skulptur 09, studio holterhoff
Wer kennt diese Situation nicht: Am Himmel beobachten wir ein Flugzeug, das wir mit unseren
Augen verfolgen und an der Stelle, an der wir eine Fassade erblicken, von dieser wie verschluckt zu
werden scheint: Wo ist es geblieben? Dank unseres räumlichen Vorstellungsvermögens wissen wir
diese Seherfahrung richtig einzuschätzen: Ein erstaunliches, komplexes Phänomen der Deutung
unserer Wahrnehmungsinformationen, dem wir im Alltag kaum Aufmerksamkeit schenken.
Die graphischen Wand- und Bodenobjekte der in Köln arbeitenden und in Leverkusen lebenden
Künstlerin Ute Nagelschmidt, Jahrgang 1948, thematisieren derartige Täuschungen unserer
Wahrnehmung und hinterfragen Umsetzungsmethoden illusionistisch-perspektivischer Reduktionen
in räumliches Sehen. Minimalisierend klare, unifarbene, oft poppig-bunt glänzende, aber auch
diskret holzfarbene ästhetische Arbeiten, wie „form 014" oder „twice", zeigen in der heutigen
Ausstellung - skulptur 09 - in verblüffender Direktheit die Relativität der Betrachteransichten aus
unterschiedlichen Standorten und legen sie mit einfachsten Mitteln bloß. "Und das ist auch
inhaltlich gemeint“, sagt die Künstlerin, als wir uns über "Ansichtswechsel" als Metapher
unterhalten: Ein und dieselbe Sache sieht von unterschiedlichen "Standpunkten" aus gesehen oft
anders aus, aber eigentlich "be-zeichnet" man aus verschiedenen Ansichten das Gleiche.
Inspiriert von bunten Bauklotztürmen, die ihre Kinder, bzw. Enkel konstruierten, Fotos von blauen
Riesenbassins am Straßenrand auf der Urlaubsfahrt durch Frankreich und motiviert durch ihre
Vorliebe für die Zeichnung, schafft Ute Nagelschmidt eine wahrnehmungskritische Kunst, die über
zeichnerische Projektionsmethoden reflektiert, Erkenntnisse für das Leben bietet und sogar die
psychologische Dimension unserer Attitüde vor ihr anzureißen wagt: Wir beobachten uns beim
Zugehen auf ein Werk oder beim Rückzug, denn unsere Suche nach einer räumlichen Einschätzung
verlangt eine ständige Standortveränderung, lässt uns fast in Berührungsnähe an sie herantreten
oder in größtmöglichem Abstand nach allen Seiten hinweg bewegen, um uns dem Sog der
irritierenden Nähe zu entziehen.
Die Künstlerin nimmt sich als Schöpferin neuer Formen eher zurück, möchte dahingegen unser
Sehen verstehen und zählt auf uns. Durch unser entgegenkommendes Verhalten werden wir zum
Mitgestalter, von dem eine aktive, aufmerksame Auseinandersetzung verlangt ist. Eine eventuelle,
anfängliche Orientierungslosigkeit ergibt sich aus der Abwesenheit der Konstruktionslinien im
Inneren der Zeichnung, die üblicherweise zur Darstellung perspektivischer Verzerrungen und
Körperfaltungen eingesetzt werden. Sobald wir die Arbeiten durch kleinste Veränderung unserer
Wahrnehmung (z.B. der Höhe, in der sie hängen, unseres Standpunktes im Raum, unseres
Blickwinkels und Abstands zu ihnen) als zeichnerische, reduziert-illusionistische Projektion
identifizieren können, ist es, als würden wir im nächsten Augenblick die Sprache verstehen, die uns
zunächst so fremd vorkam: Der Zugang zu unseren im Gedächtnis gespeicherten und geordneten
optischen Erfahrungen ist gefunden, unser räumliches Vorstellungsvermögen wird aktiviert, die
flächigen Konstruktionszeichnungen verwandeln sich für uns in dreidimensionale Bilder!
