Andreas Wittbrodt
Das blaue Glühen des Rittersporn. Die Gründungsphase der deutschsprachigen Haiku-Literatur (1953-1962)
 
1.
In seiner 1986 publizierten Abhandlung "Deutsche Haiku" hat Katō Keiji die Geschichte des deutschsprachigen Haiku in drei Epochen unterteilt. Die erste Epoche beginne mit Gedichten von Arno Holz und Paul Ernst, und sie ende mit dem Beginn des sog. Dritten Reichs, also 1933. Die zweite Epoche umfasse den Zeitraum vom Ende des sog. Dritten Reichs bis zum Beginn der 1970er Jahre. Die dritte Epoche erblickt Katō in dem Zeitraum vom Ende der 1970er bis zur Mitte der 1980er Jahre, in der auch sein Buch erschienen ist. Margret Buerschaper teilt die Geschichte des deutschsprachigen Haiku in ihrem 1987 publizierten Buch "Das deutsche Kurzgedicht in der Tradition japanischer Gedichtformen" in zwei Abschnitte ein. Für sie endet die erste Epoche ebenso wie für Katō mit dem Ende des sog. Dritten Reichs. Den Beginn der zweiten Epoche datiert sie hingegen auf das Jahr 1953, in dem Karl Kleinschmidts Buch "Tau auf Gräsern" erschien. Diese Datierungen sind nun nicht ganz unproblematisch.
Zunächst beginnt die deutsche Haiku-Literatur, ein generell weitverbreiteter Irrtum, nicht mit Arno Holz und Paul Ernst. In welcher Form sich die beiden Autoren auch immer mit japanischer Kunst und Literatur beschäftigt haben mögen - Haiku haben sie nicht geschrieben. Katō beruft sich in seinen Ausführungen im wesentlichen auf die Argumentation Ingrid Schusters in ihrem 1977 publizierten Buch "China und Japan in der deutschen Literatur" sowie auf die 1978 erschienene "Anthologie der deutschen Haiku" von Sakanishi H[achirō]. Jedoch halten – was hier freilich nicht im Einzelnen belegt werden kann - weder die Argumentation von Schuster noch die Edition von Sakanichi einer Überprüfung stand. Tatsächlich beginnt die deutsche Haiku-Literatur, sieht man von unbekannt gebliebenen oder ungedruckten Haiku ab, mit Gedichtfolgen von Franz Blei, Yvan Goll und einigen Einzelgedichten von Rainer Maria Rilke, alle in den 1920er Jahren geschrieben.
Allerdings trifft es zu, das Ende der ersten Epoche des deutschen Haiku auf den Beginn des sog. Dritten Reichs zu datieren. Der "Zivilisationsbruch" (Dan Diner), den der Nationalsozialismus bedeutete, beinhaltete in gewisser Hinsicht auch den Bruch mit der japanischen Kultur. Die zweite Epoche der deutsch­sprachigen Haiku-Literatur mit Karl Kleinschmidts Buch "Der schmale Weg" von 1953 beginnen zu lassen, ist ebenfalls plausibel. Wohl hat man schon zuvor deutsche Haiku geschrieben, doch sind sie in jener Zeit entweder, in entlegenen Publikationen gedruckt, ohne Wirkung geblieben, oder sie wurden erst später veröffentlicht. Ob sich Anfang der 1970er Jahre tatsächlich eine Zäsur in der deutschen Haiku-Literatur beobachten läßt, mag hier dahingestellt bleiben. Ein gravierenderer Einschnitt zeichnet sich jedenfalls, vom heutigen Standpunkt aus betrachtet, Mitte der 1980er Jahre ab: als aus der Gruppe der Autoren, die sich bis dahin um die Zeitschriften "apropos" und "Das Senfkorn" geschart hatte, die bis heute bestehende "Deutsche Haiku-Gesellschaft" hervorgegangen ist.
Insgesamt spricht viel dafür – auch dies kann hier leider nicht im einzelnen gezeigt werden -, die Zeit von Karl Kleinschmidts Buch "Der schmale Weg" bis zur Gründung der "Vierteljahresschrift" der Deutschen Haiku-Gesellschaft als eine Epoche innerhalb der deutschsprachigen Haiku-Literatur zu betrachten. Bei genauerem Hinsehen läßt sich diese Epoche dann noch einmal unterteilen, und zwar in die Zeit von, um einmal präzise Daten zu nennen, 1953 bis 1962, dem Veröffentlichungsdatum von Imma von Bodmershof Buch "Haiku", und die Zeit von 1962 bis 1987, sozusagen einerseits die Gründungsphase und andererseits die Konsolidierungsphase. Im Folgenden steht nun die Gründungsphase der deutschen Haiku-Literatur im Mittelpunkt, also die Zeit von 1953 bis 1962. Dabei wird versucht zu zeigen, daß und wie das Haiku nicht gleichsam an sich in die deutsche Literatur übernommen, sondern an bereits etablierte deutsche Literaturtraditionen assimiliert wurde.
2.
Die deutsche Haiku-Literatur der Nachkriegszeit begann nicht an einem Null­punkt. Den Anstoß dazu gab die erstmals 1939 publizierte Anthologie "Ihr gelben Chrysanthemen" der Sinologin Anna von Rottauscher. Von den ca. 220 Haiku-Überset­zungen, die das Buch enthält, stammen rund ein Viertel von Matsuo Bashō. Darüber hinaus sind Kobayashi Issa, Yosa Buson, Masaoka Shiki sowie auch Takarai Kikaku mit einer größeren Anzahl von Gedichten vertreten. Jedem dieser Gedichte hat Rottauscher eine Überschrift vorangestellt. Angeordnet hat Rottauscher die Haiku-Übersetzungen in vier Kapiteln, von denen jedes einer der vier Jahreszeiten entspricht. In dieser Hinsicht folgt die Übersetzerin einer durch das "Kokinshū" begründeten japanischen Tradition. Die Form der Haiku in "Ihr gelben Chrysanthemen!" variiert sehr. Zum einen, der eine Extremfall, findet man Übersetzungen, die nur aus neun Silben bestehen, wie etwa die eines Haiku von Kakei:
Der Efeu
rauscht
im herbstlichen Wind.
