Autorin: Katja Baumgarten

DEUTSCHE HEBAMMEN-ZEITSCHRIFT Heft 11/2005

Interview mit Clarissa Schwarz

 

 

 

 

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ICM-Kongress in Brisbane

Katja Baumgarten hat mit der Hebamme und Gesundheitswissenschaftlerin Clarissa Schwarz gesprochen, die aktiv am Welt-Hebammen-Kongress in Brisbane in Australien teilgenommen hat

Katja Baumgarten: Welches sind Ihre wichtigsten Eindrücke, die Sie vom ICM-Kongress aus Brisbane mitgebracht haben?

Clarissa Schwarz: Mein Interesse lag vor allem auf den wissenschaftlichen Aspekten. Deshalb ist meine Perspektive etwas einseitig. Der Kongress war außerordentlich gut besucht, es sollen über 2.000 Hebammen da gewesen sein. Wir hatten einen riesigen Kongress-Saal, der oft voll besetzt war. Morgens ging es im großen Kreis los, dann gab es meistens zehn oder elf parallele Veranstaltungen. Es gab auch einige Filmvorführungen – darunter ja auch Ihr Film „Mein kleines Kind“. Überwiegend bestand das Programm jedoch aus Vorträgen. Der Kongress dauerte fast vier volle Tage, davor fand eine große Eröffnungsveranstaltung und am Ende wieder eine große Abschlussveranstaltung statt – das war sehr beeindruckend, wenn man sich unter so vielen Hebammen aus aller Welt befindet. Diesmal fand allerdings nicht dieser spektakulären Einzug der Hebammen aus allen Ländern mit ihren landestypischen Gewändern und Trachten statt, wie vor drei Jahren in Wien.

Gab es Akzente vom Gastgeberland Australien?

Es gab zur Eröffnung die Vorführung einer Aborigines-Gruppe - die wirkten aber  etwas deplaziert, wie bei einer Veranstaltung für Touristen. Das Land gehört seit Tausenden von Jahren den Aborigines. Die Weißen haben jedoch immer so getan, als sei es ihr Land. Inzwischen scheint sich das Bewusstsein zu verändern. Für mich war sehr auffallend, wie auf dem Kongress oder später, als ich weiter durch Australien gereist bin, bei Veranstaltungen immer daran erinnert wurde, welcher „Community“, welcher Gruppe von Ureinwohnern an diesem Ort man es verdankt, dass man jetzt dort sein kann und dass diese Gegend früher ihr Refugium gewesen ist. Es gibt auch immer mehr Umbenennungen von Parks und Landschaften, die wieder die alten Namen erhalten. Dieses neue Bewusstsein ist erst spät aufgekommen. Erst 1968 haben die Ureinwohner das Wahlrecht erhalten. Es sind so viele Weiße ins Land gekommen, dass sie heute 98 Prozent der Bevölkerung ausmachen.  

Waren die Aborigines auch mit Hebammen vertreten?

Das ist ein ganz großes Problem. Es gab Veranstaltungen zur Situation der Hebammenausbildung: Wie akademisch soll die Ausbildung sein? Wie sehr bleibt dabei die praktische Ausbildung auf der Strecke? In wieweit bekommt man dadurch akademische Hebammen, die man nicht im Kreissaal einsetzen kann, weil ihnen die Erfahrung fehlt? Bei einer dieser Veranstaltungen wurden drei angehende Aborigines-Hebammen, vorgestellt. Sie studierten an einer Universität, die einen Studiengang anbietet, wo als „direct-entry“ grundständig Hebammen ausgebildet werden. Das ist für Australien ein Novum, das es noch nicht lange gibt und das sich noch nicht durchgesetzt hat. Es gibt immer noch eine ganze Reihe von Ausbildungsgängen, die Krankenschwestern weiterbilden. Eine der Aborigine-Frauen war schon älter, sie war bereits Großmutter, eine ziemlich junge Frau war dabei und eine im mittleren Alter. Alle waren sehr stolz auf diese Frauen, weil es praktisch keine eigenen Aborigine-Hebammen gibt.
Die Aborigines haben ein Ausbildungsproblem. Sie haben nicht die erforderlichen Schulabschlüsse, die die Voraussetzung für ein Studium an der Universität sind. Diese Problematik tritt durch die akademisierte Hebammenausbildung verschärft zu Tage. Dazu brauchen sie einen Schulabschluss der dem Abitur entspricht. Umgekehrt droht das traditionelle Wissen auszusterben, weil alle Aborigine-Frauen zur Geburt in weit entfernte Städte mit geburtshilflichen Zentren ausgeflogen werden. Sie dürfen nicht mehr in ihrem Lebensbereich entbinden – nicht weil es gesetzlich verboten ist, sondern weil es durch die Versicherungssituation so unmöglich gemacht wird, dass sich niemand mehr traut. Das gesamte Gesundheitssystem ist drauf ausgelegt, die Frauen in die Klinik zu bringen, notfalls auszufliegen. Sie werden oft vier Wochen vor dem Termin irgendwo untergebracht, oftmals nicht an einem besonders angenehmen Ort, wo sie – weit weg von der Familie - alleine sind, mit anderen Schwangeren aus anderen „Communitys“, mit denen sie sich vielleicht auch nicht unbedingt gut verstehen. Für die Frauen ist es eine Katastrophe.

