Autorin: Katja Baumgarten

DEUTSCHE HEBAMMEN-ZEITSCHRIFT Heft 1/2006

 

 

 

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ICC Berlin

Model in der Eingangshalle des ICC –
wie lange wird der Perinatal-Kongress
dort noch stattfinden?
Foto: Katja Baumgarten


Kongress für Perinatale Medizin


Katja Baumgarten hat den 22. Deutschen Kongress für Perinatale Medizin besucht, der vom 1. bis 3. Dezember 2005 in Berlin mehr als 2.000 ÄrztInnen und Hebammen anzog


„Perinatalmedizin – eine interdisziplinäre Herausforderung“, war das Motto in diesem Jahr. Angesichts der Umwälzungen im Gesundheitssystem versprach dies ein spannendes Programm, zumal die Deutsche Gesellschaft für Perinatale Medizin den Kongress wieder - wie bereits beim letzten Mal vor zwei Jahren - in Zusammenarbeit mit dem Bund Deutscher Hebammen (BDH), der Gesellschaft für Neonatologie und Pädiatrische Intensivmedizin (GNPI) und dem Board für Pränatal- und Geburtsmedizin der Deutschen Gesellschaft für Gynäkologie und Geburtshilfe (DGGG) ausgerichtet hatte. Dem Austausch der verschiedenen Berufsgruppen hat dieser Ansatz gut getan. Hebammen waren nicht nur zahlreich im Publikum vertreten, sondern stellten professionell ihre eigenen Positionen und Blickwinkel vor: als Referentinnen bei den Podiumsdiskussionen, Workshops, den wissenschaftlichen Vorträgen und Posterpräsentationen - häufig mit doppelter Kompetenz, im angestammten Hebammenberuf und zusätzlicher Qualifikation durch ein Studium.
Für den Hebammenanteil des Programms war Ulrike von Haldenwang, Vorsitzende des Berliner Hebammenverbandes verantwortlich. Sie hatte eine ausgezeichnete Auswahl getroffen.
Dem Kongresspräsidenten Prof. Dr. Klaus Vetter, Direktor der Klinik für Geburtsmedizin am Vivantes Klinikum Neukölln, Berlin, mit seinem Organisationsteam und den zahlreichen engagierten Referenten war es zu verdanken, dass dieser größte deutsche Geburtshilfekongress ein voller Erfolg wurde. Vetter, der in den Kongresstagen auch zum Präsidenten der Deutschen Gesellschaft für Perinatale Medizin (DGPM) gewählt wurde, würdigte bei der Eröffnungsveranstaltung den 80-jährigen Ehrenpräsidenten Prof. Dr. Erich Saling für seine Verdienste in der Perinatalmedizin, als deren Begründer er gilt. Vor 45 Jahren, 1960, habe Saling mit der „Mikroblutuntersuchung am Feten“ die allererste direkte Untersuchung am ungeborenen Kind durchgeführt.


Verändertes Selbstverständnis

Als ich 1981 als junge Hebamme zum ersten Mal den damals 10. Kongress für Perinatale Medizin in Berlin besuchte, war ich nicht nur beeindruckt vom nagelneuen ICC, das erst zwei Jahre zuvor fertig gestellt worden war und in seiner futuristischen Architektur für die technische Verheißung stand. Die geburtshilflichen Themen wurden entsprechend diesem Zeitgeist mit medizinisch-technischem Optimismus diskutiert. Frauen – damals entweder „gefügig“ oder ungeliebt „aufmüpfig“ - waren als Kundinnen oder potenzielle Klägerinnen noch nicht entdeckt. Heute waren psychosoziale, ethische und gesellschaftliche Themen oder auch „Geburtspositionen“ selbstverständlich im Themenspektrum dabei, und die Zahlen der perinatalen Qualitätssicherung wurden für den klinischen wie den außerklinischen Bereich vorgestellt.
Dass mehrmals dasselbe Cartoon Vorträge von Ärzten humorvoll illustrierte, wirft ein Bild auf ihre innere Arbeit am sich wandelnden Selbstverständnis: ein Arzt, links im Bild, gebeugte Haltung – in seiner Sprechblase die eigentlich ganz normale Frage: „Wie möchten Sie gerne entbinden?“. Sein Gegenüber ist eine kerzengerade dralle Hochschwangere - mit einer mächtigen goldgelben dreistöckigen Krone auf dem Haupt. Treffen Mediziner in ihrem Alltag tatsächlich auf diese gekrönte Schwangere oder illustriert sie vielleicht eher ein „Schreckensbild“ vom möglichen Verlust ärztlicher Dominanz? Auch sonst ist unterdessen manches im Umbruch: Der Abriss des ICC wird diskutiert – es ist heute zu teuer.