Zum anderen, der andere Extremfall, findet man Übersetzungen, die aus 28 Silben bestehen, wie etwa die eines Haiku von Sōin:
"Die sommerliche Hitze war's, die mich so schmal gemacht",
so sagt' ich…
doch Tränen liefen über meine Wangen.
Schließlich hat Rottauscher den Übersetzungen ein für die damalige Zeit vergleichsweise informatives Nachwort mitgegeben, in dem sie über die Geschichte der Gattung an sich und die Besonderheit einzelner Autoren informiert. Nimmt sich das Buch "Ihr gelben Chrysanthemen!" nun äußerlich wie eine ganz normale Anthologie mit Haiku-Übersetzungen aus, so hat es damit doch eine besondere und bislang, soweit man die Anthologie überhaupt zur Kenntnis genommen hat, unbekann­te Bewandtnis: "Ihr gelben Chrysanthemen!" hat nicht nur Teil an der deutschen Übersetzungsliteratur, sondern auch an der Literatur der Inneren Emigration. Aufgrund der Zugehörigkeit der Anthologie zur Literatur der Inneren Emigration ist die darin geleistete Vermittlung der Haiku und Vorstellung der Haiku-Autoren in einer besonderen Wiese gefärbt bzw. perspektiviert: Zunächst rückt Rottauscher die japanische Haiku-Lyrik in die Tradition der Naturlyrik ein, wie sie für die zumeist literarisch und kulturell konservativen, nicht selten christlichen Autoren der Inneren Emigration typisch war. Zu diesen Autoren gehören etwa, um nur die beiden bedeutendsten zu nennen, Oskar Loerke und Wilhelm Lehmann. In ihrer Literatur und zumal in ihrer Lyrik stellten die Inneren Emigranten, um es mit einem Wort zu sagen, dem Leben in und mit der korrupten nationalsozialistischen Gesellschaft die "Heile Welt" der Natur sowie das Leben in und mit ihr entgegen. Wie Rottauscher einerseits das Haiku der Naturlyrik assimiliert hat, so hat sie andererseits die Lebensform der Haiku-Autoren zur Lebensform der Inneren Emigranten stilisiert. Vor allem Matsuo Bashō, von Rottauscher ausdrücklich als "Dichtermönch" bezeichnet, erscheint in ihrer Darstellung als naturzugewandte - und damit weltabgewandte - Persönlichkeit. "Als echter Haiku-Mensch", so heißt es an der im vorliegenden Zusammenhang entscheidenden Stelle, "fühlte er sich eins mit der Natur".
Obwohl die Anthologie "Ihr gelben Chrysanthemen" japanische Lyrik ins Deutsche vermittelt, besteht darin doch nicht ihr eigentlicher Zweck. Im Grunde genommen dient die japanische Lyrik Rottauscher weniger als "Bezugsgröße und Norm" der Vermittlung denn als deren "Material." Der eigentliche Zweck des Buches besteht darin, mit Hilfe der Haiku-Literatur und des haijin-Ideals (diskret) gegen ein totalitäres Regime zu opponieren. Rottauschers Anthologie ist im vorliegenden Zusammenhang nun darum so bedeutend, weil sich, soweit zu sehen ist, die Autoren, die einen Beitrag zur Gründungsphase des deutschen Haiku leisteten, im wesentlichen daran orientierten. Sie haben das japanische Haiku nicht an sich übernommen, sondern jeweils dreizeilige Lyrik 
3.
Zu diesen Autoren gehört zunächst der bereits mehrfach erwähnte Karl Kleinschmidt, selbst auch ein Autor aus dem Umkreis der Inneren Emigration. Zwar hat Kleinschmidt nirgends ausdrücklich auf die Anthologie Rottauschers hingewiesen, doch liegt die Abhängigkeit von ihr auf der Hand. Insgesamt sind in seinem Buch "Der schmale Weg" sechs Haiku-Folgen enthalten. Die erste Folge, "Wechsel der Monde", hat unterschiedliche Naturphänomene wie etwa eine blühende Blume oder heraufziehenden Regen zum Thema. Unter dem Titel "Kranz des Jahres" findet sich sodann eine aus 44 Gedichten zusammengesetzte Folge, in der Kleinschmidt, in diesem Falle offenkundig an der japanischen Tradition orientiert, den Wechsel der Jahreszeiten einzufangen sucht. Der nachfolgende Reigen, "O Herz!" betitelt, mit 16 Gedichten vergleichsweise kurz, enthält Liebes–Haiku. In der vierten Haiku-Reihe, "Weibliche Weise", mit zehn Gedichten die kürzeste des ganzen Buches, betrachtet Kleinschmidt das Leben durch die Augen einer Frau. In der vorletzten Folge, "Bruder Tier" überschrieben, stellt er die Tierwelt in den Vordergrund, angefangen von der Ameise über den Igel und das Reh bis hin zur Wasserjungfer. In der sechsten und letzten Haiku–Folge schließlich präsentiert der Autor unter dem Titel "Ewiger Augenblick" eine Reihe von Erfahrungen, deren Gemeinsamkeit darin besteht, daß sie, in mehrerlei Bedeutung des Wortes, in einem Augenblick gemacht wurden. Diese Themen sind ersichtlich von der deutschen Tradition geprägt. Voneinander getrennt werden diese sechs Reihen jeweils durch mehrstrophige, gereimte Naturgedichte in ebenfalls ersichtlich deutscher Tradition. Titel wie etwa "Sichelmond", "Herbstgarten" oder auch "Ferne Flöte" lassen die Zugehörigkeit der Gedichte zur zeitgenössischen Naturlyrik unmittelbar erkennen.