Gibt es keine kleinen Krankenhäuser in der Nähe, wo diese Frauen entbinden könnten?

Kleinere Krankenhäuser vor Ort gibt es auch nicht mehr. Beispielsweise in Zentral-Australien, wo ich später auf meiner Reise noch war, da fahren die Aborigine-Frauen mit dem Bus oder mit dem Auto drei bis fünf Stunden in das nächste größere Krankenhaus, weil es vor Ort niemanden mehr gibt, der die Geburten betreut. Ich habe gefragt, warum? Wenn sie so viel Wert darauf legen, dass man Hebammen und Krankenschwestern in einem Beruf beieinander hat, weil man sie dann kombiniert einsetzen kann. So etwas macht in einer ländlichen und abgelegenen Region Sinn. Aber auch die, die es vielleicht könnten, trauen sich nicht Geburtshilfe zu leisten und legen sehr viel Wert darauf, dass die Frauen rechtzeitig ins Krankenhaus gebracht werden.

Klagen denn die Aborigine-Frauen so viel, dass die Versicherungen solche Probleme bereiten?

Ich weiß es nicht. Mir scheint, dass die Aborigines so fremd bestimmt sind, das alle machen, was man von ihnen erwartet. Vielleicht ist das ein Standard, den man dort anstrebt. Man findet eine eigenartige Mischung aus Traditionsverbundenheit einerseits und andererseits einen großen Einfluss der Weißen. Ich kann das sehr schwer nachvollziehen. Das Entscheidende ist, dass die Australier es nicht geschafft haben, die traditionellen Hebammen in das Gesundheitssystem einzubinden, wie man das von anderen Ländern kennt, die Wert darauf legen, das traditionelle Wissen zu integrieren. Sie bilden und qualifizieren ihre traditionellen Hebammen weiter, die aber ihr Wissen behalten. Von solchen Bestrebungen habe ich nichts gehört. Wenn man in Australien hört, dass sie „indignity-midwivery“ machen, dann eher in dem Sinne, dass die Professionellen verstehen lernen, warum sich die Ureinwohner „so komisch“ verhalten. Dass es für sie beispielsweise ungehörig ist, sich in die Augen zu gucken, wenn man miteinander spricht. Es gibt auch lange Gesprächspausen. Man muss Geduld haben, wenn man eine Frage stellt und man erhält keine Antwort. Die Frage muss offensichtlich erst gefühls- und verstandesmäßig verdaut und verstanden werden und es dauert bis eine Antwort kommt. Wenn einem das zu lange dauert und man schon die nächste Frage stellt, dann gehen sie in die nächste Nachdenkphase und dann erhält man wieder keine Antwort. Das sind traditionelle Höflichkeitsverhaltensweisen, dass diese Gesprächspausen, die bei uns eher unangenehm sind, für die Aborigines geradezu nötig sind. Das ist kulturelles Kow-how.

Ist die Hebammen-Ausbildung dieser drei Aborigines dann eine normale westliche Ausbildung?     

Ja, das ist ein richtiges Studium. Das Bachelor-Studium dauert drei Jahre und anschließend kann man noch ein Masterstudium über zwei Jahre anhängen.
Die „indignity-midwivery“, wovon ich eben gesprochen habe, das ist die kulturelle Weiterbildung von Weißen in Bereichen, wo sie Ureinwohner als Patienten haben. Das wird zum Teil auch an den Unis gelehrt. Auch in den Hebammenausbildungs-Kursen gibt es „indignity-midwivery“ oder „indignity-nursing“. Das ist aber nicht das, was ich mir blauäugig vorgestellt hatte, dass man traditionelles Wissen hat und in die Ausbildung integriert und lehrt – davon habe ich nie etwas gehört.
Der Staat, übernimmt die Ausbildungskosten der drei Aborigine-Frauen, denn eine Hebammenausbildung ist in Australien sehr teuer, sie könnten sie sich sonst nicht leisten. Deshalb sind alle darauf besonders stolz. Diese drei hatten die formalen Voraussetzungen für die Ausbildung. Eine weiße Hebamme kümmert sich ganz besonders um sie und erteilt ihnen, soweit sie das brauchen, etwas Stützunterricht“, weil sie vielleicht doch nicht das Ausbildungsniveau haben, wie alle anderen, um dem Studium zu folgen.

