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Model in der Eingangshalle des ICC –
wie lange wird der Perinatal-Kongress
dort noch stattfinden?
Foto: Katja Baumgarten
Kongress für Perinatale Medizin
Katja Baumgarten hat den 22. Deutschen
Kongress für Perinatale Medizin besucht, der vom 1. bis 3. Dezember
2005 in Berlin mehr als 2.000 ÄrztInnen und Hebammen anzog
„Perinatalmedizin – eine interdisziplinäre Herausforderung“,
war das Motto in diesem Jahr. Angesichts der Umwälzungen im Gesundheitssystem
versprach dies ein spannendes Programm, zumal die Deutsche Gesellschaft für
Perinatale Medizin den Kongress wieder - wie bereits beim letzten Mal vor zwei
Jahren - in Zusammenarbeit mit dem Bund Deutscher Hebammen (BDH), der Gesellschaft
für Neonatologie und Pädiatrische Intensivmedizin (GNPI) und dem
Board für Pränatal- und Geburtsmedizin der Deutschen Gesellschaft
für Gynäkologie und Geburtshilfe (DGGG) ausgerichtet hatte. Dem Austausch
der verschiedenen Berufsgruppen hat dieser Ansatz gut getan. Hebammen waren
nicht nur zahlreich im Publikum vertreten, sondern stellten professionell ihre
eigenen Positionen und Blickwinkel vor: als Referentinnen bei den Podiumsdiskussionen,
Workshops, den wissenschaftlichen Vorträgen und Posterpräsentationen
- häufig mit doppelter Kompetenz, im angestammten Hebammenberuf und zusätzlicher
Qualifikation durch ein Studium.
Für den Hebammenanteil des Programms war Ulrike von Haldenwang, Vorsitzende des Berliner Hebammenverbandes verantwortlich.
Sie hatte eine ausgezeichnete Auswahl getroffen.
Dem Kongresspräsidenten Prof. Dr. Klaus Vetter,
Direktor der Klinik für Geburtsmedizin am Vivantes Klinikum Neukölln,
Berlin, mit seinem Organisationsteam und den zahlreichen engagierten
Referenten war es zu verdanken, dass dieser größte deutsche
Geburtshilfekongress ein voller Erfolg wurde. Vetter, der in den Kongresstagen
auch zum Präsidenten der Deutschen Gesellschaft für Perinatale
Medizin (DGPM) gewählt wurde, würdigte bei der Eröffnungsveranstaltung
den 80-jährigen Ehrenpräsidenten Prof. Dr. Erich
Saling für seine Verdienste in der Perinatalmedizin,
als deren Begründer er gilt. Vor 45 Jahren, 1960, habe Saling
mit der „Mikroblutuntersuchung am Feten“ die allererste
direkte Untersuchung am ungeborenen Kind durchgeführt.
Verändertes Selbstverständnis
Als ich 1981 als junge Hebamme zum ersten Mal den damals 10. Kongress
für Perinatale Medizin in Berlin besuchte, war ich nicht nur beeindruckt
vom nagelneuen ICC, das erst zwei Jahre zuvor fertig gestellt worden
war und in seiner futuristischen Architektur für die technische
Verheißung stand. Die geburtshilflichen Themen wurden entsprechend
diesem Zeitgeist mit medizinisch-technischem Optimismus diskutiert.
Frauen – damals entweder „gefügig“ oder ungeliebt „aufmüpfig“ -
waren als Kundinnen oder potenzielle Klägerinnen noch nicht entdeckt.
Heute waren psychosoziale, ethische und gesellschaftliche Themen oder
auch „Geburtspositionen“ selbstverständlich im Themenspektrum
dabei, und die Zahlen der perinatalen Qualitätssicherung wurden
für den klinischen wie den außerklinischen Bereich vorgestellt.
