Autorin: Katja Baumgarten

DEUTSCHE HEBAMMEN-ZEITSCHRIFT Heft 1/2003

Januar 2003

 

 

 

 

 

 

 

 

 

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Viel können und sich zurück nehmen - Interview Teil 2

Dr. Marina Marcovich berichtet im zweiten Teil des Gesprächs von schwierigen Situationen in ihrem Berufsleben als Kinderärztin. Ihre neuen Ideen der liebevollen Pflege von Frühgeborenen weckten nicht nur Zustimmung

 

DHZ: Wann begannen Sie eigene Wege im Umgang mit Frühgeborenen zu gehen?

Dr. Marcovich: Schon 1978, als ich die Station erstmals vertretungsweise führen durfte, fand ich es unerträglich, dass die Eltern draußen auf dem Balkon stehen und über Wochen und Monate ihr Kind nur durch zwei Fensterscheiben sahen. Da habe ich gewagt, die Eltern auf die Station zu lassen. Die alten Oberärzte sind damals in Ohnmacht gefallen und haben gesagt: „Die Eltern werden die Keime reinbringen, die Kinder werden alle sterben!“ Die Eltern mussten sich verkleiden wie die Marsmenschen – Mäntel, Hauben, Masken und Überschuhe. Dann mussten sie durch eine Ozonlampe durch und bekamen fast eine Ganzkörperdusche in Sterilium! Ganz schüchtern standen sie vor dem Inkubator. Wir haben sie ermutigt doch mal zum Kind hineingreifen und haben ihnen eine Öffnung aufgemacht. Ganz vorsichtig haben sie dann mit einem Finger das Kind gestreichelt. Wenn man sich das heute vor Augen führt, man kann es nicht fassen. Damals war das eine Sensation.

DHZ: Wie wurden Ihre neuen Erfahrungen, die dann folgten, aufgenommen?

Marcovich: Ich war naiv und habe geglaubt, wenn ich das an der Uniklinik vortrage, werden alle sagen: „Super, was diese Neugeborenen können! Das haben wir ihnen nie zugetraut! “ Stattdessen haben sie gepfiffen und „Buh! Aufhören, aufhören!“, geschrieen. Ich habe überhaupt nicht gewusst was los ist.

Ich wurde in alle mögliche Richtungen falsch verstanden. Als ich gesagt habe: „vom sanften Umgang mit Frühgeborenen“ sind sie aufgesprungen und haben geschrieen: „Sanft sind wir alle und schon immer!“ Sie haben es als Vorwurf aufgefaßt, als hieße das, sie seien brutal. Ich habe dann gesagt: „Wir haben die Intensivmedizin auf das unbedingt notwendige Maß reduziert.“ Darauf haben sie gesagt: „Wir tun auch nichts Überflüssiges!“ Dann hat's Leute gegeben, die haben gesagt: „Endlich einmal jemand, der nicht jeden Dreck aufzieht! Und der nicht überall die Maschinen einsetzt, sondern der Natur ihren Weg lässt.“ Das war auch ein völlig falscher Eindruck, weil bei uns ist kein Kind ohne Intensivmedizin gestorben. Also, versucht haben wir es. Eine dieser falschen Vorstellungen war auch, dass man nur nichts zu tun braucht, und dann geht‘s schon. Ich habe immer gesagt, man muss sehr viel wissen und tun können, um sich dann wieder zurücknehmen zu können.

DHZ: Sie hatten mit Ihrer neuen Methode gute Ergebnisse. Warum kam es schließlich zum Prozess?

Dr. Marcovich: So ein Prozess hat eine eigene Dynamik. Bei Ärzteprozessen zeigen normalerweise die Patienten den Arzt an und dann helfen die Kollegen des Arztes ihm mit ihren Gutachten wieder heraus. Bei mir war es genau umgekehrt. Mich haben die Kollegen angezeigt und die Eltern sind für mich auf die Straße gegangen. Sie haben innerhalb von Tagen 12.000 Unterschriften in Wien gesammelt und haben sich für mich ins Fernsehen gesetzt. Das lässt schon Rückschlüsse auf das Verhältnis zu, das wir mit den Eltern hatten.