Welche Länder waren in Brisbane vertreten?

Es war spannend die verschiedenen Perspektiven aus den verschiedenen Ländern zu erleben - auch, zu sehen aus wie vielen Ländern Hebammen berichtet haben. Ich war neben Andrea Stiefel die einzige deutsche Hebamme, die mit einem Vortrag vertreten war. In dieser Hinsicht war Deutschland auf dem gleichen Rang wie Botswana oder Äthiopien. Es waren sehr viele Hebammen aus dem englischsprachigen Raum vertreten, aus Irland, Großbritannien, natürlich auch aus den USA und Australien. Der Kongress war sehr stark englisch dominiert – mit zum Teil phantastischen Forschungsergebnissen

Welche Ergebnisse haben Sie besonders inspiriert?

In diesen Ländern beschäftigt man sich mit Fragestellungen, an die denken wir hier in Deutschland gar nicht. Es gibt eine große Zahl von Masterarbeiten, Doktorarbeiten, Forschungsprojekte von Hebammen, die als „reserch-midwifes“ bezahlt werden und sehr professionelle Forschungsprojekte oder Beratungstätigkeiten durchführen, beispielsweise als Beraterinnen in der Politik. In England, Schottland und Wales gibt es zum Beispiel fest angestellte gut bezahlte Hebammen, die nichts anderes zu tun haben, als die Politik zu beraten und für diesen Zweck auch Gutachten zu erstellen und Information zu sammeln. In Australien gibt es das auch.

Von den westlichen Hebammen gibt es viele Fragen und Erfahrungen, die im Rahmen dieser politischen Beratungstätigkeit und aus Forschungsprojekten entwickelt werden, die wir uns gar nicht stellen. Was bei uns beforscht wird, sind beispielsweise Vergleiche von Prostaglandin A mit Prostaglandin B. Es wird aber nicht untersucht, was passiert, wenn man gar nichts macht. Man benötigte also eine Kontrollgruppe, ohne Intervention, um heraus zu finden, wie sinnvoll die Intervention ist, statt nur Intervention A mit Intervention B vergleichen.
Man könnte Frauen nach einem Kaiserschnitt direkt fragten: Wie kommt die Entscheidung zustande, ob Mütter ihr nächstes Kind vaginal oder wieder per sectio kriegen? Wo kriegen sie ihre Informationen her, wie verhalten sich die Ärzte, wie verhalten sich die Frauen, wie sehr lassen sie sich von den Ärzten beeinflussen? Oder ein anderer wichtiger Punkt: wie stark wirkt eigentlich das ökonomische System? Wer bezahlt was und wie viel? Mir ist in Brisbane klar geworden, dass das ökonomische System mehr wirkt als wir uns eingestehen wollen. Beispielsweise haben die privat versicherten Frauen in Australien eine zweimal so hohe Sectiorate als die Frauen, die staatlich krankenversichert sind. Gegenwärtig versucht man erfolgreich dafür zu werben, dass die Bevölkerung sich mehr privat versichert. Mit dieser Versicherungsform haben sie jedoch viel höhere Interventionsraten, sodass sich mittlerweile die Ökonomen warnend zu Wort melden, die vielen unnötigen Interventionen führten zu einer Verschwendung von Ressourcen. Dabei haben privat Versicherte im Vergleich mit der Gesamtbevölkerung grundsätzlich ein niedrigeres Risiko. Da wird etwas deutlich, was bei uns nicht diskutiert wird, weil keiner hinguckt. Diese Merkmale werden in der Perinatalerhebung nicht erfasst. Aus Sicht der gesamten Gesellschaft kommt es dabei zu einer Verschiebung: Man lässt ausgezeichnet ausgebildete Teams für etwas Unnötiges arbeiten, die an anderen Stellen fehlen, wo man sparen muss. Warum wird beispielsweise soviel CTGs geschrieben, obwohl es nicht besonders Evidenz basiert ist? Es wird gut bezahlt!