Zusammenarbeit in Augenhöhe

Das Motto des Kongresses griff eine Podiumsdiskussion auf, die von Prof. Dr. Friederike zu Sayn-Wittgenstein von der Fachhochschule Osnabrück moderiert wurde: „Professionelle Betreuung während Schwangerschaft, Geburt und Wochenbett – wie wird die interdisziplinäre Kooperation gestaltet?“ Simone Kirchner, Lehrhebamme und Diplom-Psychologin aus Berlin, sprach über die Zusammenarbeit zwischen Hebammen und ärztlichen GeburtshelferInnen. Zuarbeit sei nicht dasselbe wie Zusammenarbeit: Kollegialer Austausch, gegenseitige Konsultation, Intervision, und Supervision, seien die äußeren Merkmale von Zusammenarbeit.
Die Voraussetzung müsse die Anerkennung der unterschiedlichen Fachkompetenzen sein als gleichwertige Ressourcen mit spezifischen Ausrichtungen. Sie empfahl, gemeinsam Leitbilder für die Kooperation zu entwickeln. Darin sollten die Aufgaben der Fachdisziplinen abgesteckt werden, die selbstverantwortlich erbracht werden. Auch eine ausdrückliche Bestätigung der gegenseitigen Anerkennung sollte enthalten sein. Dies biete eine gute Grundlage für eine beidseitig ausgerichtete Konsultation im Bedarfsfall.


