Autorin: Katja Baumgarten

DEUTSCHE HEBAMMEN-ZEITSCHRIFT Heft 11/2003

Editorial November 2003

 

Mehrlinge - verantwortungsvoll handeln


Meine 81jährige Kollegin Therese Schlundt erzählte mir kürzlich: Früher wurde sie einmal innerhalb von acht Wochen zu sechs Zwillingsgeburten gerufen. Drei davon waren in der Schwangerschaft unerkannt geblieben; alle Geburten verliefen zu Hause spontan und problemlos. Auch wenn Zwillinge schon immer etwas Besonderes waren, gehörte ihre Entbindung zum Repertoire der Hebammenkunst.

Heute sind wir weit davon entfernt. Welches Elternpaar kann sich dem Risiko orientierten Blick auf eine Schwangerschaft mit Zwillingen entziehen und guter Hoffnung bleiben? Nur noch wenige Hebammen haben die Kunst erlernt, auch diese Schwangerschaften und Geburten zu betreuen. Die Aachener Hebamme Barbara Kosfeld ist der Auffassung, dass natürliche Zwillinge bei guter Begleitung zu den normalen Schwangerschaften gezählt und Frauen nicht durch Ängste belastet werden sollten. Mit ihrer individuellen Betreuung knüpft sie an das traditionelle Hebammenwissen an und betont, dass dies nur durch eine Ausbildung bei einer erfahrenen Meisterin zu erlangen ist. Hebammen, die es sich zutrauen Mehrlingsmütter zu betreuen gelten als Außenseiterinnen. Sowohl der Bund deutscher Hebammen als auch das Netzwerk der Geburtshäuser lehnen die außerklinische Geburtshilfe bei Mehrlingen ab. Wir stellen hier dennoch drei Positionen von Hebammen zur Diskussion. In den nächsten Ausgaben werden wir weitere Beiträge - auch aus dem schulmedizinischen Blickwinkel - folgen lassen.

Die Frage nach dem medizinisch verantwortungsvollen Handeln sollte gerade beim Thema Mehrlinge umfassend gestellt werden. Reproduktionsmediziner haben Mehrlingsschwangerschaften, gerade auch die höhergradigen, dramatisch zunehmen lassen - mit allen Gefahren, die damit für das Leben und die Gesundheit der Kinder, ihrer Mütter und für die soziale Situation der Familien verbunden sind. Innerhalb von 20 Jahren stiegt beispielsweise die Anzahl der Drillingsgeburten um 800 Prozent. Auch Dorothea Maekeler, Vorsitzende des ABC-Clubs, einer internationalen Drillings- und Mehrlingsinitiative, sieht besorgt auf die künftige Entwicklung. Weil die Insemination von mehreren Embryonen bei künstlicher Befruchtung möglicherweise untersagt werden soll, fürchtet sie künftig einen verstärkten Einsatz von hormonellen Ovulationsauslösern. Wenn sich mehr als zwei Kinder in Folge einer Fruchtbarkeitsbehandlung entwickeln, müssen sich die meisten Eltern mit der Entscheidung zur "Mehrlingsreduktion" durch Fetozid auseinandersetzen. Soll eines oder mehrere der ungeborenen Kinder geopfert werden, damit die Geschwister bessere Überlebenschancen haben? Für Eltern, die sich lange auf ein Wunschkind gefreut haben, kann dies zur seelischen Tortour werden.

Katja Baumgarten

 

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