Gab es zum CTG auch Forschungsergebnisse?

Eine Forschungsarbeit beschäftigte sich mit dem Einsatz des CTG bei „low-risk“-Schwangeren. Es wurde auf sehr geschickte Weise gefragt, ob die Frauen das CTG brauchen. Es ist ja nicht einfach, die Zufriedenheit von Frauen bezüglich der Schwangerenvorsorge oder Geburtshilfe herauszufinden, denn wenn das Kind geboren und gesund ist, dann sind sie ja fast alle zufrieden, weil sie auch nicht wissen, wie es hätte besser sein können. Diese Forschungsarbeit kam zu dem Ergebnis, dass das CTG für die Frauen nur insofern wichtig ist, als es ihnen Sicherheit vermittelt. Sie wollen hören, dass es ihrem Kind gut geht. Sie erleben, dass die Hebammen und Ärzte das nur können, wenn sie eine CTG-Untersuchung machen. Die Hebammen sind nicht mehr in der Lage Sicherheit auszustrahlen, wenn sie kein CTG haben. Also die Hebammen haben Angst und brauchen das CTG und die Ärzte haben vielleicht noch mehr Angst und brauchen es als Absicherung vor juristischen Konsequenzen. Also die Profis haben Angst ohne CTG, sie brauchen das CTG. Also brauchen die Frauen das CTG, damit die Profis ein Gefühl der Sicherheit haben, das nun wiederum die Frauen brauchen. Es wurde bei dieser Untersuchung auch herausgefunden, dass die Hebammen das CTG nicht „mögen“ dass sie aber nicht wagen, darauf zu verzichten, weil sie Angst haben. Solche patientenorientierte Fragestellungen, die über die typischen pharmazeutischen oder medizintechnischen Aspekte hinausgehen, finde ich interessant: Was brauchen die Frauen eigentlich, was wollen die Frauen? Was halten die Frauen für eine gute Betreuung? Wie viele Frauen wollen, wenn sie ein Kind zur Welt gebracht haben ein weiteres bekommen? Ob eine Frau so etwas noch einmal erleben möchte ist eine spannende Frage, aus der man viel ableiten kann. Ich war begeistert von all den vielen Master- und Doktorarbeiten und Ergebnissen von Forschungsprojekten, wo haufenweise Hebammen und vielen Ländern an Fragen arbeiten, die sie dort präsentiert haben. Andererseits war es teilweise auch erschütternd zu erfahren, wie in armen Ländern teilweise dramatische Zustände herrschen, dass Frauen verbluten, weil es an den geringsten Mitteln fehlt. Wo wir uns Gedanken machen, dass zu viele Kaiserschnitte gemacht werden, gibt es Regionen, wo es nicht einmal Transportmöglichkeiten gibt, um eine Frau ins Krankenhaus zu bringen.

Gab es Forschungsergebnisse, die sie überrascht haben?

Ja und Nein. Es gibt viele Forschungsergebnisse von der Sorte, wo man denkt, das hat man schon immer gewusst oder geahnt. Dass Frauen nach Einleitungen mehr PDA und häufiger ein Sectio erhalten, und es häufiger zu Nachblutungen kommt, das ist nicht so neu. Zur Diskussion um den Wunschkaiserschnitt gab es einer Reihe von verschiedenen Befragungen von Frauen nach einer Sectio: Sie gaben an, sie hätten lieber ihr Kind vaginal bekommen, aber man hätte es ihnen so dargestellt, dass der Kaiserschnitt die bessere Option oder die vaginale Geburt gefährlich für ihr Kind sei. Wenn sie wirklich eine Wahl gehabt hätten, hätten sie sich für die vaginale Geburt entschieden. Oder dass Frauen, die ihr Kind vaginal geboren haben sehr viel häufiger ein zweites Kind bekommen möchten während die Sectio-Frauen es häufig nicht noch einmal erleben möchten, das sind Ergebnisse, die nicht überraschend sind. Mich begeistert daran eher die Tatasche, dass sich so viele Hebammen diesen Fragen widmen und dass dadurch eine Diskussion angeregt wird. So etwas löst weitere Denkprozesse aus. Je mehr studierte Hebammen es gibt, umso mehr Hebammen trauen sich, Fragen zu stellen. In Deutschland gibt es keine Kultur, dass man die Geburtshilfe reflektiert. Wir lernen nicht, Fragen zu stellen. Im internationalen Vergleich ist mir aufgefallen, dass uns deutschen Hebammen das fehlt. Wir sollten uns trauen, auch einfache Fragen zu stellen und sie zu Forschungsergebnissen zu führen.

