Bert Willens

IMMA VON BODMERSHOF UND DAS DEUTSCHE HAIKU

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Einleitung
Imma von Bodmershof wurde 1895 in Graz als Tochter von Baron Christian von Ehrenfels, dem Begründer der "Gestalt" - Lehre ("Das Ganze ist mehr und anders als die Summe der Teile") geboren.
Dr. Wilhelm von Bodmershof, den sie 1925 heiratete, lenkte die Aufmerksamkeit auf sich als Autor der "Geistigen Versenkung", womit er sich einen Namen machte als Sachverständiger der orientalischen Meditationsformen. Wichtiger für uns aber ist seine "Studie über das Haiku", aufgenommen in I.v.B.'s "Sonnenuhr" (Neugebauer Press, Bad Goisern, 1970) und auch aufgenommen in ihrem letzten Band "Im fremden Garten" (Die Arche, Zürich, 1980). Nach mehreren einzelnen Publikationen in Zeitschriften war diesen beiden schon 1962 "Haiku" (Verlag Langen-Müller, München) vorausgegangen. den sie 1925 heiratete, lenkte die Aufmerksamkeit auf sich als Autor der "Geistigen Versenkung", womit er sich einen Namen machte als Sachverständiger der orientalischen Meditationsformen. Wichtiger für uns aber ist seine "Studie über das Haiku", aufgenommen in I.v.B.'s "Sonnenuhr" (Neugebauer Press, Bad Goisern, 1970) und auch aufgenommen in ihrem letzten Band "Im fremden Garten" (Die Arche, Zürich, 1980). Nach mehreren einzelnen Publikationen in Zeitschriften war diesen beiden schon 1962 "Haiku" (Verlag Langen-Müller, München) vorausgegangen.
Imma von Bodmershof wurde erzogen in einem geistigen Klima, das sie gleichsam vorbestimmte zu einer Schriftstellerlaufbahn. Seit 1937 erschienen von ihr von Zeit zu Zeit Romane und Erzählungen (u.a. "Die Stadt in Flandern", nachher neu bearbeitet als "Das verlorene Meer"). Sie verkehrte mit dem Hölderlin-Kenner Norbert von Hellingrath, mit dem Bekanntenkreis von Stefan George (1868 - 1933) und mit dem 20 Jahre älteren Dichter Rainer Maria Rilke (1875 - 1926). Von persönlichen Kontakten mit Gudi Nölke und ihrem nächsten Umkreis inspiriert, zeigte Rilke schon geraume Zeit Interesse für die klassisch japanische Poesie, was sich herausgestellt hat aus den Notizen in einem hinterlassenen Haiku - Buch, aus seiner Korrespondenz, aber auch aus einigen Haiku, die er selbst geschrieben hat und als solche betitelte. Aus seiner Schweizer Periode stammt: wurde erzogen in einem geistigen Klima, das sie gleichsam vorbestimmte zu einer Schriftstellerlaufbahn. Seit 1937 erschienen von ihr von Zeit zu Zeit Romane und Erzählungen (u.a. "Die Stadt in Flandern", nachher neu bearbeitet als "Das verlorene Meer"). Sie verkehrte mit dem Hölderlin-Kenner Norbert von Hellingrath, mit dem Bekanntenkreis von Stefan George (1868 - 1933) und mit dem 20 Jahre älteren Dichter Rainer Maria Rilke (1875 - 1926). Von persönlichen Kontakten mit Gudi Nölke und ihrem nächsten Umkreis inspiriert, zeigte Rilke schon geraume Zeit Interesse für die klassisch japanische Poesie, was sich herausgestellt hat aus den Notizen in einem hinterlassenen Haiku - Buch, aus seiner Korrespondenz, aber auch aus einigen Haiku, die er selbst geschrieben hat und als solche betitelte. Aus seiner Schweizer Periode stammt:
Entre ses vingt fards
elle cherche un pot plein
devenu pierre.
 