Ebenso wie diese Gedichte gehören nun auch die in "Der schmale Weg" enthaltenen Haiku der deutschen Naturlyrik an. Beispielhaft dafür sind die folgenden Gedichte:
Tanzt die Vogelscheuche im lauen Wind?
Sanft haucht sich auf ihre Schulter
ein Schmetterling hin!
 
Der alte Gärtner wollte die Rose noch blühen sehn.
Er starb.
Nun blüht sie – schön wie noch nie.
 
Durch den goldenen Morgendampf
klirren die Schreie der Hähne. Der Nachbar dengelt:
heute fallen die Ähren.
Trauernde Nonne im Gartenschnee.
Alles, alles rings
ist Schnee…
 
 
 
 
 
Der durchgehende Bezug der Gedichte auf eine ersichtlich europäische Flora und Fauna springt ins Auge. Was man in "Der schmale Weg" nahezu vergeblich sucht, sind Haiku in der traditionellen '5-7-5'-Form. In wenigstens drei Viertel aller Fälle übersteigt die Silbenzahl der Gedichte die 17 Silben des schulgerechten Haiku, und in eins damit wird auch die Symmetrie des traditionellerweise aus '5-7-5' Silben bestehenden Gedichts nur selten berücksichtigt. Es ist möglich, daß Kleinschmidt, was die Form der Haiku betrifft, ganz einfach die freien Übersetzungen in der Anthologie Rottauschers imitierte - obgleich die Übersetzerin im Nachwort ihres Buches durchaus über die 'richtige' Form des Haiku aufgeklärt hat. Näher liegt jedoch die Auffassung, daß es Kleinschmidt darauf ankam, den Spielraum zu nutzen, den ihm die freie Handhabung der Form ermöglichte, weil es letztlich in seiner Absicht lag, deutsche Kurzgedichte, und nicht, Haiku zu schreiben. Auch ist unwahrscheinlich, daß Kleinschmidt mit dem Frosch, der im folgenden Gedicht ins Wasser "klatscht", eine Beziehung auf die japanische Literatur herstellen wollte:
Nachdenklich streif' ich am Ufer entlang,
Weidenblätter rühren mir feucht die Stirn –
da klatscht ein breiter Frosch ins Wasser!
Bashōs "Furuike ya…" war seinerzeit noch so gut wie unbekannt. Der Autor hat sich vielmehr, wie noch in einigen anderen Fällen, durch eine Übersetzung aus Rottauschers Anthologie "Ihr gelben Chrysanthemen!" zu einem eigenen Haiku anregen lassen (also Literatur aus Literatur hergestellt). Kleinschmidt hat dem Haiku jedoch nicht nur den Stempel der deutschen Naturlyrik, er hat ihm auch den Stempel der deutschen Liebeslyrik sowie der deutschen spirituellen Lyrik aufgedrückt. Schon Herbert Fussy erblickte in den Liebeshaiku Kleinschmidts eine gravierende Abweichung von der japanischen Tradition – d.h. von der japanischen Tradition, wie sie zuvor durch deutsche Übertragungen ins Deutsche vermittelt wurde. Gedichte wie etwa die folgenden findet man in den bis dato bekannten Übersetzungen japanischer Haiku jedenfalls nicht:
Bist du fern, so leb' ich
nur von deinem Licht. Doch nahst du,
geh ich auf darin.
 
Da ich einen Pfirsich an meine Lippen hebe,
muß ich an deine Wange denken -
und küsse ihn.
Ist in "Der schmale Weg", anders als in dem Gedichtband "Die Hohe Stunde", mit dem Kleinschmidt 1941 debütierte, auch keine explizit christliche Lyrik enthalten, so wird doch auch hier eine spirituelle Dimension spürbar. Am deutlichsten manifestiert sie sich in dem Langgedicht "Triptychon 'Vom Tode'", mit dem Kleinschmidts Buch auch endet. Doch schon der Titel deutet auf diese spirituelle Dimension hin, insofern er sich, ob vom Autor beabsichtigt oder nicht, als Kontrafaktur des Ausdrucks 'Die enge Pforte' auffassen läßt. In den Haiku tritt diese spirituelle Dimension am deutlichsten in dem folgenden Gedicht hervor, mit dem das Buch auch endet:
Einsame Birke, goldenes Laub.
Weiße Wolke im Blauen,
schmaler Weg ins Unendliche.
Bei diesem 'schmalen Weg' hat man wohl an einen Feldweg zu denken, der sich am Horizont verliert, in einem, wie die Farbe der Blätter nahelegt, herbstlich-blauen Abendhimmel. Kleinschmidt verleiht diesem Weg, einem Natur- bzw. Landschaftsphänomen, eine symbolische Bedeutung.
Was ihre Inhalte und ihre Form betrifft, lassen die Gedichte Kleinschmidts kaum Züge des 'klassischen' Haiku erkennen. Als Haiku in einem engeren Sinne erscheinen nur die vergleichsweise wenigen Gedichte, in denen es Kleinschmidt, wie im zuletzt zitierten Haiku, wenigstens einigermaßen gelingt, die von ihm am japanischen Haiku (in deutscher Übersetzung) beobachtete Technik des "Verschweigens und Aussparens" anzuwenden. Gut sichtbar wird das Bemühen des Autors um die Realisierung dieser Technik, wenn man ein Haiku aus dem Buch von 1953 mit dessen überarbeiteter Fassung aus einem weiteren Haiku-Buch Kleinschmidts von 1960 vergleicht. In der ersten Fassung lautet das Gedicht:
Seltsames Bild:
Eine Vogelscheuche
weist mir den Weg in den Himmel.
