Autorin: Katja Baumgarten

DEUTSCHE HEBAMMEN-ZEITSCHRIFT Heft11/2000

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Hinweis zu
allen Links

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Aachen: 1. Europäischer Kongress
für außerklinische Geburtshilfe

In Aachen trafen sich vom 28. September bis 1. Oktober 2000 etwa 250 freiberufliche Hebammenaus zahlreichen europäischen Ländern zum ersten gemeinsamen Kongress. Neuste Erkenntnisse aus der Forschung der Hebammengeburtshilfe.
Eindrücke von Katja Baumgarten

"Sie sind eine potentielle Mörderin!" Gegen Sätze von solchem Kaliber seitens mancher Gynäkologen mußte ich zu Beginn meiner Hausgeburtspraxis gelegentlich gewappnet sein. Vor 17 Jahren stärkte mir der Austausch mit den wenigen ähnlich arbeitenden Kolleginnen in meinem Umkreis und vor allem die freigiebige Lebenserfahrung mancher älterer Kollegin an der Pensionsgrenze den Rücken. Umso begeisterter erlebte ich den 1. Europäischen Kongress für außerklinische Geburtshilfe.

In Aachen trafen sich vom 28. September bis 1. Oktober an die 250 freiberufliche Hebammen aus zahlreichen europäischen Ländern. Ein hochkarätiges Programm aus Vorträgen und Workshops mit den neusten Erkenntnissen aus der Forschung der Hebammengeburtshilfe war Grundlage für reichhaltige Anregungen und lebendigen Austausch. Eingeladen hatten die vier Organisatorinnen Bärbel Kesting (Pegasus-Fortbildungsakademie für Hebammen), Eva Maria Müller-Markfort (Bund freiberuflicher Hebammen Deutschlands - BfHD), Christina Oudshoorn (European Workgroup of Independent Midwives) und Anna Rockel-Loenhoff (BfDH und European Workgroup of Independent Midwives).

Fast zuviel des Guten - viele interessante Vorträge und Workshops mit über 70 Referentinnen und Referenten liefen parallel, da ging es nicht ohne die Qual der Wahl und es kam in den vier Kongresstagen ein wenig Atemlosigkeit auf. Schade, daß angesichts des exzellenten Angebots nicht noch viel mehr Hebammen den Weg nach Aachen gefunden haben. Gerade in der freien Praxis mag eine so lange Abwesenheit für viele Kolleginnen undurchführbar gewesen sein.

Den Eröffnungsvortrag hielt Prof. Dr. Beate Schücking: "Frauengesundheit und Hebammengeburtshilfe". Anhand von wissenschaftlichen Studien belegte sie, wie durch gute, kontinuierliche Hebammenbegleitung die medizinische Interventionsrate vermindert und die Kompetenz und Zufriedenheit der gebärenden Frauen gestärkt würde. Andererseits könne durch ein traumatisches Geburtserlebnis die sekundäre Sterilitätsrate erheblich ansteigen. Von einem Sectio-Symposium in Zürich berichtete sie u.a. von einer bemerkenswerten Berechnung: jedes Prozent Anstieg der Sectio-Frequenz in Deutschland führt zu zusätzlichen Ausgaben für das Gesundheitswesen um je 22 Mio. DM.

Der Workshop "Präklinisches Notfallmanagement für Mutter und Neugeborenes" war "der Renner": die Veranstaltung wurde von dem Notarzt Dr. Claus-Bert Lennartz dreimal durchgeführt und war jedesmal ausgebucht. Einleitend eine Anekdote zu Picassos Lebensanfang: er kam leblos zur Welt, schrie nicht, atmete nicht - die Hebamme wandte sich von ihm ab, der Mutter zu. Zum Glück gab ihn sein Onkel nicht sofort auf, sondern blies ihm den Rauch seiner Zigarre in die Nase - ein Reiz, der ihm das Leben gerettet haben soll. "Die Zahl der Neugeborenen, die durch einfache Atemwegsmaßnahmen hätten gerettet werden können, wird weltweit auf etwa 800.000 / Jahr geschätzt." Ein praxisnaher Vortrag über Lebensrettungssofortmaßnahmen folgte, mit angenehmer Aufgeschlossenheit für den Erfahrungsschatz aus den Reihen der teilnehmenden Hebammen. Seine empfohlene Notfallausrüstung lag zur Anschauung und zum Ausprobieren bereit.