DHZ: War Ihr Chef nicht stolz auf Sie? Das Krankenhaus ist durch Sie doch sehr bekannt geworden!

Dr. Marcovich: Da muss ich unterscheiden: Mein alter Chef, unter dem sich diese ganze Arbeit entwickeln konnte, hat den neuartigen Umgang gefördert. Denn man braucht auch Rückendeckung und Lob für so etwas. In dieser Zeit hat sich alles hervorragend entwickelt. Dann ging er in Pension und es kam sein Nachfolger von der Universitätsklinik. Er hatte mit Neonatologie überhaupt nichts zu tun, er war ein Stoffwechselexperte. Das Mautner Markhofsche Kinderspital war wegen der Neonatologie damals schon recht bekannt: Leute kamen aus dem Ausland, um es sich anzuschauen, auch Fernsehteams und Journalisten. Das hat diesen neuen Chef in seiner Wichtigkeit oder in seinem Darstellungsbedürfnis offenbar angegriffen.

DHZ: Er hätte sich die Lorbeeren doch einverleiben können.

Dr. Marcovich: Er hätte mitschwimmen können, aber so groß war er nicht. Dann ist etwas Skurriles passiert: Er hat eine so genannte Sachverhaltsdarstellung an die Gemeinde Wien abgegeben über den Fall von verstorbenen Vierlingskindern. Und über ein weiteres Kind, das an einer unheilbaren Stoffwechselerkrankung gestorben ist. Dort wurde gesagt: „Wir sind keine Mediziner - wir können das nicht entscheiden, wir müssen uns Gutachter holen.“Das war alles von langer Hand vorbereitet, denn der Gutachter war sofort gefunden. Dieser Gutachter, Professor Pohlandt aus Ulm, hat es dann nicht bei den fünf Todesfällen bewenden lassen, sondern hat sämtliche Todesfälle des zweiten Halbjahres 1993 genommen: Das waren 16 Kinder. Wir hatten sehr viele Patienten, daher gab es auch einige Todesfälle. Er hat in seinem Gutachten geschrieben, alle hätten überleben können, wenn ich sie ordentlich behandelt hätte.

DHZ: Wie haben Sie auf diese Vorwürfe reagiert?

Dr. Marcovich: Das, was mir vorgeworfen wurde, war natürlich eine Absurdität! Er hat eine Nullmortalität gefordert. Und die gibt es nirgends. Die hat auch Professor Pohlandt nicht gehabt. Im Gegenteil! Dessen Sterblichkeitsrate war dreimal so hoch wie unsere. Im Fernsehen war am Abend zu hören: „Marcovich - 16-fache Mörderin oder Totschlägerin.“ Ich war die stationsführende Oberärztin. Aber erstens gibt es dahinter noch einen verantwortlichen Chef. Wenn ihm das nicht gepasst hätte, hätte er etwas sagen müssen, er war jeden Tag auf Visite da. Zweitens sind viele Ärzte im Dienst – es gibt Tag- und Nachtschichten. Da müsste man zuerst auseinander klauben, wer was entschieden hat. Es gab das Pauschalurteil: „Die Marcovich hat 16 Kinder umgebracht und daher muss sie vor den Kadi.“ Der Dienstgeber hat natürlich gesagt: „Ja, wenn der Herr Professor aus dem Ausland sagt, da waren lauter Behandlungsfehler - wir sind keine Experten. Dann müssen wir das dem Gericht weitergeben“. So hat alles seinen geregelten Ablauf und jeder sagt „Ich kann nichts dafür, ich muss so handeln, ich bin ja verantwortlich.“ Und so war ich plötzlich in 16 Fällen angezeigt - nicht angeklagt.

DHZ: Wie ging das Ermittlungsverfahren damals aus?