Unter zwanzig Schminken
sucht sie einen vollen Topf:
er wurde zu Stein.
Übers. M.Buerschaper
Imma von Bodmershof erhielt mehrere wichtige Auszeichnungen: 1958 den "Großen österreichischen Staatspreis", 1965 den "Kulturpreis des Landes Nieder-Österreich", 1969 das "Ehrenkreuz für Kunst und Wissenschaft Erster Klasse", sowie den "Preis der Stadt Wien" als Anerkennung für ihre Dichtkunst. erhielt mehrere wichtige Auszeichnungen: 1958 den "Großen österreichischen Staatspreis", 1965 den "Kulturpreis des Landes Nieder-Österreich", 1969 das "Ehrenkreuz für Kunst und Wissenschaft Erster Klasse", sowie den "Preis der Stadt Wien" als Anerkennung für ihre Dichtkunst.
Seit ihrer Ehe verwaltete sie mit ihrem Ehemann das Landgut Rastbach im nieder-österreichischen Waldviertel, wohnte jedoch auch zeitweise in Wien. Sie starb in Gföhl 1982. Im Nachruf, erschienen in der Zeitschrift "Apropos" (Nr.3, 1982), schrieb Sabine Sommerkamp: "Die Freunde der Haiku-Dichtung gedenken in tiefer Verehrung und Dankbarkeit einer großen Persönlichkeit und Dichterin, die dem deutschsprachigen Haiku grundlegende Impulse gab".
Imma von Bodmershof verdankt die Bekanntheit vor allem Erwin Jahn, der 30 Jahre lang deutsche Literatur lehrte an den Universitäten Kyoto und Tokio. Als Kenner der japanischen Poesie lehnte er es ab einen abendländischen Dreizeiler mit 17 Silben ein Haiku zu nennen, wenn dieser nicht den formalen und inhaltlichen Kriterien entsprach, die mit dieser Gestaltung verbunden sind. Gründlich vertraut mit der japanischen Sprache und mit dem japanischen Lebensgefühl, schmerzte es ihn jedesmal festzustellen, daß in den vorliegenden deutschen Haiku, oder was dafür gehalten werden mußte, kaum die geringste Möglichkeit war zum Vergleich mit japanischen Beispielen. Das gründliche Studium der japanischen Haiku führte ihn dazu - dennoch ohne Grund - die Folgerung zu ziehen, daß echte Haiku im Westen nicht geschrieben werden können, weil es keine Dichter mehr gibt, die so mit der Natur verbunden leben wie die alten japanischen Meister. Es stellte sich heraus, daß er seine Meinung gründlich berichtigen mußte nach der Publikation von I.v.B.'s "Sonnenuhr" und dem darin aufgenommenen Aufsatz "Studie über das Haiku" von W.v.Bodmershof. Das Vorwort wurde geschrieben von Robert Josef Koc (* 1914), von dem schon Ende der dreißiger Jahre ausgereifte deutsche Haiku und Tanka bekannt geworden waren, entstanden in Japan und mit den japanischen Landschaften und Jahreszeiten als Inhalt. Als Beispiel:
Mächtige Sturmwelle -
der Schlag deiner Kralle vertreibt
die Chidori - Möwen.
Mit R.J.Koc haben wir zum ersten Mal Kenntnis genommen von vollwertigen deutschen Haiku. Er schien deswegen die richtige Person, ein Vorwort zu schreiben für die "Sonnenuhr". Kaum lag das Manuskript bei Langen-Müller Verlag für Beratung und Gutachtung, als in der "Frankfurter Allgemeinen Zeitung" ein gut organisierter Aufsatz erschien von Erwin Jahn, in dem er das Haiku zugrunde richtete.
Wir wiederholen hier, was wir im dritten Jahrgang, zweite Lieferung der "Mededelingen van het Haikoe-centrum", Sommer 1980, geschrieben haben:
"Dem Anspruch, daß im Westen kein Haiku möglich ist wegen geringer Naturverbundenheit, fügte Jahn hinzu, daß diese Kunst nur aus tiefer Verwobenheit mit der Zen-Kultur zustande kommen kann und daß eine wahre Zen-Hingabe dem Abendländer fern ist. Es sah aus, als ob dieser Aufsatz das Manuskript von I. v. Bodmershof vom Herausgebertisch wischen würde. Dr. Schondorf, Leiter des Verlages, schickte das Manuskript zu Jahn selber mit der Mitteilung, daß sein Urteil entscheiden würde, ob es publiziert werden könnte oder nicht".
Jahn's Antwort war für v. Bodmershof nicht nur überrumpelnd, sondern sie leitete auch eine Freundschaft ein, die bis zum Tode Jahns dauern würde. Er behauptete, daß "Sonnenuhr" allen Kriterien für die werdende deutsche Haiku-Dichtung entsprach. Auch teilte er seine Begeisterung unumwunden seinen japanischen Haiku-Freunden mit. All dies führte dazu, daß der Universitätsprofessor Shiniki Hoshino der Poetin seine Aufwartung machte. Eine Reihe von Übersetzungen ihrer Haiku erschienen in der japanischen Zeitschrift "Haiku". Im Hause Bodmershof fand man immer eine freundliche Aufnahme, das 'Durchgangshaus' für berühmte japanische Haiku-Dichter.