In der zweiten Fassung lautet es:
Eine Vogelscheuche
weist mir den Weg
in den Himmel.
Die zweite Fassung erweist sich im Verhältnis zur ersten schlechterdings als das überzeugendere Gedicht. Der Autor hat die Ankündigung des 'seltsamen Eindrucks' in der Erstfassung als überflüssig erkannt und gestrichen. Entscheidend für die Wirkung des Haiku ist allein die Wahrnehmung einer Vogelscheuche als der Instanz, die dem Sprecher den 'Weg nach oben' zeigt - in die, wie auch immer im einzelnen zu beschreibende, 'Transzendenz'. Das Gedicht bezieht seinen Reiz aus dem Gegensatz, den die Strohpuppe in sich vereinigt, zwischen der Erhabenheit (genus sublime) der Botschaft und der Volkstümlichkeit (genus humile) ihres Trägers. Freilich sind Kleinschmidt kaum Haiku dieser Art geglückt.
Im Unterschied zu Kleinschmidts Buch "Der schmale Weg" enthält Flandrina von Salis' 1955 veröffentlichtes Buch "Mohnblüten" ausschließlich Haiku. Aus welcher Quelle Salis ihre Kenntnis des japanischen Gedichts bezogen hat, läßt sich zwar nicht mit Sicherheit sagen, doch entspricht ihre Sammlung dem Muster, das durch die Anthologie "Ihr gelben Chrysanthemen!" vorgegeben wurde, in wenigstens zwei Punkten. Zum einen hat Salis vordringlich Jahres­zeitenpoesie geschrieben; einer unbetitelten Reihe von 27 Haiku folgen vier Kapitel, die jeweils Gedichte zu den Jahreszeiten Frühling, Sommer, Herbst und Winter enthalten. Zum anderen tragen die Haiku von Salis wie die Übersetzungen von Rottauscher jeweils eine Überschrift. Im Unterschied zu Rottauscher hat Salis jedoch weitgehend die 5-7-5–Form des japanischen Haiku gebraucht. Liegt der Akzent der Haiku von Kleinschmidt auf der Natur, so liegt er bei Salis auf der Gestaltung von Impressionen und Stimmungen. Repräsentativ in dieser Hinsicht ist das Gedicht "Sommertag":
Weißer Wolkenhauch
Im Himmelsblau verflüchtigt,
- Träume der Sehnsucht.
In diesem Stilzug tritt zudem die spezifische Prägung der Haiku durch die deutsche Literatur anschaulich hervor: In Liebesgedichten wie diesen, von denen das Buch nicht wenige enthält, manifestiert sich der emotive Zug der Gedichte besonders deutlich. Spricht die Autorin den Geliebten unmittelbar an, ist dieses Element der Gedichte nicht selten zugleich mit einem dialogischen Element verknüpft. Dieser Aspekt, der eine ganze Reihe der Gedichte prägt, kann dabei unterschiedliche Formen annehmen. Erzeugt wird das dialogische Moment der Gedichte von Fragen, welche die Autorin an sich selbst richtet, von Anreden an einen Freund oder auch von Anrufungen Gottes. Beispielhaft in dieser Hinsicht ist etwa das Gedicht mit dem bezeichnenden Titel "Sehnsucht":
Wie zur Sonne hin
Sich die Blume kehrt, - so ich
Zu dir, Geliebter.
Diesen im Verhältnis zu den Haiku, wie sie bis dato in die deutschsprachige Literatur vermittelt wurden, subjektiv bzw. dialogisch geprägten Gedichten gegenüber sind objektive Naturdarstellungen wie etwa das folgende Gedicht "Wintertag" spürbar in der Minderzahl:
Bleigrauer Himmel,
Und nichts als eine Möwe
Als silberner Pfeil.
Kommen in Salis Haiku auch mehrmals der Mond und einmal sogar "Kirschblütenblätter" vor, sind die Gedichte doch durchweg als "Abendländische Haiku" zu betrachten, wie sie die Autorin im Untertitel ihres Buches selbst bezeichnet hat. Auch in der Thematik bzw. Motivik der Rose – einer in der traditionellen japanischen Haiku–Lyrik bis zur Moderne unbekannten Blume – zeichnet sich die Zugehörigkeit der Gedichte zur europäisch-deutschsprachigen Literatur deutlich ab. Die Rose bildet überdies gleichsam die Brücke zwischen den weltlichen und den spirituellen Gedichten des Buches. In einem Haiku erahnt Salis im Anblick einer aufblühenden Rose geradezu das Göttliche:
Erblühender Rose
Nie zu fassendes Wunder,
- Göttliches Ahnen.
Ein anderes Gedicht hat sie gleich als "Sommergebet" konzipiert. Offensichtlich wird die Gattung des Haiku auch in Salis' Gedichtbuch, nicht anders und in dieser Hinsicht deutlicher noch als bei Kleinschmidt, von Ausdrucksformen und Themen des christlichen Abendlandes durchdrungen.
4.
Die Assimilation des Haiku an die etablierte Naturlyrik, an die etablierte Liebeslyrik sowie auch an die etablierte spirituelle Lyrik ist das Charakteristikum der frühen Haiku-Literatur insgesamt. Im Einzelnen freilich sind die drei Tendenzen unterschiedlich ausgeprägt. So enthält Hajo Jappes erstmals 1959 publizierter Privatdruck "Haiku" im wesentlichen Naturlyrik. Auffällig an diesem Buch ist zunächst die ausschließliche und konsequente Anordnung der Haiku nach dem Prinzip des Jahreszeitenwechsels. So findet man zu Beginn der Sammlung, als Vorbote des Frühlings, blühenden "Krokus" und gegen deren Ende, als Signatur des Winters, einige "Eisblumen". Überdies hält sich Jappe, im Unterschied zu Rottauscher, an die Form des Haiku. Beispielhaft für die Gedichte des Autors sind etwa:
Die Weinstöcke stehn
kahl an den Hängen, die schon
von Blüten schäumen.