Dass mehrmals dasselbe Cartoon Vorträge von Ärzten humorvoll
illustrierte, wirft ein Bild auf ihre innere Arbeit am sich wandelnden
Selbstverständnis: ein Arzt, links im Bild, gebeugte Haltung – in
seiner Sprechblase die eigentlich ganz normale Frage: „Wie möchten
Sie gerne entbinden?“. Sein Gegenüber ist eine kerzengerade
dralle Hochschwangere - mit einer mächtigen goldgelben dreistöckigen
Krone auf dem Haupt. Treffen Mediziner in ihrem Alltag tatsächlich
auf diese gekrönte Schwangere oder illustriert sie vielleicht
eher ein „Schreckensbild“ vom möglichen Verlust ärztlicher
Dominanz? Auch sonst ist unterdessen manches im Umbruch: Der Abriss
des ICC wird diskutiert – es ist heute zu teuer.
Zusammenarbeit in Augenhöhe
Das Motto des Kongresses griff eine Podiumsdiskussion auf, die von Prof.
Dr. Friederike zu Sayn-Wittgenstein von der Fachhochschule
Osnabrück moderiert wurde: „Professionelle Betreuung während
Schwangerschaft, Geburt und Wochenbett – wie wird die interdisziplinäre
Kooperation gestaltet?“ Simone Kirchner,
Lehrhebamme und Diplom-Psychologin aus Berlin, sprach über die
Zusammenarbeit zwischen Hebammen und ärztlichen GeburtshelferInnen.
Zuarbeit sei nicht dasselbe wie Zusammenarbeit: Kollegialer Austausch,
gegenseitige Konsultation, Intervision, und Supervision, seien die äußeren
Merkmale von Zusammenarbeit.
Die Voraussetzung müsse die Anerkennung der unterschiedlichen
Fachkompetenzen sein als gleichwertige Ressourcen mit spezifischen
Ausrichtungen. Sie empfahl, gemeinsam Leitbilder für die Kooperation
zu entwickeln. Darin sollten die Aufgaben der Fachdisziplinen abgesteckt
werden, die selbstverantwortlich erbracht werden. Auch eine ausdrückliche
Bestätigung der gegenseitigen Anerkennung sollte enthalten sein.
Dies biete eine gute Grundlage für eine beidseitig ausgerichtete
Konsultation im Bedarfsfall.
Vier Stufen der Versorgung
„Adäquate Versorgung – Strukturelle Voraussetzungen unter
Randbedingungen von DRG, IV (Integrierte Versorgung), MVZ (Medizinisches Versorgungszentrum)“ war
der spröde Titel einer interessanten Podiumsdiskussion. Sie wurde von Prof.
Dr. Peter Bartmann, Leiter des Zentrums für Kinderheilkunde,
Abteilung für Neonatologie der Universität Bonn moderiert. Im Mittelpunkt
stand die Einstufung von Entbindungskliniken gemäß der „Vereinbarung über
Maßnahmen zur Qualitätssicherung der Versorgung von Früh- und
Neugeborenen“ vom September 2005. Noch scheint es Unklarheit zu geben,
wie sie auszulegen und umzusetzen ist – jedenfalls konnte man das den
vielen Fragen und verunsicherten Beiträgen aus dem Publikum entnehmen.
Vier Stufen der neonatologischen Versorgung sind an bestimmte definierte Qualitätsmerkmale
gebunden. Bei einem „Perinatalzentrum Level 1“ - für die Versorgung
von Patienten mit höchstem Risiko - hieße das beispielsweise, dass
unter anderem eigenständige neonatologische und geburtshilfliche Abteilungen
mit entsprechend qualifizierten Leitungen unter einem Dach vereint sein müssen,
sowie die 24-Stunden-Präsenz von Neonatologen und Geburtshelfern. 80 bis
100 solcher Zentren der höchsten Versorgungsstufe wird es künftig
geben.
„Perinatalzentren Level 2“ sollen für die möglichst flächendeckende
intermediäre Versorgung von Patienten mit hohem Risiko zur Verfügung
stehen. „Perinatale Schwerpunkte“ stehen für die flächendeckende
Versorgung von Neugeborenen bereit, bei denen eine postnatale Therapie absehbar
ist, durch eine leistungsfähige Neugeborenenmedizin in Krankenhäusern
mit Geburtsklinik und Kinderklinik.