Die "Studie über das Haiku" war in der Evolution des deutschen Haiku von nicht geringerer Bedeutung als "Sonnenuhr". Auch für japanische Gelehrte gilt sie als maßgebende Einleitung zur Haiku-Welt; vorausgesetzt, daß man annimmt, daß Haiku undenkbar ist - und I.v.Bodmershof liefert davon den Beweis - ohne den Geschmack von Zen, der dem Dreizeiler seinen eigenen Zauber, seine Leichtigkeit, seine Flüchtigkeit und seinen Existenzgrund erteilt. Ab und zu gaben die Haiku-Theorien von W.v.Bodmershof Anlaß zu Kritk. Diese hatten offenbar Bezug auf die japanischen Haiku, aber beeinflußt von der poetischen Tätigkeit seiner Frau, wurden sie nach und nach abgeschwächt in solcher Weise, daß sie für jeden deutschschreibenden Dichter als Ausgangspunkt und als Leitfaden dienen konnten. I.v.Bodmershof bewies, daß der tiefere Sinn des Haiku und seine strenge Form ohne Problem sich miteinander vertragen konnten. Es waren ihre Gedichte, die japanische Sachverständige, aber auch ihre eigene literarische Umgebung davon überzeugten, daß deutsche Haiku perfekt sein können.
Die poetische Welt von Imma von Bodmershof
In den ersten Jahren nach dem zweiten Weltkrieg haben immer mehr Deutsche und Österreicher angefangen, sich für Haiku zu interessieren. Weil es auf den ersten Blick nicht so schwierig schien, ein derartiges Gedicht von 17 Silben zu realisieren, das - so wie man wenigstens dachte - nicht Vorschriften und Verboten unterworfen war, machte man sich eifrig an die, Arbeit, so daß der Markt ziemlich überspült wurde von allerlei Versuchen. Ein Vorteil schien durchaus damit verbunden: es war ein edler Zeitvertreib und ein erster Schritt auf dem Weg zur Literatur. Die amateurhafte Flutwelle hat in Deutschland und Österreich ihren Höhepunkt noch nicht erreicht, aber seit 1960 können beide Länder sich freuen an einer wachsenden Anzahl ernsthafter Haiku-Dichter. Ihre Kurzgedichte zeichnen sich meistens aus durch ein tiefes Einfühlen in die Tradition, welche die Basis des Haiku bildet; damit verbunden ist das Bemühen um sprachliche Kreation in den üblichen Formvorschriften. Die wichtigste unter ihnen ist imma von Bodmershof.
Schon in ihrem Gedichtband "Haiku" aus dem Jahre 1962 hatte sie das klassische Silben-Schema angewendet. Mehr als die Hälfte folgt der 5-7-5 Regel. Für andere wendet sie eine abweichende, auch im klassischen Japan öfter vorkommende Metrik an. Im Band "Im fremden Garten" (1980) hat sie eine Reihe früherer Haiku aufgenommen, die sie neu gestaltete im Metrum 5-7-5 oder dessen Varianten. Die Gedichte haben sich, sehr zu ihrem Vorteil, geändert in Kraft und rhythmischem Klang. Gegen den Rat von Dr. Herbert Fussy (Autor von u.a. "Zur Geschichte des deutschen Haiku"), der mit Recht behauptet, daß die äußerliche Geschlossenheit des Haiku verstärkt wird durch Tilgung sämtlicher Interpunktionszeichen, beachtet sie die Satzzeichen vielleicht etwas zu viel, mit Ausnahme des Gedankenstrichs, der als 'Schneidewort' fungiert.
zitierte Haiku aus "Sonnenuhr":
Zog die Lade auf -
die Farben sind vertrocknet
der Pinsel ist steif.
Von weißem Flieder
verschneit ist die Quelle - selbst
das Wasser duftet.
Varianten auf das 5-7-5 Metrum begegnen wir u.a. in den folgenden Haiku mit 7-5-5 und 5-5-7 Silben:
Fernher weht Wind um das Haus -
sag mir spürst auch du
Salz auf den Lippen?
Ist nichts in der Luft?
Nichts - ein Sonnenstrahl
und tausend Stäubchen tanzen!
Sehr selten wendet sie das 5-7-7 oder eben das 7-5-7 Metrum an:
Öffne das Fenster:
Goldgrün im Osten - und hoch
ein Adler über dem Meer.
Meine Spur lag groß im Schnee
als ich zum Wald ging -
heimzu fand ich sie nicht mehr.
Neben der Zahl an Varianten zur Ordnung der Verszeilen sind auch sonstige Abweichungen des 5-7-5 Modells selbstverständlich für sie, unter der Bedingung, daß der innere Rhythmus dazu den Takt angibt.
Nicht die dichterische Expressionsform, die sich konzentriert um Gruppen von Worten mit einer Totallänge von 17 Silben, sondern der Ausdruck einer völlig erlebten Lebenserfahrung des Augenblicks, ist für sie von entscheidender Bedeutung:
 