Tautropfen, kleinster
wo du da liegst im Grase
blinkt in dir die Welt.
Jappes Orientierung an der Anthologie Rottauschers belegt neben dem 89sten Haiku, dem ersichtlich ein Gedicht Bashōs, überdies noch das 15ste Haiku, dem ersichtlich ein Haiku Arakida Moritakes zugrunde liegt. So heißt es bei Jappe:
Welkes Blatt auf dem grünen?
Abstreifen will ich's –
da flattert ein Falter auf.
Rottauschers Übersetzung des entsprechenden Gedichts von Moritake lautet:
Flog da ein welkes Blatt
zurück zu seinem Zweige?
Ach nein! Es war ein Schmetterling!
Jappe hat nur den bunten Schmetterling Arakidas, der den Sprecher zur Wahrnehmung einer Blüte veranlaßte, durch einen Falter ersetzt, der sich durch seine Farbe und Zeichnung als Blatt und nicht mehr als Blüte 'tarnt'. Immerhin hat Jappe zugleich mit dem Bezug auf das japanische Haiku zumindest dem Grundsatz nach auch jene von Kleinschmidt so genannte 'Kunst des Aussparens' übernommen.
Sieht man von der Form an sich ab, lassen die 35 Gedichte, die Bernhard Doerdelmanns 1960 publiziertes Buch "Es segelt der Mond durch die rötlichen Wolken" enthält, keinen Bezug zur japanischen Kultur erkennen, und sei er noch so vermittelt. Bei seiner Lyrik handelt es sich teils um Liebesgedichte, teils um Gedichte, die sich am besten als naturbezogene Gedankenlyrik z.T. spiritueller Prägung charakterisieren lassen. Anschauliche Beispiele, insofern sie alle genannten Tendenzen in sich vereinigen, sind die folgenden:
Wolke am Himmel,
entfliehst Du in Fernen nun,
so nimm mich mit Dir…
Licht der Laternen –
leuchte nicht immer schon nachts,
dem Tag Dich zu weihn.
Endlose Nächte –
ist doch jeder Morgen schon
Beginn jeder Nacht!
Samtener Tau fällt
nieder auf dürstendes Gras –
zärtliche Liebe.
Insofern "Es segelt der Mond…" keine Jahreszeitenpoesie enthält und die Natur nur insofern eine Rolle spielt, als allgemeine Lebensbetrachtungen daran geknüpft werden, hat Doerdelmann im Grunde genommen nur die Form des Haiku übernommen, ohne darüber hinaus an dessen Tradition anzuknüpfen. Und auch die blanke Form hat er, wie das zitierte Beispiel erkennen läßt, zum Teil an die deutsche Literatur assimiliert: mehrmals sind die Haiku in "Es segelt der Mond…" zu Langgedichten verschmolzen.
Daß es dem Autor selbst auch gar nicht auf eine Anknüpfung an die japanische Kultur ankam, geht indirekt aus seinem Nachwort hervor. Darin erklärt er an der betreffenden Stelle, mit dem Gebrauch der japanischen Gedichtformen die Absicht verfolgt zu haben, in einer "Zeit der Formlosigkeit" auf "strengste Formen" zurückzugreifen - worin man kaum einen Bezug auf Japan, dafür jedoch eine kulturkonservativ motivierte Stellungnahme gegen die moderne zeitgenössische Lyrik in freien Versen erblicken kann. Offenkundig hat Doerdelmann die Lyrik des Ostens aufgegriffen, um damit, auch dieses Verhalten hat Tradition, gegen den 'Westen' zu opponieren.
Im Unterschied zu Doerdelmann präsentiert Heinz Helmerking in seiner 1961 publizierten Sammlung "Ewiger Augenblick" wieder Haiku in Gestalt von Jahreszeitenpoesie. Freilich kann man sich des Eindrucks nicht verwehren, als ob Helmerkings Gedichte weniger Naturerscheinungen präsentieren als Naturklischees repräsentieren. Illustrativ in dieser Hinsicht ist das folgende Gedicht:
Endlich erfüllen
Sich Sommer und Sehnsucht: im
Seerosenschimmer.
Die mehrfache 'S'-Alliteration wirkt äußerst bemüht, und "Seerosenschimmer" ist ein Wortungetüm, ähnlich wie "Fernwetterleuchten", "Septembernächtlich" und "Krähengebrandmarkt" auch. Aus welcher Quelle Helmerking das japanische Kurzgedicht auch immer kennengelernt haben mag – die 'Japanität' seiner eigenen Haiku erschöpft sich ähnlich wie bei Doerdelmann in deren äußerer Form. Auch die von Kleinschmidt so bezeichnete Technik des 'Verschweigens und Aussparens' bzw., in anderen Worten, die für das traditionelle Haiku charakteristische Technik der Evokation tritt in den Gedichte nicht hervor.
5.
Können die Gedichte von Kleinschmidt, Salis, Jappe, Doerdelmann und Helmerking künstlerisch kaum oder nur in sehr wenigen Einzelfällen überzeugen – mit den 1962 publizierten Haiku von Imma von Bodmershof, auch sie im übrigen eine Autorin der Inneren Emigration, verhält es sich anders. Ihr ist es, soweit man sehen kann, erstmals gelungen, das ästhetische Potential des japanischen Kurzgedichts auch in der deutschen Literatur zu realisieren. Nicht ohne Grund hat der Germanist Erwin Jahn, lange Zeit in Japan ansässig und auch mit der japanischen Haiku-Literatur gut vertraut, Bodmershofs 1962 erschienenes Buch "Haiku" in einer Rezension enthusiastisch als etwas in der deutschen Literatur "ganz Neues" und "Einzigartiges" gefeiert.