Die unterste Stufe der Krankenhausversorgung bildet die „Geburtsklinik“ ohne
Kinderklinik, in denen nur noch reife Neugeborene ohne bestehendes
Risiko zur Welt kommen sollen. Neugeborenentransporte sollen generell
nur noch in unvorhersehbaren Notfällen erfolgen. Diese Klassifizierung
ist die Vorraussetzung dafür, dass ein Krankenhaus gewisse Leistungen
erbringen und im DRG-System abrechnen darf – deshalb hängt
die wirtschaftliche Situation einer Klinik ganz entscheidend von ihrer
möglichst hohen Einstufung ab.
Monika Selow, Beirätin für den freiberuflichen
Bereich im BDH, machte auf die Schwierigkeit der Bewertung der Hebammenleistungen
in diesem System aufmerksam – gerade wenn sie in freiberuflicher Tätigkeit
durch Beleghebammen erbracht würden. In vielen Regionen, besonders in
Bayern, seien in jüngster Zeit die Beschäftigungsverhältnisse
von Hebammen in Belegsysteme umgewandelt worden. Rufbereitschaft, Telefondienste,
Routineaufgaben im Kreißsaal und andere Tätigkeiten würden
durch die DRG-Abrechnung nicht erfasst. Prof. Dr. Joachim Dudenhausen, Direktor der Klinik für Geburtsmedizin am Campus Virchow-Klinikum,
fürchtete eine Verwässerung des Begriffs Perinatalzentrum, das nun
nach Level 1 und Level 2 unterschieden würde. Ein Perinatalzentrum nach
seinem Verständnis habe grundsätzlich den höchsten Qualitätsstandard
vorzuweisen, um diese Bezeichnung zu verdienen.
Stille und Ruhe, Zeit und Geduld
„Die Leitung der vaginalen Geburt“ wurde moderiert von Prof.
Dr. Axel Feige, bis vor kurzem Chefarzt der Geburtshilfe im
Nürnberger Klinikum Süd. Eine der Voraussetzungen dafür müsse
eine kurze „EEE-Zeit“ sein, das heißt die Zeitspanne vom Erkennen
eines Notfalls zum
Entscheiden und Entbinden,
sollte geringer als 20 Minuten sein – mit Betonung auf das rechtzeitige
Erkennen, was dabei häufig außer Acht gelassen werde. Gleichzeitig
sei aber auch der Leitsatz, der ihn sein Leben lang begleitet habe, heute so
aktuell wie vor 200 Jahren. Damals habe Adam Elias von Siebold, einstiger Professor
für Geburtshilfe in Würzburg, gelehrt: „Stille und Ruhe, Zeit
und Geduld, Achtung der Natur und dem gebärenden Weibe, und der Kunst
Achtung, wenn ihre Hülfe die Natur gebietet.“ „Was können Ärzte
und Hebammen tun, um die vaginale Geburt wieder gesellschaftsfähig zu
machen – gegen den Trend zur ‚Prominentengeburt’ per Sectio?“,
fragte er in die Runde.
Prof. Dr. Beate Schücking von der Fachhochschule
Osnabrück stellte daraufhin Ergebnisse ihrer Untersuchungen vor, wonach
Frauen umso zufriedener sind, je normaler und ungestört ihre Geburt verlaufen
sei. Irritiert zeigte sie sich von dem Resultat, wonach Frauen mit einem normalen
und unkomplizierten Schwangerschaftsverlauf kaum weniger unter Interventionen
litten als Risiko-Schwangere. Sie empfahl für die Austreibungsperiode
ein liberales Zeitmanagement, vertikale Geburtspositionen und kein forciertes
Pressen oder gar Kristellern. Sie wies außerdem auf die bekannten WHO-Empfehlungen
zu den zehn häufigsten Fehlern in der Kreißsaal-Routine hin. Zum
Beispiel Nahrungskarenz, Periduralanästhesie ohne Indikation, kontinuierliche
CTG-Überwachung, häufige vaginale Untersuchungen durch verschiedene
Personen oder Amniotomie, gehörten nicht mehr zu einer zeitgemäßen
Leitung der Geburt. Sie empfahl, klinische und psychosoziale Strategien zur
Förderung der vaginalen Geburt zu entwickeln, um bereits die Erst-Sectio
zu vermeiden.
