Autorin: Katja Baumgarten

DEUTSCHE HEBAMMEN-ZEITSCHRIFT Heft 11/2004

Interview mit Dorothea Heidorn

 

 

 

 

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Dorothea Heidorn

Dorothea Heidorn
Fotos: Katja Baumgarten


Wer bleiben will,
muss sich verändern


Katja Baumgarten sprach mit Dorothea Heidorn. Die erfahrene und engagierte Hebamme gehört nicht nur zu den Pionierinnen der Geburtshausbewegung, sondern regt immer wieder zur Diskussion an: mit innovativen Ideen und kritischem Blick auf den Berufsstand


Katja Baumgarten: Sie blicken auf fast 20 Jahre Erfahrung mit Ihrem Geburtshaus zurück.

Dorothea Heidorn: Am 1. Juli 1985 ist hier in Rödgen bei Gießen Deutschlands erstes modernes Entbindungshaus entstanden. Es ist nicht wirklich das erste Geburtshaus, aber es ist das erste nach einer langen geburtshausfreien Zeit, das ganz ohne Ärzte arbeitet. Früher gab es zahlreiche Entbindungsheime, die von Hebammen geleitet wurden. Um 1972 herum waren diese Geburtshäuser mit einem Schlag verschwunden, bis auf wenige Ausnahmen: zum Beispiel führt Karin Neureither in Leimen bei Heidelberg ein Entbindungsheim, das sie aus der alten Zeit herübergerettet hat. Sie hat eigentlich den Geburtshausgedanken durch ihre Tat und durch ihr Festhalten an dieser Tradition aus der Zeit vor 1972 herüber getragen in die Mitte der 80er Jahre, als eine neue Ära von Geburtshausgründungen begann.

Warum gab es ab 1972 keine Entbindungsheime mehr?

Das hat mehrere Gründe: Die damalige Präsidentin des BDH, Ruth Kölle, war aus meiner Sicht die ärztefreundlichste Präsidentin, die der Hebammenverband je hatte. Wir haben es nicht nur der Politik zu verdanken, dass die Geburtshilfe in die Krankenhäuser wanderte, sondern auch ihrer Art, den Berufsverband zu führen. Sie hat es nicht verstanden, Freiberuflichkeit zu stärken und zu erhalten. Auch die zunehmend stärker werdende Ärztelobby hat dazu beigetragen, dass es bald keine Hebamme mit Niederlassungserlaubnis mehr gab. Ich war meines Wissens die letzte Hebamme, die 1976 in Hessen eine Niederlassungserlaubnis erhielt.

Dorothea Heidorn

Warum haben Sie 1985 Ihr Geburtshaus gegründet?

Das Geburtshaus ist aus einer großen persönlichen Not heraus entstanden. Von 1982 bis 1985 habe ich vier Jahre lang an der Universitäts-Frauenklinik in Gießen die Hebammenschule aufgebaut und geleitet. Ich wollte bis zum Rentenalter Schulleiterin zu bleiben, doch Mobbing und eine darauf folgende Depression machten einen Strich durch diese Rechnung. Heute bin ich froh darüber. Damals, am 20. November 1984, als die Not am größten war, kam mir mit Erinnerung an meine Kindheit, die Idee zur Errichtung eines Entbindungsheimes.
Mein wichtigstes Anliegen ist es, die Frauen in ihren ureigensten Kräften zu bestärken. Selbstvertrauen, Selbstbewusstsein und Intuition sind die besten Voraussetzungen, um Krisen oder Notsituationen als freudige Herausforderungen anzusehen. Ich betrachte Geburt, Alter, Krankheit und Tod als natürliche Krisen. Eine Frau kann ihr Kind mit Hilfe der Hebamme, der einzigen Fachkraft für diesen Lebensbereich, in Würde und Sicherheit gebären und hat im Wochenbett außerdem sechs Tage „Nestschutz“. Mir gefallen deshalb die Berufsbezeichnungen „Sage femme“ und „Midwife“ am allerbesten!
Ich bin 1947 geboren und komme aus einer Ära in der man entweder zu Hause entbunden hat - das war die Regel - oder in einem Entbindungsheim. Damals kam eine Geburt in der Klinik überhaupt nicht in Frage, weil das für die Krankenkassen zu teuer gewesen wäre. Jetzt haben wir die Umkehrung: Heute haben wir ein bis zwei Prozent geplante außerklinische Geburten: Hausgeburten und Geburtshausgeburten und etwa 1,8 Prozent Geburten unterwegs in einem Auto – das sind mehr Geburten unterwegs in Beförderungsmitteln als Hausgeburten. Die restlichen Frauen entbinden in einem Krankenhaus. Die Zahl der außerklinischen Geburten ist eher wieder rückläufig. Ich hatte gehofft, die Gründung des Geburtshauses würde die außerklinische Geburtshilfe stärken. Es hat nichts bewirkt.