Im vorliegenden Zusammenhang sollen die Besonderheiten der Gedichte Bodmershofs zumindest im groben Umriß verdeutlicht werden. Bekannt geworden mit dem Haiku ist Bodmershof ihrer eigenen Auskunft nach durch die Anthologie Rottauschers. Hält man zwei motivisch verwandte Gedichte aus Rottauschers Buch "Ihr gelben Chrysanthemen" sowie aus Bodmershofs Buch "Haiku" einander gegenüber, springt die vergleichsweise enge Verwandt­schaft, die zwischen den Gedichten der beiden Autorinnen besteht, sogleich ins Auge:
Dreh dich nur weiter, Mühlrad!
Nur wenn du rastest
wird das Wasser zu Eis!
Das alte Mühlrad
vom Wasser hell übersprüht -
es dreht sich wieder.
Wie dieses Beispiel gut erkennen läßt, hat sich Bodmershof zumal in sprachstilistischer Hinsicht an Rottauschers Vorbild orientiert. Nennenswerte Unterschiede werden allein auf der Ebene der Form sichtbar. Folgen auch nicht alle Gedichte in "Haiku" strikt dem schulgerechten Muster '5-7-5', so bildet es doch deren "formale Grundlage". Alles in allem hat Bodmershof Haiku geschrieben und nicht allein, wie vor ihr zumal Kleinschmidt, deutsche Kurzgedichte in drei Zeilen.
Insbesondere zeichnen sich Bodmershofs Haiku durch einen künstlerisch überzeugenden Sprachstil, klare Gedankenführungen und motivierte Verspausen aus. Als erstes Beispiel mag das folgende Gedicht aus dem Kapitel "Frühling" dienen:
Steh vor dem Abgrund -
Ein Regenbogen allein
spannt sich darüber.
Das Gedankengefüge, aus dem sich das Haiku zusammensetzt, besteht aus drei Teilen, wobei jeder dieser Teile einem Vers zugeordnet wird. Rechnet man die Auslassungen (Elisionen) hinzu, besteht der erste Vers aus einem vollständigen Satz. In diesem Satz präsentiert die Sprecherin sich und ihre aktuelle Lage. Sie steht vor einem Abgrund, den man im Kontext des Gedichts sowohl buchstäblich wie auch übertragen verstehen kann. Die durch den Gedankenstrich besonders betonte und darum gravierende Pause nach dem ersten Vers ermöglicht dem Bild, das darin evoziert wird, dessen anschauliche Entfaltung. Zu den Konnotationen dieses Bildes gehören Vorstellungen wie 'Raum', 'Weite' und 'Entfernung'. Was der Abgrund trennt bzw. dessen Ränder verbindet, bleibt dabei zunächst – effektvoll - offen.
Im zweiten und dritten Vers wird die Situation dann weiter präzisiert: Der Abgrund wird allein durch einen Regenbogen überbrückt, bzw. die beiden Seiten des Abgrundes sind nur durch einen Regenbogen miteinander verbunden. Die Vorstellung der Schlucht, deren beide Seiten durch einen Regenbogen verbunden werden, ist zweifellos eindrucksvoll, sowohl im buchstäblichen Sinne, als Naturvorstellung, wie auch im übertragenen Sinne, etwa als spirituelle Vorstellung. Der Eindruck von Räumlichkeit und Weite wird durch die Vorstellung eines Regenbogens, insofern man ihn nur in einer mehr oder weniger großen Perspektive ins Auge fassen kann, noch verstärkt. Indem Bodmershof das Wort 'allein' an den Versausgang plaziert, wird die Tatsache, daß der Abgrund ausschließlich von einem Regenbogen überbrückt wird, mithin von einem Gebilde, wie es sich fragiler kaum denken läßt, noch betont. 
Im letzten Vers wird der Gedanke des Gedichts dann vervollständigt. Die Pointe des Haiku gibt insofern viel zu denken, als sie die Frage aufwirft, was das für ein Abgrund sein mag, der nur durch einen Regenbogen überbrückt wird – überbrückt werden kann? –, und welche, paradox formuliert, 'unstoffliche Substanz' dazu imstande sein mag, über diese Brücke an das andere Ufer zu gelangen. In der biblischen Literatur bewanderte Leser mögen sich hier erinnert fühlen an den Regenbogen als das Symbol von Gottes Bund mit den Menschen und allem, was mit ihnen auf der Welt ist. In diesem Gedicht schwingt jedenfalls ersichtlich ein spiritueller Unterton mit, der seine Überzeu­ungskraft nicht nur aus der Stimmigkeit des Bildes, sondern auch aus der überzeugenden Verschränkung der beiden Seinsbereiche bezieht. Eine ähnlich geglückte Verschränkung unterschiedlicher Vorstellungsbereiche bzw. Assoziation von Mit- und Nebenbedeutungen lassen auch die folgenden beiden Haiku erkennen:
Von weißem Flieder
verschneit ist die Quelle – selbst
das Wasser duftet.
Das blaue Glühen
des Rittersporn – nur Asche
im ersten Dämmern.