Dr. Ute Germer, Oberärztin an der Frauenklinik
St. Josef in Regensburg sprach über die Überwachung des Feten in
der Eröffnungs- und Austreibungsperiode. Die Online-Auswertung des CTGs
sei heute noch Zukunftsmusik und werde von Fachgesellschaften nicht empfohlen,
könne für Anfänger jedoch eine wertvolle Hilfe darstellen.
Sie betonte die Notwendigkeit einer einwandfreien Dokumentation. Ein
normales CTG müsse unter der Geburt alle zwei Stunden durch die
Hebamme oder den/die ÄrztIn beurteilt werden, was mit einem Aktenvermerk
zu dokumentieren sei, ein suspektes CTG alle 30 Minuten. Beim pathologischen
CTG müsse eine kontinuierliche Überwachung und eine dokumentierte
Beurteilung alle zehn Minuten erfolgen. Alle Unterlagen seien 30 Jahre
lang aufzubewahren. Germer empfahl nicht nur eine jährliche CTG-Fortbildung,
sondern auch die routinemäßige Ultraschalluntersuchung unter
der Geburt zur Beurteilung des kindlichen Hinterhauptes im Verhältnis
zum mütterlichen Becken. Kontroll-Untersuchungen an 102 Schwangeren
hätten ergeben, dass nur 47 Prozent der UntersucherInnen eine
zutreffende Diagnose bei der vaginalen Untersuchung gestellt hätten.
Selbst erfahrene UntersucherInnen seien in 30 Prozent der Fälle
zu unkorrekten Untersuchungsergebnissen kommen.
Prof. Ralf Schild von der Frauenklinik Erlangen
sprach sich für ein aktives Vorgehen bei fehlendem Geburtsfortschritt aus. Für
die Austreibungsperiode hätten Studien gezeigt, dass das kindliche Outcome
bei unauffälligen Herztönen keine Unterschiede gezeigt habe,
unabhängig von der Dauer der Austreibungsphase.
Für die Mutter gehe dies allerdings mit einem Ansteigen der Komplikationsrate
einher.
Schmerzen einer Amputation
Den Workshop „Schmerzwahrnehmung und Schmerztherapie in der Geburtshilfe“ moderierte Prof.
Dr. Werner H. Rath, Direktor der
Aachener Universitäts-Frauenklinik für Gynäkologie und
Geburtshilfe. „Ich werde sehr mehren die Mühsal deiner Schwangerschaft,
mit Schmerzen sollst du Kinder gebären.“, zitierte er den
bekannten Fluch Gottes aus dem Buch Moses. Dieser werde im Zeitalter
kritischer, internetaufgeklärter Frauen nicht mehr akzeptiert.
Effektive Schmerzbehandlung sei bei der heutigen kompetetiven Werbung
um jede Schwangere ein wichtiger Punkt in der Geburtshilfe. Elisabeth
Braasch aus Karlsruhe machte die Möglichkeiten und Grenzen
der natürlichen Schmerzlinderung im Rahmen ihrer Arbeit als freiberufliche
Hebamme in der außerklinischen Geburtshilfe deutlich.