Ebenfalls sehr anregend der Workshop "Erfahrungsaustausch zur Entwicklung der Beckenendlage". Prof. Dr. A. Rockenschaub zog das Resümee aus 1013 dokumentierten Steißlagen während seiner Zeit als Leiter der Ignaz-Semmelweis-Klinik in Wien 1965 bis 1987. 44.500 Kinder wurden in dieser Zeit dort geboren - in der er "möglichst alles ignorierte, was in der Geburtsmedizin erfunden wurde". Stattdessen wurde so vorgegangen, wie erfahrene Hebammen Geburtshilfe leisten. "Wir wissen nichts!" war einer der wiederholten Aussprüche des kritischen Geburtshelfers, der die gängige Lesart der Schulmedizin fortwährend in Frage stellt und der sich auch mit der Frage nach den Ursachen befaßte, warum ein Kind in Beckenendlage liegt. Eine der Spuren, die er lebenslang verfolgte, war die Annahme, daß möglicherweise eine Unreife des Mittelhirns mit daraus folgender Entwicklungsunreife der Stellreflexe die Ursache sein könnte. Steißgeburten wurden grundsätzlich spontan erwartet: Sectio-Rate 2%! (1% Sectio-Rate insgesamt). Für die beste Gebärposition bei BEL hält er die Hocke: erstens, weil das Kind so am Besten "von selbst" geboren wird, zweitens, weil in dieser Position keine störenden Eingriffe der Geburtshelfer möglich sind. Das Kind hilft selbst bei seiner Geburt mit, wenn man es läßt - so hat Prof. Rockenschaub beobachtet, das das Kind bei der Gefahr hochschlagender Arme, diese selbst wieder zurückzieht.

"Hände weg von der Steißlage" hieß der Vortrag der schottischen Hebamme Mary Cronc, die mit ihrer Erfahrung und Erscheinung verkörperte, was man sich landläufig unter einer Hausgeburtshebamme vorstellt. Der Titel meinte ebenfalls das äußerst abwartende Vorgehen bei Beckenendlagengeburt: "Don't touch anything!" Keine Berührung des Kindes während des Durchtritts seines Körpers solange bis der Hals geboren ist - dann erst vorsichtig bei der Geburt des Kopfes unterstützen. Die von ihr empfohlene Geburtsposition bei BEL ist die Stellung, die die Frau natürlich wählt. Keine Wehenmittel: wenn es nicht weitergeht, sei das ein Zeichen für eine Sectio. Stattdessen hat sie kein Limit, was die Größe des Kindes angeht, solange die Wehentätigkeit und der Geburtsfortschritt gut sind. Die Geburt des 2. Zwilling ist für sie der einzige Grund das Kind aktiv zu entwickeln.

Schließlich stellte Tom Wennekers, männliche Hebamme aus den Niederlanden und Hebammenlehrer, die lebhaft diskutierte Frage, warum so wenige Hausgeburtshebammen Beckenendlagengeburten zu Hause betreuen. Die meisten Kolleginnen antworteten, daß sie sich durch ihre unzureichende Ausbildung fachlich nicht sicher genug fühlten. Eine Kollegin, die regelmäßig Beckenendlagengeburten begleitet gab an, daß ihr durch das Gesundheitsamt Steine in den Weg gelegt werden: sie wurde bereits durch ihren Amtsarzt abgemahnt. In den Niederlanden gehört die Entbindung von Steißlagen zu den normalen Aufgaben der Hausgeburtshilfe.

Im sehr bewegenden Workshop "Todgeburt - Trauer" berichtete Rita Kamprad - Strothoff von ihren Erfahrung bei der Begleitung eines Elternpaares, das sich nach der Diagnose "Anencephalus" entschieden hatte, sein Kind zu Hause zur Welt zu bringen. Die gleiche Diagnose für sein Kind war einem anderen Elternpaar gestellt worden. Das anwesende junge Paar berichtete aus der anderen Perspektive von seinem Erlebnis. Ihre Hebamme wollte die gewünschte Hausgeburt nicht verantworten. Die Tochter wurde im Krankenhaus geboren, anschließend nahmen die Eltern ihr Kind mit nach Hause, wo sie gemeinsam mit ihrem Kind seine kurze Lebenszeit verbrachten bis es starb.

Die Fülle der informativen und anregenden Eindrücke wiederzugeben sprengt diesen Rahmen. Es gab Vorträge zur Arbeitssituation der Hebammen aus verschiedenen europäischen Ländern, zu praktischen, medizinischen und organisatorischen Seiten der Hebammentätigkeit sowie zu ethischen Fragestellungen. Die Organisatorinnen haben einen Reader angekündigt auf den man gespannt warten darf. Die DHZ wird einige der interessanten Vorträge vorabdrucken.

Die Veranstaltung endete mit der Verabschiedung einer Resolution zur Stellung der Hebamme im Europäischen Gesundheitswesen, die während der Kongresstage von drei Arbeitsgruppen erarbeitet wurde und an das Europäische Parlament nach Brüssel weitergeleitet werden soll.


Die Autorin

Katja Baumgarten ist freie Hebamme, Filmemacherin und Journalistin in Hannover. Sie ist Mitglied der Redaktion und als Fachbeirätin für die Deutsche Hebammen Zeitschrift tätig.
Weitere Informationen: www.KatjaBaumgarten.de

Dokumentarfilme vom Katja Baumgarten
Weitere Artikel von Katja Baumgarten
_________________________________________________________________________