Genau darin liegt der besondere Reiz und die spezifische Qualität der Arbeiten von Ute
Nagelschmidt: Die undefinierten inneren Binnenformen - sozusagen Informationsvakuen - treffen
in fast unerträglicher Spannung auf die klar definierten unregelmäßigen Grenzlinien der Konturen,
die alleinige Informationsträger sind und ein lebendiges Spiel des Changierens zwischen ihnen
nimmt seinen Lauf. Wir können uns nicht der Aufgabe entziehen anlässlich der verkürzten Linien
der Zeichnung - Projektion, die in mehreren Schritten die Dreidimensionalität der Körper über die
Fotografie auf ein flaches Objekt übertragen und mit Decofolie auf Kapa aufgezogen und gesägt
oder in Schaumstoff geschnitzt werden - die Körpervolumina und räumliche Kontexte im
Gedanken durch Vergleiche zu ergänzen, um in unserer Seherfahrung illusionistisch-perspektivische
Effekte zu erkennen.
tänzerische Flimmern zwischen der Ansicht als Konstruktionszeichnungen und der Wahrnehmung
als plastische Körper, die sich in die Wand hinein und auf uns zu bewegen zu und beharren Sie nicht
auf eine einzig-richtige Ansicht: überwinden Sie die Grenzen des "einseitigen" Sehens!!
Dr. Martha Cencillo
Kunsthistorikerin
zu den arbeiten
"Glück und Konsum", Fluxusfreunde Wiesbaden, Februar 2006
Eine rührend naive, kindliche Vorstellung von Glück wird von
Ute Nagelschmidt wachgerufen, und zwar in Gestalt von zwei über die Maßen niedlichen
Anziehpuppen: Pausbäckig und putzig begegnen uns die Kleine Fortuna und ihr Lucky Boy.
Eine Idylle, der wir nicht so recht trauen können. Ein ambivalentes Gefühl wie bei
Werken von Jeff Koons stellt sich angesichts dieser medial verkitschten Kinderbilder ein.
Für die Künstlerin werden hier, so sagt sie, Erinnerungen wach an die eigene Kindheit
und an damit verbundene Glücksversprechungen einer heilen Kinderwelt. Doch gerade in
der aufdringlichen und koketten übertreibung lauert schon der unausweichliche Verlust
des süßen Kinderglücks.
Aus dem Katalog Glück und Konsum: Aspekte der Ver-Dinglichung
zu den arbeiten
„Nach Strich und Faden" BBK Köln, Januar 2001
In Ute Nagelschmidts Zeichnungen und Objekten spielt der Faden bzw. die Linie eine herausragende Rolle.
Die Künstlerin zeigt hier Objektzeichnungen, gerahmt von Holzkästen, deren Vorder- und Rückseiten mit transparentem
Nylon bespannt sind. Fäden aus Nähseide führen von der Vorderseite zur Rückseite und umgekehrt und entwickeln sich so zu
arabeskenhaften Formen. Die Linie ist hier maßgeblich am Entstehen von Bildräumen beteiligt. Sie schient zu wandern, tritt
aus dem Bild heraus, bildet Progressionen, verdichtet und öffnet sich wieder. Chiffren für Energien, Impulse und Prozesse
begegnen wir hier. Die Formen durchflechten und durchdringen sich zu einem dynamischen Gefüge aus Einzelelementen, die im Raum
zu schweben scheinen. Es entstehen wahre Filigrangeflechte. ähnlich auch in den kaligraphisch anmutenden Stickarbeiten auf
Seidenpapier. Der Rückseitige Fadenlauf ist hier teils schemenhaft erkennbar und zeigt im wahrsten Sinne die Verstrickung des Fadens.
In den Zeichnungen greift Ute Nagelschmidt das Thema der Kästen auf, teilweise sind es sogar die Projektionen dieser Näh/Stickarbeiten.
So z.B. in den großformatigen ungerahmten Zeichnungen im hinteren Raum. Die Seidenpapierarbeiten hingegen bestehen aus ca. 20-25 Lagen
übereinander geklebtem Seidenpapier, wobei jedes Blatt eine kleine Zeichnung, teilweise auch nur ein einzelnes, langes Haar enthält.
Durch die Transparenz des Papiers schimmert beides jeweils durch. Die Formen und Zeichnungen erhalten durch die Mehrschichtigkeit eine
Tiefe und verändern sich je nach Blickwinkel.
Solche Veränderungen sind auch in der Haarnadelinstallation festzustellen. Aus unmittelbarer Nähe betrachtet wirkt sie wie ein einziges
unstrukturiertes Chaos, die Nadeln sind ungleich weit gedehnt, manche überlagern sich, die Abstände sind unregelmäßig. Aus der Entfernung
jedoch entwickelt sich das Chaos zu einem komplexen, strukturalen Gefüge, einem Barcode ähnlich.