Wie meinen Sie das?

Es gibt jetzt mehr als 100 Geburtshäuser in Deutschland und trotzdem ist die Rate der außerklinische Geburten nicht gestiegen.

Also sind eher die Frauen, die ohnehin eine Hausgeburt gemacht hätten, ins Geburtshaus gezogen worden?

Ja, so sehe ich das. Und jetzt gehen sie auch wieder mehr und mehr aus den Geburtshäusern heraus. Es gab eine Umfrage eines Berliner Geburtshauses, nachdem dort ein Geburtenrückgang festgestellt worden war. Darin haben die Frauen sinngemäß geäußert: „Wenn man im Geburtshaus nicht gepflegt wird, können wir gleich zu Hause bleiben oder wir gehen lieber in die Klinik, weil man da immerhin zwei bis drei Tage gepflegt wird.“
Deshalb meine Botschaft: „Geburtshäuser gründen - bitte „en Masse“, das wird einem leicht gemacht. Aber bitte mit Zulassung nach § 30 der Gewerbeordnung - mit der Möglichkeit, die Mütter zur Wochenbettpflege mit sechs Tagen Liegezeit aufzunehmen. Nicht nur mit zwei Tagen Versorgung wie in der Klinik. Eine Chance der Geburtshäuser könnte darin liegen, dass man die Frauen im eigenen Haus nach der Geburt „in den Urlaub schickt“ und dass sie da von der Chefin betreut werden.

Übernehmen die Kassen sechs Tage Betreuung?

Diese umfassende Versorgung der Mütter war mir das Wichtigste und ich habe das einzige Geburtshaus in Deutschland, das diesbezüglich einen Richterspruch hat. Ich habe neun Jahre lang alleine, ohne Hilfe von Berufsverbänden, einen Prozess geführt: In der ersten Instanz habe ich verloren und in der zweiten Instanz mit einem Landessozialgerichtsurteil haushoch gewonnen. Ich bin damals vom BDH vollkommen allein gelassen worden.

Dorothea Heidorn

Hatten Sie den Verband um Hilfe gebeten?

Ja, das hatte ich. Aber es hatte niemand Interesse an der Idee des Geburtshauses. Schon 1984/85, als klar war, dass ich ein Geburtshaus gründe, kam von verschiedenen Funktionärinnen des Verbandes die Aussage: „Geburtshaus – das gibt ein Totgeborenes!“

Wann haben Sie den Prozess gewonnen?

Den Prozess habe ich 1993 gewonnen. Alle gesetzlichen Krankenkassen von den Frauen, die jemals zum Aufenthalt hier waren, mussten nachzahlen.

Wie war das Geburtshaus organisiert?

Ich hatte in den ersten Jahren 120 Entbindungen im Jahr: Ich habe extrem viel gearbeitet und hatte außerdem eine Halbtagskraft für Hilfe im Haushalt, beim Kochen und so weiter. Ich habe damals auch selbst für die Wöchnerinnen gekocht. Allerdings habe ich keine Nachsorgen gemacht, wenn die Frauen nach Hause entlassen waren, sondern Kolleginnen gebeten, die Nachsorgen zu übernehmen.

Wie lautet Ihr Vertag mit den Krankenkassen? Wie wird der Aufenthalt der Frauen bezahlt?

Laut Vertrag erhalte ich pro Frau im Zusammenhang mit einer Entbindung 511,30 Euro – eine Pauschale für bis zu sechs Tagen Aufenthalt. Unter dem 1993 gerichtlich erwirkten Vertrag stehe ich heute noch. Die Frauen brauchen keinen Eigenanteil zu zahlen, auch keine Rufbereitschaftspauschale.

Ist in dem Betrag bereits die Hebammengebühr enthalten?

Nein, alles andere, wie Hebammenbetreuung und die Materialkosten werden extra abgerechnet. Die Pauschale deckt nur Kost und Logis ab, die Hebammengebührenordnung bleibt unberührt.

Wie viele Kinder sind in Ihrem Geburtshaus zur Welt gekommen?

Ungefähr 1.100 Kinder wurden hier geboren–. Im kommenden Jahr wenn ich das 20-jährige Bestehen meines Geburtshauses feiern werde, weiß ich die exakte Zahl.

Sie bemerken einen deutlichen Geburtenrückgang in Ihrem Entbindungshaus, warum?