Dr. Marcovich: Die 16 Fälle wurden dem Justizminister vorgelegt, der hat gesagt: „Zehn Fälle können eingestellt werden.“ Das waren diejenigen, die ich nicht gekannt habe. Das wäre zu absurd gewesen. „Aber sechs müssen weiter verfolgt werden.“ Und dann kamen jahrelange Untersuchungen und schließlich waren auch die einstellungsreif. Vor allem hatten meine Gegner mittlerweile mitgekriegt, dass die Öffentlichkeit in meinem Lager ist, dass sie sich damit keine Lorbeeren holen. Sie sind nicht gut ausgestiegen aus dem Ganzen und haben mich schließlich rehabilitiert.

DHZ: Gibt es in Deutschland Kliniken, die nach Ihrem Vorbild arbeiten?

Dr. Marcovich: Jede Klinik wird Ihnen sagen, dass sie sanft und liebevoll arbeiten - wenn Sie mit den Eltern sprechen, gewinnen Sie einen anderen Eindruck. Es liegt immer an jedem einzelnen, der dort vor Ort ist.

Unlängst hat mir eine Mutter erzählt, sie hatte einen 1300 g schweren Buben und hat drei Wochen lang gebeten, ob sie ihn aus dem Inkubator rausnehmen darf. Immer hieß es: „Nein, das geht noch nicht, es geht ihm nicht gut genug.“ Endlich war es soweit. Sie lag ganz beseeligt mit ihm im Stuhl und ist erfüllt Heim gegangen. Als sie am nächsten Tag erfreut wiederkommt, steht die Schwester neben dem Inkubator und sagt: „Die ganze Nacht hat er gebraucht, um sich davon zu erholen, dass er gestern bei Ihnen draußen war.“ Was geht in so einer Frau vor? Wer will denn seinem Kind schaden?

Ich erinnere mich auch an den Besuch in einer Klinik, wo sie mir stolz gezeigt haben, dass sie jetzt auch „känguruhen“, - wobei ich nicht verstehe, warum wir uns immer zum Vergleichen ins Tierreich begeben müssen, wenn eine Mutter ihr Kind in den Arm nimmt. Das ist das Selbstverständlichste von der Welt. Da saß eine Mutter, in einem Schaukelstuhl, ihren kleinen beatmeten Buben. Er hing noch mit den Beatmungsschläuchen an der Maschine. Es war ein Bild des Jammers. Sie hat ganz angespannt vorne auf der Kante des Schaukelstuhls gesessen, wahrscheinlich in der Angst, dass es dem Kind die Beatmungsschläuche aus der Nase zieht, wenn der Stuhl zu schaukeln beginnt. Ich kann mir nicht vorstellen, dass sich das Kind wohl gefühlt hat, er hat auch nicht gut ausgeschaut. Manchmal ist das Bemühen da, aber was dann letzten Endes daraus wird... der hätte wahrscheinlich lieber entspannt im Inkubator gelegen.

DHZ: Wo sehen Sie die Grenzen Ihrer Arbeit? Wann hören Sie auf, ein Kind zu behandeln.

Dr. Marcovich: In meiner Ausbildungszeit und den Jahren, als ich an der ersten Klinik war, haben wir uns immer wieder gefragt, was wir mit diesen völlig ausgereizten armen Patienten machen sollen, die wochenlang an der Beatmungsmaschine hingen, das Hirn schon voll Blut. Man konnte an den Fingern einer Hand abzählen, dass aus diesem Kind kein gesundes Kind mehr werden wird. Da gab es natürlich oft die Diskussion: „Was tut man?“ Ich habe das in unserer Arbeit im Mautner Markhofschen Kinderspital überhaupt nicht mehr erlebt. Entweder sind die Kinder sehr bald und trotz aller Intensivmedizin gestorben oder sie haben gesund überlebt. Diese „Medizinopfer“, das haben wir nicht mehr gesehen.