Vier Stufen der Versorgung

„Adäquate Versorgung – Strukturelle Voraussetzungen unter Randbedingungen von DRG, IV (Integrierte Versorgung), MVZ (Medizinisches Versorgungszentrum)“ war der spröde Titel einer interessanten Podiumsdiskussion. Sie wurde von Prof. Dr. Peter Bartmann, Leiter des Zentrums für Kinderheilkunde, Abteilung für Neonatologie der Universität Bonn moderiert. Im Mittelpunkt stand die Einstufung von Entbindungskliniken gemäß der „Vereinbarung über Maßnahmen zur Qualitätssicherung der Versorgung von Früh- und Neugeborenen“ vom September 2005. Noch scheint es Unklarheit zu geben, wie sie auszulegen und umzusetzen ist – jedenfalls konnte man das den vielen Fragen und verunsicherten Beiträgen aus dem Publikum entnehmen. Vier Stufen der neonatologischen Versorgung sind an bestimmte definierte Qualitätsmerkmale gebunden. Bei einem „Perinatalzentrum Level 1“ - für die Versorgung von Patienten mit höchstem Risiko - hieße das beispielsweise, dass unter anderem eigenständige neonatologische und geburtshilfliche Abteilungen mit entsprechend qualifizierten Leitungen unter einem Dach vereint sein müssen, sowie die 24-Stunden-Präsenz von Neonatologen und Geburtshelfern. 80 bis 100 solcher Zentren der höchsten Versorgungsstufe wird es künftig geben.
„Perinatalzentren Level 2“ sollen für die möglichst flächendeckende intermediäre Versorgung von Patienten mit hohem Risiko zur Verfügung stehen. „Perinatale Schwerpunkte“ stehen für die flächendeckende Versorgung von Neugeborenen bereit, bei denen eine postnatale Therapie absehbar ist, durch eine leistungsfähige Neugeborenenmedizin in Krankenhäusern mit Geburtsklinik und Kinderklinik.
Die unterste Stufe der Krankenhausversorgung bildet die „Geburtsklinik“ ohne Kinderklinik, in denen nur noch reife Neugeborene ohne bestehendes Risiko zur Welt kommen sollen. Neugeborenentransporte sollen generell nur noch in unvorhersehbaren Notfällen erfolgen. Diese Klassifizierung ist die Vorraussetzung dafür, dass ein Krankenhaus gewisse Leistungen erbringen und im DRG-System abrechnen darf – deshalb hängt die wirtschaftliche Situation einer Klinik ganz entscheidend von ihrer möglichst hohen Einstufung ab.
Monika Selow, Beirätin für den freiberuflichen Bereich im BDH, machte auf die Schwierigkeit der Bewertung der Hebammenleistungen in diesem System aufmerksam – gerade wenn sie in freiberuflicher Tätigkeit durch Beleghebammen erbracht würden. In vielen Regionen, besonders in Bayern, seien in jüngster Zeit die Beschäftigungsverhältnisse von Hebammen in Belegsysteme umgewandelt worden. Rufbereitschaft, Telefondienste, Routineaufgaben im Kreißsaal und andere Tätigkeiten würden durch die DRG-Abrechnung nicht erfasst. Prof. Dr. Joachim Dudenhausen, Direktor der Klinik für Geburtsmedizin am Campus Virchow-Klinikum, fürchtete eine Verwässerung des Begriffs Perinatalzentrum, das nun nach Level 1 und Level 2 unterschieden würde. Ein Perinatalzentrum nach seinem Verständnis habe grundsätzlich den höchsten Qualitätsstandard vorzuweisen, um diese Bezeichnung zu verdienen.