Das Bewusstsein der Frauen in dieser Gegend hat sich verändert – ich sehe das im Moment sehr regional. Mitte der 80er gab es noch die Ausläufer der Frauenbewegung, im Sinne von: „Mein Bauch gehört mir“. Heute erfahre ich die Frauen so, dass sie sagen: „Guck mal, Herr Doktor, ich habe so einen schönen Bauch, willst du ihn nicht haben?“ Da hat die Hebamme keinen Platz. Dann kommen noch Angstmache und Nichtaufgeklärtheit dazu. Zum Beispiel klärt kein Frauenarzt die Frauen darüber auf, dass er die Geburtshilfe gar nicht macht.
Ich wünschte, die Kassenärztliche Vereinigung würde stärker an die Aufklärungspflicht aller niedergelassenen Gynäkologen appellieren. Die Frage: „Wissen Sie, wo Sie Ihr Kind kriegen?“, sollte von Frauenärzten spätestens ab der zwölften Schwangerschaftswoche formuliert werden. Es sollte auch für Frühgeburtlichkeit und für Fehlgeburten erwähnt werden, dass es nur die Hebamme ist, die vor allem für die psychosozialen Belange zuständig zu sein hat. Ich sage „zu sein hat“, weil es die Hebammen leider oft nicht sind.

Arbeiten Sie mit anderen Hebammen zusammen?

Ich bin sehr froh, dass ich hier allein verantwortlich bin. Ich arbeite mit zwei Kolleginnen zusammen, die zur Geburt hinzukommen und die Gebühr für die zweite Hebamme abrechnen dürfen. Wenn während der Ära von Lilo Edelmann als Präsidentin des BDH, der Verband nicht diese eindeutige Verbesserung der Gebührenordnung erreicht hätte, dass eine zweite Hebamme bei der Geburt abrechnen darf, dass wir mehr Wochenbesuche abrechnen dürfen und die längere „Hütezeit“ haben – wenn dieser große Sprung nicht gewesen wäre, wäre es viel schwieriger, mein Haus zu halten.

Wann kommt die zweite Hebamme dazu?

Rund vier Stunden vorher – wenn ich merke, dass die Geburt über die vier Stunden nicht hinausgeht. Manchmal ist es weniger und manchmal reicht die Zeit auch gar nicht bis zum Eintreffen aber dann ist es auch gut. Ich bin niemals alleine bei einer Geburt. Ich habe immer eine Mütterpflegerin dabei, eine Assistentin.

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Welche Aufgabe hat die Mütterpflegerin?

Vor acht Jahren habe ich die Mütterpflegerinnenschule gegründet und zwar aus dem selben Grund, warum ich sechs Tage Wochenpflege anbiete, bei viel Ruhe, bester Verpflegung, viel Platz für eigene Entwicklung, für das Kennenlernen des Kindes und für die Rückbildung. Zu Hause haben die Frauen diese Unterstützung sehr selten. Ich komme aus einer Zeit, wo es noch die Wochenpflegerin gab. Diese Ausbildung gab es bis zum Ende der 70er Jahre. Das ist eine sehr gute Möglichkeit, den Müttern zu helfen, weil es aufsuchende und nachgehende Hilfe ist. Eine Wochenpflegerin oder Mütterpflegerin tut nie das, was eine Hebamme tut. Die Mütterpflegerin ist einfach da zur positiv mütterlichen Versorgung der Mutter und des Neugeborenen, der älteren Geschwisterkinder und der ganzen Familie. Wir lassen die jungen Mütter nicht allein. Wir sorgen für ein gutes Bonding. Ein Ausbildungsmoment bei den Mütterpflegerinnen ist auch Geburtsbegleiterin, so etwas wie die Doula. Das wird hier in der Gegend sehr gebraucht.

Wie viele Mütterpflegerinnen wurden bisher ausgebildet?

Inzwischen sind es 60 – davon sind 50 aktiv tätig.

Wie sieht die Zusammenarbeit aus?

Mit einer Mütterpflegerin arbeite ich eng zusammen. Sie ist schon bei der Vorsorgesprechstunde dabei. Wenn ich Sprechstunde habe, macht sie Sprechstundenhilfearbeit – aber nicht zu den Punkten, die im Mutterpass stehen, sie macht keine Befragungen. Sie sollte einfach nur freundlich sein und sie hilft, wenn es Überschneidungen gibt. Und wenn eine Frau zur Wochenbettpflege im Haus ist, wird sie nach allen Regeln der Kunst von einer Mütterpflegerin betreut. Die Mutter wird im wahrsten Sinne des Wortes in Urlaub geschickt. Wenn sie möchte, bekommt sie Massagen, Shiatsu-Anwendungen, oder sie bekommt Babymassage beigebracht.

Sind das alles Dinge, die die Mütterpflegerin gelernt hat?

