedingungen von den physiologisch notwendigen
Bedingungen zu stark abweichen würden, würde diese Gesellschaft
von negativen Ergebnissen „bestraft“. Sie solle sich daher
darüber bewusst sein, wie weit sie von diesen physiologischen Grundbedingungen
der Gebärenden abweiche. Mit
den Augen des Physiologen seien die archaischen Teile des Gehirns, Hypophyse
und Hypothalamus für eine optimale Aktivität der Geburtshormone
verantwortlich. Sie seien aktiv bei allen Situationen sexuellen Lebens.
Hemmungen dieser Aktivität entständen immer im neueren Anteil
des Gehirns - der Neokortex. Für eine optimale Aktivität der
archaischen Hirnanteile sei es unerlässlich, dass sich die Gebärende
in einen anderen Bewusstseinszustand fallen lassen könne - der
einzig wirklich wichtige Punkt: die Neokortex der gebärenden Frau
solle so wenig wie möglich aktiv sein, auf keinen Fall sollte sie
unter der Geburt unnötig stimuliert werden. Zum
Schutz der Geburt seien vier Faktoren zu berücksichtigen:
Dieses
sei die Wurzel des Hebammenwesens: Die Hebamme repräsentiere eine
Mutterfigur, den Archetyp der Sicherheit gebenden Mutter. Michel
Odent erinnerte an ein sehr altes Buch, in dem zur Physiologie der Geburt
zwei hochsignifikante Beobachtungen zu finden seien: Zunächst,
dass die „Sünde“, das Essen der Frucht „zuviel
zu wissen“ zu schwierigen Geburten führe. Eine andere Passage
beschreibe die Umstände der Geburt eines Mannes, der für seine
Mission, die Liebe zu verkünden, bekannt wurde. Die Mutter dieses
Mannes habe eine optimale Strategie gewählt, ihre Neokortex bei
der Geburt möglichst wenig zu stimulieren: „Sie gebar ungestört
in einem dunklen Stall, umgeben von Säugetieren.“
Die
Wirkung der Vorträge aus ihren verschiedenen Blickwinkeln zeigte
wieder einmal, dass das Ganze mehr sein kann als die Summe seiner Teile:
Die vielfältigen Forschungsergebnisse und Anregungen unter dem
Motto „Liebe fördern, um Gewalt zu verhindern“ machten
auf beeindruckende Weise plausibel, wie wesentlich und im Grunde, wie
einfach und effektiv „Gewaltprävention ab Nabelschnur“
für das ganze Leben eines Menschen sein kann. Das
Thema der Tagung hatte bereits seine Wirkung in der Organisation: Es
war die erste gemeinsame Veranstaltung der GfG und des Bundes Deutscher
Hebammen, die damit eine viele Jahre andauernde Fehde beigelegt hatten.
Ines Albrecht-Engel (GfG) und Magdalene Weiß (BDH), verkündeten
das Ende des Streits und ab jetzt die fachliche Zusammenarbeit der beiden
Verbände - zum Nutzen der Familien.
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