Stille und Ruhe, Zeit und Geduld


„Die Leitung der vaginalen Geburt“ wurde moderiert von Prof. Dr. Axel Feige, bis vor kurzem Chefarzt der Geburtshilfe im Nürnberger Klinikum Süd. Eine der Voraussetzungen dafür müsse eine kurze „EEE-Zeit“ sein, das heißt die Zeitspanne vom Erkennen eines Notfalls zum
Entscheiden und Entbinden, sollte geringer als 20 Minuten sein – mit Betonung auf das rechtzeitige Erkennen, was dabei häufig außer Acht gelassen werde. Gleichzeitig sei aber auch der Leitsatz, der ihn sein Leben lang begleitet habe, heute so aktuell wie vor 200 Jahren. Damals habe Adam Elias von Siebold, einstiger Professor für Geburtshilfe in Würzburg, gelehrt: „Stille und Ruhe, Zeit und Geduld, Achtung der Natur und dem gebärenden Weibe, und der Kunst Achtung, wenn ihre Hülfe die Natur gebietet.“ „Was können Ärzte und Hebammen tun, um die vaginale Geburt wieder gesellschaftsfähig zu machen – gegen den Trend zur ‚Prominentengeburt’ per Sectio?“, fragte er in die Runde.
Prof. Dr. Beate Schücking von der Fachhochschule Osnabrück stellte daraufhin Ergebnisse ihrer Untersuchungen vor, wonach Frauen umso zufriedener sind, je normaler und ungestört ihre Geburt verlaufen sei. Irritiert zeigte sie sich von dem Resultat, wonach Frauen mit einem normalen und unkomplizierten Schwangerschaftsverlauf kaum weniger unter Interventionen litten als Risiko-Schwangere. Sie empfahl für die Austreibungsperiode ein liberales Zeitmanagement, vertikale Geburtspositionen und kein forciertes Pressen oder gar Kristellern. Sie wies außerdem auf die bekannten WHO-Empfehlungen zu den zehn häufigsten Fehlern in der Kreißsaal-Routine hin. Zum Beispiel Nahrungskarenz, Periduralanästhesie ohne Indikation, kontinuierliche CTG-Überwachung, häufige vaginale Untersuchungen durch verschiedene Personen oder Amniotomie, gehörten nicht mehr zu einer zeitgemäßen Leitung der Geburt. Sie empfahl, klinische und psychosoziale Strategien zur Förderung der vaginalen Geburt zu entwickeln, um bereits die Erst-Sectio zu vermeiden.
Dr. Ute Germer, Oberärztin an der Frauenklinik St. Josef in Regensburg sprach über die Überwachung des Feten in der Eröffnungs- und Austreibungsperiode. Die Online-Auswertung des CTGs sei heute noch Zukunftsmusik und werde von Fachgesellschaften nicht empfohlen, könne für Anfänger jedoch eine wertvolle Hilfe darstellen.
Sie betonte die Notwendigkeit einer einwandfreien Dokumentation. Ein normales CTG müsse unter der Geburt alle zwei Stunden durch die Hebamme oder den/die ÄrztIn beurteilt werden, was mit einem Aktenvermerk zu dokumentieren sei, ein suspektes CTG alle 30 Minuten. Beim pathologischen CTG müsse eine kontinuierliche Überwachung und eine dokumentierte Beurteilung alle zehn Minuten erfolgen. Alle Unterlagen seien 30 Jahre lang aufzubewahren. Germer empfahl nicht nur eine jährliche CTG-Fortbildung, sondern auch die routinemäßige Ultraschalluntersuchung unter der Geburt zur Beurteilung des kindlichen Hinterhauptes im Verhältnis zum mütterlichen Becken. Kontroll-Untersuchungen an 102 Schwangeren hätten ergeben, dass nur 47 Prozent der UntersucherInnen eine zutreffende Diagnose bei der vaginalen Untersuchung gestellt hätten. Selbst erfahrene UntersucherInnen seien in 30 Prozent der Fälle zu unkorrekten Untersuchungsergebnissen kommen.
Prof. Ralf Schild von der Frauenklinik Erlangen sprach sich für ein aktives Vorgehen bei fehlendem Geburtsfortschritt aus. Für die Austreibungsperiode hätten Studien gezeigt, dass das kindliche Outcome bei unauffälligen Herztönen keine Unterschiede gezeigt habe, unabhängig von der Dauer der Austreibungsphase. Für die Mutter gehe dies allerdings mit einem Ansteigen der Komplikationsrate einher.


Schmerzen einer Amputation


Den Workshop „Schmerzwahrnehmung und Schmerztherapie in der Geburtshilfe“ moderierte Prof. Dr. Werner H. Rath, Direktor der Aachener Universitäts-Frauenklinik für Gynäkologie und Geburtshilfe. „Ich werde sehr mehren die Mühsal deiner Schwangerschaft, mit Schmerzen sollst du Kinder gebären.“, zitierte er den bekannten Fluch Gottes aus dem Buch Moses. Dieser werde im Zeitalter kritischer, internetaufgeklärter Frauen nicht mehr akzeptiert. Effektive Schmerzbehandlung sei bei der heutigen kompetetiven Werbung um jede Schwangere ein wichtiger Punkt in der Geburtshilfe. Elisabeth Braasch aus Karlsruhe machte die Möglichkeiten und Grenzen der natürlichen Schmerzlinderung im Rahmen ihrer Arbeit als freiberufliche Hebamme in der außerklinischen Geburtshilfe deutlich.
Die Anästhesistin Dr. Wiebke Gogarten vom Universitätsklinikum Münster wies darauf hin, dass Schmerz mit dem McGill Pain Score objektiv zu erfassen sei. Erstgebärende würden demnach auf einer definierten Skala eine Einstufung erreichen, die in der Schmerzintensität fast der Amputation eines Fingers entspräche. Daher müsse für Frauen das Angebot einer wirkungsvollen Schmerztherapie selbstverständlich sein. Es sei erwiesen, dass beispielsweise die systemische Gabe von Opioiden gegen Schmerzen bei der Geburt unwirksam sei. Ebenso wenig empfahl sie das Medikament Buscopan compositum, für das kein Nutzen nachgewiesen sei. Aus ihrer Sicht sei die Periduralanästhesie das Mittel der Wahl.,. Diese Schmerztherapie habe in den vergangenen zehn Jahren erhebliche Fortschritte gemacht. Heute könnten Frauen die Dosierung, die sie benötigen, selbst in die Hand nehmen, und damit den Verbrauch an Schmerzmitteln auf die Hälfte senken. 20 Minuten nach dem Setzen einer PDA sei nur noch zehn Prozent der Schmerzintensität zu verspüren. Auch mit PDA hätten 80 bis 90 Prozent der Frauen keine motorische Blockade und könnten aufstehen, sich frei bewegen und in der Austreibungsperiode ihr Kind aktiv auf die Welt bringen, was zu weniger instrumentellen Entbindungen führe als früher. Das Verlangen einer Schwangeren nach Schmerzlinderung sei eine ausreichende Indikation für eine PDA.