Gab es dazu Untersuchungen?

Ja. Die Ergebnisse sind erstaunlich gut: es heilt wunderbar auch wenn nicht genäht wird. Auch das Follow-up nach drei oder sechs Monaten brachte sehr gute Ergebnisse. Die Frauen sind zufrieden und es bleibt ihnen die Naht erspart.

Gab es weitere Studienergebnisse, die sie erwähnenswert finden?

Mein Augenmerk lag vor allem in den übergeordneten Themen, wie dem Gesundheitssystem - wie ist es organisiert? Durch alle Themen hat sich auch die Erkenntnis gezogen, dass eine Geburt immer mit dem Stiften einer Beziehung zu tun hat. Wie entsteht die Beziehung von Mutter und Kind und wie können Hebammen dies hilfreich begleiten? Ein Projekt von Inuit-Hebammen hat mich am meisten beeindruckt. Wie die Ureinwohner Australiens hatten auch die Inuit die Situation, dass ihre Frauen über viele Jahre zur Geburt in weit entfernte Städte ausgeflogen wurden. Parallel zu dieser Entwicklung fand in ihren Dörfern ein zunehmender sozialer Verfall statt: Die sozialen Bezüge fielen auseinander, es gab Drogen- und Alkoholprobleme. Depressionen nahmen zu bis hin zu jugendlichen Selbstmorden. Daraufhin wurde die Notbremse gezogen und man hat Veränderungen eingeleitet – unter anderem wurde ein Geburtshaus gegründet: die Geburt wurden wieder in das Dorf zurückgeholt. 

Ging diese Initiative von Inuit-Hebammen aus?

Ja, die Inuit-Hebammen, erhielten ein zusätzliches Training von einer weißen Hebamme, die auch bei dem Projekt mitgewirkt hat. Mittlerweile wird das Geburtshaus von einem Team von Inuit-Hebammen betrieben. Es wurde ein Video gezeigt, wo man sieht, wie die Frauen auch zur Geburt im Dorf integriert sind, die Kinder werden nach der Geburt traditionell in Empfang genommen, alle sind gerührt, die Frau wird gefeiert. Die Hebammen hängen immer die Fußabdrücke der Neugeborenen im Flur des Geburtshauses auf - über 1.000 Kinder sind inzwischen dort geboren. Dieses Projekt hat dazu beigetragen, dass die familiären Beziehungen wieder sehr viel stabiler geworden sind, und auch die anderen ernsten Probleme abgenommen haben. Es ist ein Teil von einem Umdenken, dass man die Frauen nicht mehr ausfliegt, weil man die Geburt für ein medizinisches Risiko hält, sondern dass man erkannt hat, dass eine Geburt mehr ist als ein physisches Überleben.

Ist es für die Frauen nicht gefährlich, so weit entfern vom nächsten ihre Kinder zur Welt zu bringen?

Das nächste Krankenhaus ist erst nach mehreren Flugstunden erreichbar. Deshalb selektieren die Hebammen sehr sorgfältig. Ab und zu muss eine Frau doch noch verlegt werden, aber sie haben eine geringe Sectio-Rate von drei Prozent. Insgesamt ist perinatale Mortalität wesentlich geringer als vorher. Das ist außerordentlich! Es bestätigt die Ergebnisse der „Farm“ von Ina May Gaskin, die ähnliche Zahlen vorweisen, die sich sehen lassen können: mit einer minimalen Sectio-Rate aber trotzdem einer minimalen perinatalen Mortalität. Viele wollen das nicht zur Kenntnis nehmen, dass die vertraute Umgebung ein großer Sicherheitsfaktor sein kann. Was bedeutet Sicherheit? Wenn man sich so eine junge Inuit-Frau oder ein Aborigene-Frau vorstellt, wie sie zur Geburt in eine fremde Welt geworfen ist, mit fremden Menschen, die auch noch alle acht Stunden wechseln, wenn es dieser Frau dann die Wehen verschlägt, wen kann das wundern?

Liebe Clarissa Schwarz, herzlichen Dank für diese eindrucksvollen Einblicke und Anregungen!

 

Die Autorin

Katja Baumgarten ist freie Hebamme, Filmemacherin und Journalistin in Hannover. Sie ist als Mitglied der Redaktion und als Fachbeirätin für die Deutsche Hebammen Zeitschrift tätig.
Weitere Informationen: www.KatjaBaumgarten.de

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