Fremdes Mondlicht
auf der alten Sonnenuhr -
wo gilt solche Zeit?
Ihre Haiku sind eine Bewegung vom Geiste zum Ding, sowie es da ist im Moment wo es sich meldet, unerwartet, ohne warum, so und nicht anders. Sie sind da, ohne davon den Anschein zu wecken. Es sind 'Momentangedichte' (Werner Helwig), einem Augenblick großer Intensität unterworfen:
Spielende Kinder
der Ball fliegt hoch noch höher -
o eine Taube!
Einsam die Biene
schläft in der Sonnenblume -
vergaß sie ihr Haus?
Inhaltlich beachtet Imma von Bodmershof peinlich genau die Domäne der Naturlyrik und verfolgt den Lauf der Jahreszeiten. Sie vermeidet Motive, die der abendländischen Lebensweise fremd sind. Die Tendenz zum Rationalen deutet sich zum Beispiel in den folgenden Haiku an:
Nach jedem Aufschwung
fällt die Schaukel zurück - wann
gelingt der Umschwung?
Im Mondlicht fallen
rote Blätter doch den Ton
hört keiner der schläft.
Keiner im deutschen Sprachgebiet hat bis heute eine so große Anzahl von Haiku geschrieben mit einer so bemerkenswerten Dichte. Hachiro Sakanishi, Mitherausgeber der "Anthologie der deutschen Haiku" (Sapporo/Hokkaido, Japan 1978) sagt, daß mit I.v.Bodmershof zum ersten Male die Symbiose zwischen deutscher Poesie und traditionellem japanischem Haiku zustande gebracht wurde. In einem Brief an eine Freundin schreibt sie selber, daß es im Haiku vor allem um die Einheit von Inhalt, Form und Rhythmus geht. "Man kann ein Haiku nicht machen", sagt sie, "man muß ihm begegnen". Sie unterschätzt nicht den Schwierigkeitsgrad, dabei der Worte von Onitsura (1661 - 1738) gedenkend: "Der Weg zum Haiku scheint flach zu sein, ist aber tief; er sieht leicht aus, ist jedoch schwierig mitteilbar":
 