Die Anästhesistin Dr. Wiebke Gogarten vom Universitätsklinikum Münster wies darauf hin, dass Schmerz
mit dem McGill Pain Score objektiv zu erfassen sei. Erstgebärende
würden demnach auf einer definierten Skala eine Einstufung erreichen,
die in der Schmerzintensität fast der Amputation eines Fingers
entspräche. Daher müsse für Frauen das Angebot einer
wirkungsvollen Schmerztherapie selbstverständlich sein. Es sei
erwiesen, dass beispielsweise die systemische Gabe von Opioiden gegen
Schmerzen bei der Geburt unwirksam sei. Ebenso wenig empfahl sie das
Medikament Buscopan compositum, für das kein Nutzen nachgewiesen
sei. Aus ihrer Sicht sei die Periduralanästhesie das Mittel der
Wahl.,. Diese Schmerztherapie habe in den vergangenen zehn Jahren erhebliche
Fortschritte gemacht. Heute könnten Frauen die Dosierung, die
sie benötigen, selbst in die Hand nehmen, und damit den Verbrauch
an Schmerzmitteln auf die Hälfte senken. 20 Minuten nach dem Setzen
einer PDA sei nur noch zehn Prozent der Schmerzintensität zu verspüren.
Auch mit PDA hätten 80 bis 90 Prozent der Frauen keine motorische
Blockade und könnten aufstehen, sich frei bewegen und in der Austreibungsperiode
ihr Kind aktiv auf die Welt bringen, was zu weniger instrumentellen
Entbindungen führe als früher. Das Verlangen einer Schwangeren
nach Schmerzlinderung sei eine ausreichende Indikation für eine
PDA.
Verantwortung der Gesellschaft
Prof. Dr. Bernhard-Joachim Hackelöer,
Leiter der Abteilung Pränatale Diagnostik und Therapie am Hamburger
Allgemeinen Krankenhaus Barmbek, dem in diesem Jahr der Maternité-Preis
verliehen wurde, leitete die Podiumsdiskussion „Fenster zum
Genom – Die Pränataldiagnostik vom individuellen zum gesellschaftlichen
Thema“. Der renommierte Ultraschall-Experte stellte heraus,
dass Pränatale Diagnostik entgegen der häufig vertretenen
Ansicht, nicht im „search and destroy“, im Suchen und
Zerstören, ihren Sinn habe, sondern im „find and treat“,
im Erkennen und Behandeln von Erkrankungen des Ungeborenen. In unserem
Nachbarland Holland, wo im Übrigen durch eine unzureichende
Pränataldiagnostik viele Fehlbildungen von Ungeborenen übersehen
würden, habe man einen bedenklichen Weg eingeschlagen: Seit
die aktive Sterbehilfe dort legalisiert worden sei, seien 22 schwerst
behinderte Neugeborene nach der Geburt von ÄrztInnen getötet
worden.
Prof. Dr. Heidemarie Neitzel vom Institut
für Humangenetik der Berliner Charité gab zu bedenken,
dass der Einsatz von Gen-Tests in der Pränatalen Diagnostik
die ganze Gesellschaft herausfordere und nicht der Einzelne seinen
Problemen allein überlassen bleiben dürfe. Mit einer Wahrscheinlichkeit
von eins zu 120 könne man bei einem Neugeborenen mit Chromosomenveränderungen
rechnen. Die meisten Erkrankungen, deren genetische Disposition beim
Ungeborenen festgestellt werden könnten, seien allerdings extrem
selten. Normalerweise habe die Genbestimmung vor der Geburt einen
geringen prädiktiven Wert: Die Vorhersehbarkeit, ob eine bestimmte
genetische Veranlagung tatsächlich zum Ausbruch der entsprechenden
Krankheit führe, sei so aussagekräftig wie der Wetterbericht.
Dagegen sei die Belastung der Schwangeren und ihrer Familie sehr
hoch, wenn Auffälligkeiten festgestellt würden. Von der
Qualifikation der Berater hänge dann meist ab, wie oft es in
so einem Fall zu einem Schwangerschaftsabbruch komme. Beispielsweise
bei der vorgeburtlichen Diagnose eines Klinefelter-Syndroms, einer
Chromosomenanomalie mit XXY-Chromosomen, käme es, je nach Qualität
der Beratung zwischen null und 75 Prozent zu einem Schwangerschaftsabbruch.
Grundsätzlich seien alle genetischen Untersuchungen streng nach
den Kriterien des Informed Consent durchzuführen. Am Beispiel
der Untersuchung auf Mukuviczidose, die in Deutschland bei 99,8 Prozent
der Neugeborenen durchgeführt werde, halten weniger als 15 Prozent
diesen Kriterien stand. Gentests ohne therapeutische Möglichkeiten
böten keine Lösung in der „Erbe-Umwelt-Problematik“ – sie
würden stattdessen die Gefahr der Kommerzialisierung bergen.