Bodmershof hat, in anderen Worten, die Strukturmomente, wie sie für das japanische Haiku charakteristisch sind, in der deutschen Sprache nachvoll­zogen. Erstens gebraucht Bodmershof in den allermeisten Fällen Begriffe, die in einer ähnlichen Form wie das japanische 'kigo' (Jahreszeitenwort) erkennen lassen, in welcher Jahreszeit das Gedicht angesiedelt ist. So verweist der Flieder eindeutig auf den Frühling und der erblühte Rittersporn eindeutig auf den Sommer. Zweitens setzt Bodmers­hof die Verspause in einer Form ein, wie sie für das japanische 'kireji' (Schneidewort) charakteristisch ist. Mit Hilfe dieser Wörter werden bestimmte Worte im japanischen Haiku rhythmisch akzentuiert. In den Gedichten Bodmershofs wird diese gravierende Zäsur zumeist durch einen Gedankenstrich angezeigt. Drittens entspricht die vergleichsweise dichte Atmosphäre, wie sie Bodmershof kraft der vielfältigen und miteinander verwobenen Konnotationen und Assoziationen erzeugt, dem in der japanischen Haiku-Literatur sehr geschätzten Strukturmoment des 'yoin' (Nachhall).
Ob sich Bodmershof gezielt darum bemüht hat, die drei Strukturmomente des japanischen Haiku in die deutsche Literatur einzutragen, oder ob sie 'nur' die Möglichkeiten, welche ihr die deutsche Sprache und Literatur einräumt, um ästhetisch komplexe Kurzgedichte zu schreiben, mit Kunstverstand nutzte, mag dahingestellt bleiben. Insofern kaum vorstellbar ist, wie es möglich sein sollte, ästhetisch geglückte deutsche Haiku zu schreiben, ohne die beschriebenen Kunstgriffe zu verwenden, sind die deutschen Haiku jedenfalls nicht in irgendeiner spezifischen Weise durch die japanische Literatur geprägt. Die außerordentliche Kürze des Haiku durch besondere ästhetische Komplexität bzw. 'poetische Überstrukturierung' wettzumachen, sind die Autoren beider Sprachen gleichermaßen bestrebt. Daß die japanischen Haiku-Autoren in dieser Hinsicht nicht grundsätzlich anders verfahren (können) als die deutschen, mag die japanische Sprache ihnen auch einen etwas größeren Spielraum ermöglichen, lässt sich Ekkehard Mays Kommentaren zu den Gedichten Kikakus, Ransetsus und Kyorais, die er in seine Anthologie "Shōmon" aufgenommen hat, leicht entnehmen.
Die ästhetische Qualität der einzelnen Gedichte ist jedoch nicht der einzige Faktor, auf denen der Wert von Bodmershofs Buch insgesamt beruht. Auch dessen übergreifende Werkstruktur spielt eine große Rolle. Was die Konzeption von "Haiku" insgesamt betrifft, fallen drei besondere Kunstgriffe ins Auge. Erstens hat Bodmershof die Natur in aller Regel außerordentlich differenziert und plastisch dargestellt. Man hat so gut wie ausnahmslos den Eindruck, die Natur und nicht nur NaturKlischees präsentiert zu bekommen. Zweitens stehen die einzelnen Haiku dank der Verschränkung einzelner Motive sowie dank einer durch den 'yoin' bewirkten Atmosphäre in aller Regel in einem engen Zusammenhang. Erzeugt wird dieser Eindruck von Geschlossenheit zudem noch durch die diskrete autobiographische Dimension des Buches: Die Haiku reflektieren nicht allein den Ablauf eines Jahres in der Natur, sie reflektieren in eins auch den Ablauf eines Jahres im Leben der "Gutsbesitzerin" Imma von Bodmershof. Am deutlichsten tritt dies in denjenigen Sommer-Gedichten hervor, in denen die Autorin Eindrücke aus ihrer Sommerfrische mitteilt. Damit hat Bodmershof die japanische Haiku-Lyrik allerdings nicht mehr allein als Haiku-Lyrik aufgenommen, sondern sie zugleich mit einem autobiographischen Diskurs verschmolzen, ähnlich wie später im übrigen u.a. Günther Klinge.
Verschmolzen hat Bodmershof das Haiku außerdem noch mit einem besonderen Jahreszeiten-Diskurs. Obgleich die Autorin ihre Haiku wie Rottauscher nach dem Prinzip des Jahreszeitenkreislaufs angeordnet hat, läßt sich diese Tatsache doch nicht allein durch den Bezug auf die Anthologie "Ihr gelben Chrysanthemen" erklären. Liest man das Haiku-Buch Bodmershofs vor dem Hintergrund ihrer Romane, insbesondere vor dem Hintergrund von "Der zweite Sommer", einem autobiographisch geprägten Buch, oder auch "Die Rosse des Urban Roithner", Bodmershofs bekanntestem Roman, so erkennt man, daß die Natur und die Jahreszeiten darin jeweils eine große Rolle spielen. Der Gutsfrau war die Natur des Waldviertels, in dem sie lebte, und deren Einfluß auf das Leben der Menschen bis ins Detail vertraut. Ohne diese besondere Vertrautheit mit der Natur wäre Bodmershof wohl auch kaum jene erstaunlich detaillierte und präzise Nachzeichnung des Jahreszeiten-Kreislaufs in "Haiku" möglich gewesen. Allem Anschein nach war die Natur im Wechsel der Jahreszeiten stets ein bedeutendes Element in der Literatur der Autorin, und offensichtlich erblickte sie im Haiku, wie sie es in der Anthologie Rottau­schers präsentiert bekam, eine Möglichkeit, die Natur im Wechsel der Jahreszeiten einmal unmittelbar zum Thema eines ihrer literarischen Werke zu machen.
6.