Immer noch Dürre
mein Brunnen gibt kaum Wasser.
Will tiefer graben.
Für I.v.Bodmershof ist die Zielsetzung der Haiku nichts anderes als die Spannung, hervorgerufen durch die ebenso plötzliche als "unerwartete" Einsicht in eine Erfahrung, und das Erstaunen, das damit Hand in Hand geht, in Worte zu fassen. Es ist dennoch ihre tiefe Überzeugung, daß das in Worte fassen dieser höchsten Erfahrung nicht entstehen oder gedeihen kann ohne längere geistige Übung. Die Spontaneität, die Direktheit, die davon eine natürliche Folge ist, und der der Verstand in letzter Instanz fremd ist, ist nichts anderes als die des Kindes an der Brust der Mutter, das den Blüten zulächelt und mit dem Finger auf den Mond zeigt.
Froststarrer Garten.
Doch schien je der Mond so hell
ehe der Reif fiel?
 
So wie jedes gute Haiku ist auch dieser Vers der Niederschlag einer Erfahrung, die sich identifiziert mit der plötzlichen Einsicht. Es ist ein Erlebnisaugenblick, der den Unterschied zwischen Subjekt und Objekt aufhebt und uns einen unmittelbaren Blick gönnt auf das Unergründliche. Dieses Haiku sagt viel mehr als die Worte bedeuten, die es zusammenstellen. Es verdankt seine Tragfähigkeit dem, was sich der Wucht der Worte entzieht. Mit seiner Suggestivkraft und seinem Reichtum an Assoziierungen läßt es zwischen der ersten und den folgenden zwei Zeilen genügend 'Weiß' übrig, um dieses vom Leser ausfüllen zu lassen.
Gerold Effert in "Haiku in deutscher Sprache" (Apropos, 1983 (3)) sagt, daß die Begrenzung auf 17 Silben den Lyriker zu äußerster Sparsamkeit zwingt..., und daß er sich üben soll in der Kunst des Weglassens und Aussparens. Er glaubt, daß Bild, Rhythmus und Klang das Ungesagte und nicht Aussprechbare (das "Numinose") in Worte fassen müssen, und daß es die Aufgabe des intuitiv-rezeptiven Lesers ist, die ungeschriebenen Signale des Haiku aufzufangen. in "Haiku in deutscher Sprache" (Apropos, 1983 (3)) sagt, daß die Begrenzung auf 17 Silben den Lyriker zu äußerster Sparsamkeit zwingt..., und daß er sich üben soll in der Kunst des Weglassens und Aussparens. Er glaubt, daß Bild, Rhythmus und Klang das Ungesagte und nicht Aussprechbare (das "Numinose") in Worte fassen müssen, und daß es die Aufgabe des intuitiv-rezeptiven Lesers ist, die ungeschriebenen Signale des Haiku aufzufangen.
 