Ich habe einmal etwas erlebt, was mich sehr belastet hat. Ein Ehepaar hatte einen Buben, der an einer Microcephalie gelitten hat und mit acht Jahren verstorben ist. Als die Frau wieder schwanger wurde, war die Angst der Eltern groß, dass so etwas noch einmal passiert. Sie wurde dann zu drei Ultraschallpäpsten geschickt. Alle haben gesagt: „Die Nackenfalte des Kindes sieht so aus, dass wieder mit so einer Situation zu rechnen ist.“ Und daraufhin hat man in der 26. Schwangerschaftswoche die Geburt eingeleitet, hat mich aber gerufen. Das ist immer so, die Geburtshelfer wollen den Neonatologen dabei haben, damit das Gefühl vermittelt wird, es wird alles getan. Das Kind kam dann zur Welt, ein Mädchen. Und für mich hat dieses Kind völlig normal und gesund ausgeschaut, so wie jedes andere Frühgeborene in dieser Schwangerschaftsperiode. Der Befund lag schriftlich auf dem Tisch, darin stand - Nackenfalte - und zu erwartende Mikrocephalie. Ich habe nicht gewusst, was ich machen soll. Mir waren die Hände gebunden. Ich habe mir gedacht: „fange ich jetzt an, das Kind erstzuversorgen, und es überlebt - und es hat wieder eine Microcephalie, das ist untragbar.“ Umgekehrt da zu stehen und ein Kind, das einem völlig gesund erscheint, einfach sterben zu lassen, das war eine schreckliche Situation.

Auch eine andere Situation habe ich erlebt, wo ich mich im Nachhinein nicht wohl gefühlt habe. Es ging um eine Schwangere in der 21. Schwangerschaftswoche, die schon drei Kinder verloren hatte. Und das war jetzt das vierte. Der Geburtshelfer hatte mich angerufen und gesagt, die Geburt ist nicht aufzuhalten und er wisse es bestehe keine Hoffnung. Aber ich möchte bitte kommen, damit die Eltern das Gefühl haben, man versuche alles. Es wurde ein Bub mit 380 Gramm geboren. Weil es gar nicht so kleine Beatmungsschläuche gibt, habe ich versucht ihn mit einer Ernährungssonde zu intubieren. Es war fast nicht möglich, in diese winzige Mundöffnung den Spatel des Larygoskopes hineinzukippen. Und ich habe dann, weil man ja an Ernährungssonden keinen Atembeutel anschließen kann, einfach mit dem Mund hineingeblasen und versucht, die Lunge zu blähen. Aber es war nichts zu machen. Ich habe dann also aufgeben müssen, habe dieses kleine Kindlein genommen und bin zu den Eltern gegangen und habe es gehalten und hab darüber gesprochen, dass es einfach noch nicht kann, dass die Lunge noch zu unreif ist. Die Mutter hat aufrecht im Kreißbett gesessen, die Hände über der Brust verschränkt. Ich hätte ihr das Kind so gerne gegeben. Aber sie hat keine Bewegung gemacht. Ich habe gedacht, ich will's ihr nicht aufdrängen, ich kann ihr ja nicht einfach das Kind so hindrücken und bin dann gegangen. Drei Tage später hat mich die Mutter angerufen und wollte sich noch einmal bedanken, dass ich dort war und mich bemüht habe. Dann hat sie gesagt: „Und wissen Sie, was ich nicht verwinden kann, dass ich ihn nicht angegriffen hab.“ Da habe ich mir gedacht, hätte ich ihn ihr nur in den Arm gelegt! Daraus habe ich viel gelernt. Das sind halt Situationen, die im Laufe eines Neonatologenlebens passieren - so wie im Hebammenleben - wo man sein Bestes tut. Aber ob‘s das Beste war, wird man nie wissen.


Das Gespräch führte Katja Baumgarten gemeinsam mit Dorothea Kühn (BfHD). Teil 1 siehe auch DHZ Juli 2002

Die Interviewte:
Dr. med. Marina Marcovich ist Kinderärztin in Wien. Sie arbeitete dort über zwanzig Jahre als Neonatologin, zuletzt als leitende Oberärztin der neonatologischen Intensivstation des Mautner Markhofschen Kinderspitals. Viele Jahre war sie Vizepräsidentin der deutsch-österreichischen Neonatologiegesellschaft und langjähriges Vorstandsmitglied der österreichischen Gesellschaft für perinatale Medizin. Sie betreibt heute zwei Kinderarztpraxen in Wien, unterrichtet Hebammenschülerinnen und wird auch regelmäßig zu Hausgeburten gerufen.

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