Das wie beschrieben eingebürgerte Haiku lebt nun bis in die Gegenwart hinein fort. Via Bodmershof und via Rottauscher steht zumal die im Rahmen der Deutschen Haiku-Gesellschaft produzierte Haiku-Dichtung bis heute in der Tradition der Literatur, wie sie in der Inneren Emigration entstanden ist. Margret Buerschapers Festsetzung des Haiku als "Naturgedicht", das eine bestimmte "Jahreszeit" darzustellen habe, hat diese Tradition noch einmal nachdrücklich konfirmiert. Tatsächlich auch ist die spirituelle und im weitesten Sinne erotische Linie der deutschsprachigen Haiku-Literatur in den Hintergrund zurückgetreten, jedenfalls im Umkreis der Deutschen Haiku-Gesellschaft. Ob sich die deutschen Haiku-Autoren dessen bewußt sind oder nicht - ihr Schaffen wird nicht nur von der japanischen Tradition des Haiku, sondern auch – und meiner Ansicht nach in erster Linie - von der literarischen Tradition geprägt, welche die im wesentlichen kulturkonservativen Literatur der Inneren Emigration initiiert haben. Zu den betreffenden Autoren gehört übrigens nicht zuletzt auch Manfred Hausmann – bei dessen Haiku-Übersetzungen in "Liebe Tod und Vollmondnächte" es sich größtenteils um Bearbeitungen von Gedichten aus der Anthologie Rottauschers handelt...
Freilich gehören nicht alle deutschen Haiku der Tradition des Natur-Haiku an. Ebenfalls Mitte der 1980er Jahre - die auch darum einen Drehpunkt in der Geschichte der deutschen Haiku-Literatur bildet -, zeitgleich mit der Gründung der Deutschen Haiku-Gesellschaft, wenngleich außerhalb der Deutschen Haiku-Gesellschaft, lassen sich einige Neuentwicklungen beobachten. So publizierte Uli Becker 1983, also nur drei Jahre nach der Veröffentlichung von "Im fremden Garten", Bodmershofs drittem und letztem Haiku-Buch, unter dem Titel "Frollein Butterfly" eine Sammlung postmoderner Liebes-Haiku. Der besondere Charakter dieser künstlerisch durchaus geglückten Gedichte manifestiert sich – das Programm der Postmoderne lautet "Cross the Border - Close the Gap" - in der Aufnahme von Populärkultur. Zu den betreffenden Elementen der Populärkultur gehören hier u.a. die Pornographie:
Tun kein Auge zu
heut nacht vor lauter Vögeln,
Hommage à Hitchcock.
Schon im Untertitel "69 Haiku" ist bereits ein Hinweis auf die erotische Dimension der Gedichte enthalten. Zugleich läßt das zitierte Gedicht als weiteren Aspekt von dessen postmodernem Charakter die Aufnahme von Kinofilmen erkennen. Trivialmythen, ein dritter Aspekt postmoderner Literatur, nimmt Becker ebenfalls auf, geschickterweise sogar aus der zeitgenössischen japanischen Kultur bzw., genauer: aus dem zeitgenössischen Japonismus:
Liebesbriefwonnen:
Die Harakiriklinge
vom Aufschlitzen stumpf.
Ganz locker spannen,
wie Zen-Meister den Bogen –
Nicht das Ziel, der Weg!
Trotz dieser Reminiszenzen an den Japonismus stehen die Haiku doch letztlich in der Tradition der postmodernen amerikanischen Lyrik, wie sie im deutschen Sprachraum vor allem Rolf Dieter Brinkmann, das erklärte Vorbild Uli Beckers, propagierte und praktizierte. Sogar auf das Gedicht der amerikanischen Lyrik, das Brinkmann zustimmend als Beginn der Pop art zitiert, wird in einem Haiku angespielt:
Ihr Kuß ein Echo
der Pflaumen aus dem Eisschrank,
so süß und so kalt.
Becker bezieht sich hier auf W.C. Williams berühmtes (und in der Tat faszinierendes) Gedicht "This Is Just To Say".
Trotz der gravierenden Unterschiede, die zwischen den Haiku Beckers und den Haiku Bodmershofs bestehen, gravierendere lassen sich wohl kaum denken, liegt ihnen doch jeweils dasselbe Assimilationsprinzip zugrunde. Beide Autoren haben die japanische Gattung aufgenommen, um eine bereits existente poetische Konzeption in einer neuen Form zu realisieren – und damit die deutsche Literatur weiterzuentwickeln. Ob diese Konzeption in einen kulturkonservativen Natur- oder einen kulturprogressiven Postmoderne-Diskurs gehört, spielt dabei im Prinzip keine Rolle. Dasselbe gilt überdies auch für die 1984 publizierten Haiku von H.C. Artmann, der sie in die für ihn charakteristische surrealistisch-parodistische, oder für die 1996 veröffentlichten Haiku von Peter Waterhouse, der sie in die für ihn charakteristische Spaziergangsliteratur integrierte. Jedesmal greifen die Autoren die Gattung auf, um bereits existente literarische Projekte auch in dieser Gattung zu realisieren.
Was die Aufnahme des Haiku nicht geleistet hat, auch dies dürfte im Rückblick erkennbar werden, ist eine Bereicherung der deutschsprachigen Literatur um spezifische 'Ideologeme'. In dieser Hinsicht unterscheidet sich die Assimilation des Haiku etwa von der Aufnahme des Sonetts, mit dem auch die neuhumanistische Konzeption der Liebe in die deutsche bzw. deutschsprachige Kultur Eingang fand. In einer anderen Hinsicht unterscheidet sich die Assimilation des Haiku auch von der Aufnahme der japanischen Bildenden Kunst, deren Einfluß auf die moderne europäische Malerei sich ja bekanntlich kaum überschätzen läßt. Doch nicht anders als die japanische Malerei, obschon natürlich in einem wesentlich bescheideneren Rahmen, eröffnete auch das Haiku den europäisch-deutschen Künstlern, versteht man Gattungen als „Verknüpfungen zwischen Realität und Literatur“, eine bis dahin unbekannte Möglichkeit, Wirklichkeit zur Darstellung zu bringen.