Verantwortung der Gesellschaft


Prof. Dr. Bernhard-Joachim Hackelöer, Leiter der Abteilung Pränatale Diagnostik und Therapie am Hamburger Allgemeinen Krankenhaus Barmbek, dem in diesem Jahr der Maternité-Preis verliehen wurde, leitete die Podiumsdiskussion „Fenster zum Genom – Die Pränataldiagnostik vom individuellen zum gesellschaftlichen Thema“. Der renommierte Ultraschall-Experte stellte heraus, dass Pränatale Diagnostik entgegen der häufig vertretenen Ansicht, nicht im „search and destroy“, im Suchen und Zerstören, ihren Sinn habe, sondern im „find and treat“, im Erkennen und Behandeln von Erkrankungen des Ungeborenen. In unserem Nachbarland Holland, wo im Übrigen durch eine unzureichende Pränataldiagnostik viele Fehlbildungen von Ungeborenen übersehen würden, habe man einen bedenklichen Weg eingeschlagen: Seit die aktive Sterbehilfe dort legalisiert worden sei, seien 22 schwerst behinderte Neugeborene nach der Geburt von ÄrztInnen getötet worden.
Prof. Dr. Heidemarie Neitzel vom Institut für Humangenetik der Berliner Charité gab zu bedenken, dass der Einsatz von Gen-Tests in der Pränatalen Diagnostik die ganze Gesellschaft herausfordere und nicht der Einzelne seinen Problemen allein überlassen bleiben dürfe. Mit einer Wahrscheinlichkeit von eins zu 120 könne man bei einem Neugeborenen mit Chromosomenveränderungen rechnen. Die meisten Erkrankungen, deren genetische Disposition beim Ungeborenen festgestellt werden könnten, seien allerdings extrem selten. Normalerweise habe die Genbestimmung vor der Geburt einen geringen prädiktiven Wert: Die Vorhersehbarkeit, ob eine bestimmte genetische Veranlagung tatsächlich zum Ausbruch der entsprechenden Krankheit führe, sei so aussagekräftig wie der Wetterbericht. Dagegen sei die Belastung der Schwangeren und ihrer Familie sehr hoch, wenn Auffälligkeiten festgestellt würden. Von der Qualifikation der Berater hänge dann meist ab, wie oft es in so einem Fall zu einem Schwangerschaftsabbruch komme. Beispielsweise bei der vorgeburtlichen Diagnose eines Klinefelter-Syndroms, einer Chromosomenanomalie mit XXY-Chromosomen, käme es, je nach Qualität der Beratung zwischen null und 75 Prozent zu einem Schwangerschaftsabbruch. Grundsätzlich seien alle genetischen Untersuchungen streng nach den Kriterien des Informed Consent durchzuführen. Am Beispiel der Untersuchung auf Mukuviczidose, die in Deutschland bei 99,8 Prozent der Neugeborenen durchgeführt werde, halten weniger als 15 Prozent diesen Kriterien stand. Gentests ohne therapeutische Möglichkeiten böten keine Lösung in der „Erbe-Umwelt-Problematik“ – sie würden stattdessen die Gefahr der Kommerzialisierung bergen. Dieses gesellschaftlich relevante Thema erfordere einen ethischen Umgang, bei dem die Hilfe für betroffene Familien an erster Stelle zu stehen habe.