Ute Nagelschmidts Arbeiten scheinen keinem festen Kompositionsprinzip unterworfen zu sein, sondern von rein subjektiven, emotionsbedingten
Momenten bestimmt zu sein. Aus dieser Intuition heraus scheint in ihren Arbeiten das Unbewusste zum Vorschein zu kommen: flüchtige Gedanken,
die kurz auftauchen und dann wieder verschwinden, auf der Bildfläche festgefrorene Momente, die eine gewisse Spannung zwischen Enthüllung
und Rückzug erzeugen.
Dabei zeigt sich in den formalen Ausdrucksmitteln eine expressionistische Tendenz, mit fast schon anarchischer Komponente. Ute Nagelschmidt
unterstreicht den Charakter des Flüchtigen durch die materialimmanenten Qualitäten und Eigenschaften der Bildmittel. So verwendet sie überwiegend
zerknittertes Seidenpapier, Nylon und Voile: transparent, empfindsam und leicht zerreißbar, ebenso die Nähseide. Die Objekte evozieren bereits
aus sich heraus die materiellen Werte Leichtigkeit und Fragilität. Durch das Nylon, das vor die Objektkästen gespannt wird und die
Mehrschichtigkeit in den Zeichnungen, verschwimmen die Konturen und zerfließen. Sie vermitteln den Eindruck von optischer Distanz und von
malerischer Transitorik. Und gerade diese optische Distanz, hervorgerufen durch die transparente Bespannung bewahrt den Formen und Bildern
eine gewisse Intimität. Es entsteht so ein Spannungsverhältnis zwischen Werk und physisch distanziertem, aber emotional angesprochenen
Betrachter. Die Offenheit der Bedeutung und Funktion von „Strich und Faden" weckt vielfache Assoziationen, die aber letztendliche für den
Betrachter in der Schwebe bleiben.
Irmgard Schifferdecker, M.A.
zu den arbeiten
„Textile Objekte", Brühler Kunstverein, Mai 1998
Auf den ersten Blick registriert man Bekanntes, doch beim näheren Hinsehen ist man verwundert: Röcke, Mieder, Höschen, Strumpfhosen
und Büstenhalter werden in den Blick gerückt. Aber diese weiblichen Kleidungsstücke treten uns hier in einer sonderbaren Form und Rauminstallation
entgegen - nicht so, wie wir sie aus dem Alltag kennen. Sie haben die ihnen bis dahin zugewiesene Welt verlassen, um sich nun auf eigentümliche Weise
in der Welt der Kunst zu zeigen und zu tummeln. Mit der Verwendung von Gebrauchsgegenständen des täglichen Lebens steht die Kunst Ute Nagelschmidts in
der Tradition der Nouveaux Réalistes, einer Künstlerbewegung der sechziger Jahre. Auch diese Künstler benutzten Gegenstände des Alltags und integrieren
sie in die Kunst, um damit der Kunst einen größeren Realitätscharakter zu verleihen und diese mehr mit dem alltäglichen Leben zu verbinden.
Ute Nagelschmidt nimmt Dessous, entfernt sie aus der Gebrauchswelt und transportiert sie in die Welt der Kunst, indem sie sie verfremdet und einer
Veränderung unterzieht. Einfache Büstenhalter, Mieder und Korsagen werden dergestalt präpariert, daß nur noch das „Gerüst" stehen bleibt, d.h. alle
Flächenteile werden entfernt. Daß die Dessous von ihren textilen Flächen befreit sind, macht sie zarter, filigraner. Dieses "Gerüst" eines Büstenhalters
oder Mieders wird dann in einen eigens dafür angefertigten schlichten Schaukasten aus Holz gehängt. Darüber spannt die Künstlerin dann abschließend Gaze.
So rückt sie diese ganz alltäglichen Kleidungsstücke in ein völlig anderes Licht: Die Unterwäsche wird ihrer stützenden, formverbessernden und damit
auch einengenden Funktion enthoben. Sie erhält einen neuen Sinngehalt durch einen Bedeutungsverlagerung: Was halten und formen soll, wird nun selber
im Rahmen gehalten und getragen, was normalerweise einengt ("Mein Hüfthalter bringt mich um!"), wird nun durchlässig und geöffnet.