Imma von Bodmershof berücksichtigte in späteren Jahren mehr denn je die strengen Formvorschriften und bearbeitete eine Menge ihrer früheren Haiku aufs neue. Vor allem ihre scheinbar mühelos niedergeschriebenen Verse aus "Sonnenuhr" zeichnen sich aus durch ihre Natürlichkeit, ihre Selbstverständlichkeit und ihre Frische. So wie jeder Haiku-Dichter nahm sie als Tatsache an, daß die wirklichen Worte eines Haiku während einer momentanen Einsicht zustande kommen, aber daß nachträglich manchmal lange poliert werden muß. Auch sie wußte, daß ihr selten ein fix und fertiges Geschenk in den Schoß geworfen wurde: in späteren Jahren mehr denn je die strengen Formvorschriften und bearbeitete eine Menge ihrer früheren Haiku aufs neue. Vor allem ihre scheinbar mühelos niedergeschriebenen Verse aus "Sonnenuhr" zeichnen sich aus durch ihre Natürlichkeit, ihre Selbstverständlichkeit und ihre Frische. So wie jeder Haiku-Dichter nahm sie als Tatsache an, daß die wirklichen Worte eines Haiku während einer momentanen Einsicht zustande kommen, aber daß nachträglich manchmal lange poliert werden muß. Auch sie wußte, daß ihr selten ein fix und fertiges Geschenk in den Schoß geworfen wurde:
O diese Haiku!
Wollte abends eins nachsehn
schon naht der Morgen.
Ohne sklavisch nachzuahmen, berücksichtigte sie das Faktum, daß das westliche Haiku steht und fällt mit der Achtung der Ausgangspunkte. Für eine Poesie, die die persönlichen Gefühle und Erfahrungen oder das Gedankengut eines Dichters ausdrückt, sah sie andere Versformen als das Haiku und hielt sie ein japanisches Modell nicht für notwendig.
Mit Unbehagen betrachtete auch Hajo Jappe, selbst Haiku-Dichter, die nicht ablassende Flut von Pseudo-Haiku, die jede Tiefe vermissen. In "Apropos" (2/1982) ruft er die Prinzipien von Haiku ins Gedächtnis zurück - ohne welche es einfach nicht geht - in einer Abhandlung über I.v.Bodmershof. Er verweist auf die Studie ihres Mannes in der alle Elemente enthalten sind, die als Ausgangspunkt eines Haiku dienen.
Alle Haiku von I. v.Bodmershof haben ein Bild als Ausgangspunkt. Einige Worte genügen, um einen Eindruck wiederzugeben. Dieser Eindruck ist jedoch nicht das Endziel, sondern Federbrett, von dem sie den Sprung ins Unsagbare wagt. Ein Haiku-Dichter, der meint, an der puren Aussagekraft des Bildes, gespeist (jedoch geschieden) von der sinnlichen Welt, noch etwas zusetzen zu müssen, untergräbt die evokativen Kräfte des Haiku, trübt dessen Transparenz und erstickt das Echo, das er wachrufen will:
Der Mittagswind weht
aus dunklen Wellen springen
goldweiße Blitze.
Hierfür gibt es kein anderes Wort als das japanische makoto (Wahrhaftigkeit, nicht zu verwechseln mit: Wahrheit, die des Geistes ist), hergeleitet von dem Wortschatz der Waka-Dichtkunst. Die Fälschung des spontanen Gefühls lehnt sie mit triftigen Gründen ab. "Die zarten Insektenstimmen dieser Gedichte", sagt Erwin Jahn (in "Fallende Blüten", Die Arche. Zürich, 1968) "verfügen über die Kraft, durch verhärtete Schichten in das Innere des Hörenden vorzudringen, bis zu einer Schwelle, wo eine andere Art des Aufhorchens einsetzt".
Imma von Bodmershof spricht nur selten über eine Erfahrung, sie faßt das Erlebnis selbst in die Worte. Sie betrachtet die Dinge in ihrer Unwiederholbarkeit, in ihrer Art und Weise zu sein ohne weiteres:
Zwischen den Scherben
der braunen irdnen Schale wie hell glänzt der Reis.
Ihr Erfahrungshorizont beschränkt sich nicht auf den Unterschied äußerlicher Formen, Bildimpressionen, einer Pseudo-Wirklichkeit. Ihr Gedicht ist - vor allem - gebunden an die blitzhafte Einsicht, wobei die Sprache in ihren Strukturen, ihren Vorschriften, ihrem Ritual als "Mittel" fungiert. Diese ist dennoch ästhetisch, rhythmisch, wohlklingend, sie gehorcht strengen prosodischen Normen:
 
Im hohlen Strunk der Weide
nistet ein Grünspecht.
Laut klingt sein Lachen.
So wie I.v.Bodmershof bei der Wiedergabe der äußeren Bildimpression sich einer leichten Andeutung bedient, so benutzt sie das ganze Gedicht seinerseits als Andeutung dessen, was sich den Sinnesorganen entzieht und sich in seiner eigenen Tiefe bewegt. Das Bild an sich ermüdet ja schnell:
Der große Fluß schweigt
manchmal nur tönt es leis
tief unter dem Eis.
 