Recht auf Nichtwissen

Der Kinderarzt Prof. Dr. Erik Harms, Chefarzt am Universitätsklinikum Münster, knüpfte mit seinem Vortrag an die Bedenken der Humangenetikerin an. Er wies ebenfalls auf die Grenzen prädiktiver Diagnostik hin, da bei fast allen Krankheiten genetische Faktoren eine Rolle spielten. Harms betonte das Selbstbestimmungsrecht nach Information des Untersuchten und wies dabei auf die rechtlichen Fragen bei der Untersuchung von Minderjährigen hin. Eine prädiktive Diagnostik sei gemäß Artikel 6 der Biomedizin-Konvention des Europarates nur zulässig, wenn die Zielerkrankung regelmäßig im Kindesalter manifest würde und medizinische Maßnahmen ergriffen werden könnten, die einen unmittelbaren individuellen Nutzen für das betroffene Kind böten. Das „Recht auf Nichtwissen“ würde einem betroffenen Kind genommen, das erst mit seiner Volljährigkeit davon Gebrauch machen könne. Kritisch äußerte er sich zu den teuer angebotenen Gentests im Neugeborenenalter, wo mit Ängsten von Eltern gespielt würde, deren Nutzen er dagegen stark bezweifelte.
In ihrem nachdenklichen Impulsreferat fragte die Hebamme und Ethnologin Dr. Angelica Ensel aus Hamburg: „Wie wird Verantwortung verhandelt?“ Sie stellte dabei Betrachtungen über die Verantwortungs- und Beziehungskultur im Zusammenhang mit Pränataler Diagnostik an. „Verantwortung ist die Antwort auf Vertrauen.“, zitierte sie die Medizinethikerin Barbara Maier. Vor, während und nach Pränataler Diagnostik müssten für Schwangere ausreichend Beziehungsangebote zur Verfügung stehen. Sie forderte eine Schwangerenvorsorge nach der Devise „Low tech“ und „High touch“.
Dass Hebammen die Beratung und Begleitung bei Pränataler Diagnostik in ihrer Arbeit offenbar nur zögernd ergreifen, erfuhr ich in der anschließenden Pause von der Fortbildungsbeauftragten des BDH Eva-Maria Chrzonsz: Eine hochkarätige Fortbildung des Verbands zur Pränataldiagnostik habe zum wiederholten Mal abgesagt werden müssen, weil sich nur fünf Teilnehmerinnen aus ganz Deutschland angemeldet hätten.
Eine Fülle von interessanten Details, von Vorträgen und Diskussionen wären noch anzuführen. Die intensiven Kongresstage, die mit der Menge an Begegnungen und Informationen die eigene Aufnahmefähigkeit auf die Probe gestellt haben, geben Zuversicht, dass das hilfreiche Zusammenwirken der Professionen noch mehr in den Alltag der Geburtshilfe eindringt – auch wenn hier noch viel Veränderung zu leisten ist. In jedem Fall beflügelte der kräftige Impuls das fachliche Weiterdenken und das Überprüfen eigener Standpunkte. So viel frischen Wind für die tägliche Arbeit, diese Chance sollten sich in zwei Jahren wieder möglichst viele Hebammen gönnen.


Die Autorin

Katja Baumgarten ist freie Hebamme, Filmemacherin und Journalistin in Hannover. Sie ist als Mitglied der Redaktion und als Fachbeirätin für die Deutsche Hebammen Zeitschrift tätig.
Weitere Informationen: www.KatjaBaumgarten.de

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