Damit gelingt es Ute Nagelschmidt, Mieder und Korsagen in Objekte von fast schwebender Leichtigkeit zu verwandeln. „Für mich war es wichtig, diesen
"figurverbessernden" Bekleidungsstücken der Frau eine andere Präsentation zu geben, die das Gewohnte beinhaltet, gleichzeitig jedoch im Betrachter
ein neues Bild, losgelöst von jeglichem Gebrauchswert, entstehen lassen kann" (Ute Nagelschmidt). Mit den Dessous nimmt Frau Nagelschmidt etwas, das
eigentlich in den Bedeutungsraum des Intimen, Körpernahen und Privaten gehört, versetzt sie nun in einen öffentlichen Ausstellungsraum und macht sie
damit zu Exponaten. Jedoch verleiht sie den Textilien durch die zarte, transparente Verschleierung über den Rahmen und die Holzkästen auch wieder einen
intimen Charakter. Damit gelingt ihr das Kunststück, ihre Objekte so zu gestalten, dass sie sowohl öffentlich sichtbar aber auch von der Umgebung
abgeschirmt sind. Denn, versetzt in einen eigenen kleinen Raum, in dem die Dessous wirken können, sind sie präsent und doch verhüllt und damit separiert.
Somit schafft Ute Nagelschmidt auf der Ebene des Künstlerisch-ästhetischen ein äquivalent zu dem erotischen Spiel von Verschleiern und doch Durchscheinenlassen.
In diese Welt der ästhetischen Leichtigkeit gehören auch die Nylon-Strümpfe: Mal werden sie zu kleinen Kreisen zusammengerollt und wie zu einer Blüte
konzentrisch auf dem Fußboden arrangiert, ein andermal werden wie über Plexiglas- oder Glasbehälter gezogen und bekommen damit eine andere Form. Zugleich
werden Transparenz und Feinheit des Gewebes wirksam. So werden - je nach zugrundeliegender Form und Anbringung - auch unterschiedlichste Assoziationen
möglich.
Der Charakter des Zarten und Feinen, des Transparenten und ästhetischen setzt sich ebenfalls in den auf Gaze gemalten Kleidern fort. Nun sind es nicht
mehr reale Dessous oder Kleidungsstücke, die die Künstlerin gestaltet, sondern hier zeichnet sie mit Aquarellfarbe Kleider auf durchsichtigen Voile. Doch
erschöpft sich die Ausstellung von Frau Nagelschmidt nicht in der Präsentation von extrem Fein-Stofflichem. Mit ihren gefüllten Miedern und "Rock-Objekten"
schafft sie einen plastisch-kompakten Kontrapunkt.
Zu der transparenten Unterwäsche in den Rahmen und Kästen bilden die mit Watte ausstaffierten Miederhöschen an den Wänden voluminöse und massive Gegenstücke.
Plastisch wirken sie fast wie Torsi.
Die in hölzerne, fast quadratische Gestelle gehängten plissierten Röcke sind aus blickdichtem Gewebe und wirken dadurch geschlossener und "handfester" als
die eingangs beschriebenen Arbeiten. Da die Röcke zwischen den Beinen der Gestelle sichtbar bleiben, kann sich das Plissee von der schlichten Struktur des
Holzes abheben. Die Gewebestruktur wird somit eindrucksvoll in den Blick gerückt.In diese so ästhetisch gestaltete Objektwelt hinein setzt Ute Nagelschmidt
aber auch einen humorvollen Kontrast: Kleine, bunte Knöpfe, in der Regel untergeordnete Mode-Utensilien, werden völlig unbearbeitet, samt dem Verkaufskarton
an die Wand geheftet. Kombiniert mit den Kartonrückseiten, die die Befestigungsnähte zeigen, vermitteln diese Knopfreihe einen eigentümlich graphischen Reiz.
Sie runden - zusammen mit einer kleinen Galerie altertümlicher Abbildungen von Damenmode - den Bereich diese von der Künstlerin geschaffenen Kunst-Welt ab,
in der "banale" Kleidungsstücke durch die Art der Präsentation eine seltsam-fremde Schönheit gewinnen.
Liane Heinz, M.A.
zu den arbeiten