Dieses gesellschaftlich relevante Thema erfordere einen ethischen
Umgang, bei dem die Hilfe für betroffene Familien an erster
Stelle zu stehen habe.
Recht auf Nichtwissen
Der Kinderarzt Prof. Dr. Erik Harms, Chefarzt
am Universitätsklinikum Münster, knüpfte mit seinem
Vortrag an die Bedenken der Humangenetikerin an. Er wies ebenfalls
auf die Grenzen prädiktiver Diagnostik hin, da bei fast allen
Krankheiten genetische Faktoren eine Rolle spielten. Harms betonte
das Selbstbestimmungsrecht nach Information des Untersuchten und wies
dabei auf die rechtlichen Fragen bei der Untersuchung von Minderjährigen
hin. Eine prädiktive Diagnostik sei gemäß Artikel 6
der Biomedizin-Konvention des Europarates nur zulässig, wenn die
Zielerkrankung regelmäßig im Kindesalter manifest würde
und medizinische Maßnahmen ergriffen werden könnten, die
einen unmittelbaren individuellen Nutzen für das betroffene Kind
böten. Das „Recht auf Nichtwissen“ würde einem
betroffenen Kind genommen, das erst mit seiner Volljährigkeit
davon Gebrauch machen könne. Kritisch äußerte er sich
zu den teuer angebotenen Gentests im Neugeborenenalter, wo mit Ängsten
von Eltern gespielt würde, deren Nutzen er dagegen stark bezweifelte.
In ihrem nachdenklichen Impulsreferat fragte die Hebamme und Ethnologin Dr.
Angelica Ensel aus Hamburg: „Wie wird Verantwortung
verhandelt?“ Sie stellte dabei Betrachtungen über die Verantwortungs-
und Beziehungskultur im Zusammenhang mit Pränataler Diagnostik
an. „Verantwortung ist die Antwort auf Vertrauen.“, zitierte
sie die Medizinethikerin Barbara Maier. Vor, während und nach
Pränataler Diagnostik müssten für Schwangere ausreichend
Beziehungsangebote zur Verfügung stehen. Sie forderte eine Schwangerenvorsorge
nach der Devise „Low tech“ und „High touch“.
Dass Hebammen die Beratung und Begleitung bei Pränataler Diagnostik
in ihrer Arbeit offenbar nur zögernd ergreifen, erfuhr ich in
der anschließenden Pause von der Fortbildungsbeauftragten des
BDH Eva-Maria Chrzonsz: Eine hochkarätige Fortbildung des Verbands
zur Pränataldiagnostik habe zum wiederholten Mal abgesagt werden
müssen, weil sich nur fünf Teilnehmerinnen aus ganz Deutschland
angemeldet hätten.
Eine Fülle von interessanten Details, von Vorträgen und Diskussionen
wären noch anzuführen. Die intensiven Kongresstage, die mit
der Menge an Begegnungen und Informationen die eigene Aufnahmefähigkeit
auf die Probe gestellt haben, geben Zuversicht, dass das hilfreiche
Zusammenwirken der Professionen noch mehr in den Alltag der Geburtshilfe
eindringt – auch wenn hier noch viel Veränderung zu leisten
ist. In jedem Fall beflügelte der kräftige Impuls das fachliche
Weiterdenken und das Überprüfen eigener Standpunkte. So viel
frischen Wind für die tägliche Arbeit, diese Chance sollten
sich in zwei Jahren wieder möglichst viele Hebammen gönnen.
Die Autorin
Katja Baumgarten ist freie Hebamme, Filmemacherin
und Journalistin in Hannover. Sie ist als Mitglied der Redaktion
und als Fachbeirätin für die Deutsche Hebammen Zeitschrift
tätig.
Weitere Informationen: www.KatjaBaumgarten.de
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