Ja. Die Mütterpflegerin arbeitet überwiegend in ihrem Präferenzbereich und ihrer Ausbildung entsprechend, das heißt, sie tut alles, um die Mutter zu
Bemuttern. Zum Beispiel: Manche kocht sehr gerne und die Mutter erhält dann schon Morgens einen frisch geschnittenen Obstsalat mit Sahne. Die andere beherrscht verschiedene Streßbewältigungsstrategien. Alle Mütterpflegerinnen sind in der Lage, achtsam und einfühlsam auf die persönlichen Bedürfnisse der Frauen, die sich ihr anvertrauen, einzugehen und mit ihnen gewaltfrei zu kommunizieren. Übrigens: „A mother needs to be mothered“ ist ein Satz meiner Lehrhebamme Maria Hipp, der mir noch heute in den Ohren klingt. Sie hat uns immer danach beurteilt, ob wir die Mutter im guten Sinne bemuttern. Das kann auch bedeuten, Hilfe zur Selbsthilfe zu geben.

Wie lange ist die Mütterpflegerin bei einer Frau?

Meistens kommt die Mütterpflegerin bereits zum Wehenbeginn zu der Schwangeren zu Hause, fährt dann mit ihr hierher zum Entbinden und geht später wieder mit ihr nach Hause. Wenn sie zusammen kommen, ist das optimal. Oder sie kommen aus zwei verschiedenen Richtungen und treffen sich hier. Die Mütterpflegerin ist auf der einen Seite vertraute „Freundin“ der Gebärenden und auf der anderen Seite meine Assistentin, beispielsweise um Handreichungen zu machen oder beim Nähen zu assistieren. Das passt sehr gut zusammen und bringt viel Ruhe.
Laut RVO steht jeder Frau nach der Entbindung eine „Haushalthilfe“ für sechs Tage à acht Stunden zu. Leider wissen das nur wenige Hebammen und so entgeht den Frauen eine ausgezeichnete Möglichkeit zur optimalen Versorgung im Wochenbett. Bei Bedarf kann nach Absprache mit der Versicherung der Mütterpflegerinnen-Service individuell verlängert werden. Dies bedeutet, dass die Krankenkassen Kosten für Krankenhausaufenthalte in enormer Höhe sparen können.

Wie sehen Sie die Zukunft des Hebammenberufs?

Hebammen müssen endlich anfangen, sehr umfassend Hebamme zu sein. Das heißt, sich auch den psychosozialen und erzieherischen Bereich in der natürlichen Krise des Familiewerdens, des Elternwerdens und Elternseins anzueignen. Sie müssen die Eltern mit Stressbewältigungsstategien stärken und vor allen Dingen durch lupenreine friedfertige Kommunikation. Auch die Begleitung des kleinen Menschen ist eine wesentliche Aufgabe von Hebammen, so dass wir nicht noch mehr Schreibabys haben. Die haben wir ja irgendwo „mitproduziert“. Wir Hebammen ernten im Moment das, wofür wir in der Vergangenheit nicht ausreichend Sorge getragen haben – ebenso wie der Staat und die Politiker es im Moment erleben. Wenn wir unsere Ernte nicht betrachten, dann gebe ich dem Hebammenberufsstand keinerlei Chance. Geburtshäuser sind eine ausgezeichnete Möglichkeit, sich zusammenzutun und endlich im Team zu arbeiten. Man sagt immer von Hebammen, sie seien Einzelkämpferinnen. Ich sage: Hebammen sind nicht teamfähig. Das fängt in der Hebammenschule an. Das Team ist es! Wenn wir nicht zusammen bleiben und uns nicht sofort ändern, dann bleiben wir nicht. „Tempera mutantur et nos in illis“ – sinngemäß: „Wer oder was bleiben will, muss sich verändern.“: Das haben die alten Römer schon gewusst, dieses Motto sollte auch eine moderne Hebamme beherzigen.


Dorothea Heidorn Dorothea Heidorn Dorothea Heidorn


Die Interviewte

Dorothea Heidorn ist ausgebildete Kinderkrankenschwester, Krankenschwester und Hebamme. Sie ist Lehrerin für Hebammenwesen, Leiterin und Gründerin des Entbindungshauses und der Mütterpflegerinnenschule in Gießen. Seit August 2004 ist sie Familien-/Managementtrainerin und Coach.
Weitere Informationen: www.Hebamme-Heidorn.de


Die Autorin

Katja Baumgarten ist freie Hebamme, Filmemacherin und Journalistin in Hannover. Sie ist als Mitglied der Redaktion und als Fachbeirätin für die Deutsche Hebammen Zeitschrift tätig.
Weitere Informationen: www.KatjaBaumgarten.de



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