Neben manchen anderen Haiku ist auch dieser Vers ein Brett für den Sprung in das Unbekannte. Den Salto muß der Leser selbst vollziehen.
Oftmals habe ich einen Vergleich gezogen zwischen Haiku und Ikebana, das wörtlich lebende Blume bedeutet, und das ursprünglich weit entfernt ist von der herrschenden Ansicht des Blumen-Arrangierens. In diesem letzten überwiegt ja das Ich, das mit den Blumen gemäß rationellen Ansichten hantiert. Das Wesentliche in Haiku und Ikebana ist jedoch die Intuition, die von einer komplett anderen Auffassung ist als das Arrangieren der Elemente zu einem annehmbaren und harmonischen Ganzen. So wie man bei Ikebana sich bemüht, das Wesen der Blume zum höchsten Ausdruck zu bringen, ist man beim Haiku bestrebt, das Wesen der Welt und der Dinge in einer augenblicklichen Impression zu fassen und festzuhalten. Die Spannung, die beim Blumenarrangement zwischen den Hauptzweigen entsteht, ist eigentlich keine andere als jene, die im Haiku durch die Wechselwirkung der drei Verszeilen hervorgerufen wird. Man nimmt an, daß in dem gelungenen Haiku die Klangdauer der zwei kürzeren Zeilen in tiefgehendem Zusammenhang steht mit der Klangdauer der längeren Verszeile, was auf Einheit und Harmonie hindeutet. Es gibt noch mehr. Nebst genannter Wechselwirkung - der Hintergrundbegleitung - gibt es auch die intensive Bewegung. Diese wird in Gang gebracht durch den Haiku-Moment, der eine Spannung zustandebringt, die technisch auf mehrfache Weise zum Ausdruck kommen kann.
Zwei Pole
Die Bewegung in den Haiku von Imma von Bodmershof wird meist hervorgerufen durch das Bauprinzip von zwei kontrastierenden Polen. Diese Bewegung ist am meisten auffallend, wenn sie nicht gradlinig stattfindet, sondern eine Wendung nimmt innerhalb des Verlaufs des Gedichtes:
Fast hundert Schlüssel -
das Kästchen mit dem Juwel
öffnet mir keiner.
 
Fast hundert Schlüssel und keiner sind in diesem Haiku die zwei Pole, zwischen denen die Worte sich rhythmisch bewegen. Die blitzhafte Wendung findet sofort nach dem Gedankenstrich statt.
 
Nur ein Tropfen scheint
mir der Teich vor dem Fenster
seit ich das Meer sah.
In diesem Haiku sind die eingebauten Pole (Tropfen - Meer) ganz offensichtlich. Der nicht markierte Wendepunkt, eine kurze Pause einläutend, kommt unmittelbar nach Fenster.
Das nächste Haiku vollzieht sich scheinbar ohne Atempause, wenn es auch hier und dort unterbrochen wird durch einen fast unauffällig unterdrückten Schluchzer:
Aus meinen Händen
rieselt der Sand ganz langsam zurück in das Meer.
 
Das 5-7-5 Verhältnis des Lautwerts wird hier erreicht in drei ausgeglichen aufgebauten Verszeilen. Die durch die Pole (Händen - Meer) bedingte Bewegung steht im Dienste des verborgenen Sinns. Das Geheimnis des Lebens wird ertastet in einer tiefgehenden Grübelei. Der höchste Zauber dieses Haiku steckt in der Ungreifbarkeit. Der Begriff der Zeitlichkeit wird aufgehoben.
I.v.Bodmershof deutet die von ihr erwähnte Wende zum verborgenen Sinn immer so an, daß der geübte Leser diese problemlos nachvollziehen kann. Im nächsten Haiku kommt sie nach Ast: die von ihr erwähnte Wende zum verborgenen Sinn immer so an, daß der geübte Leser diese problemlos nachvollziehen kann. Im nächsten Haiku kommt sie nach Ast:
 
Alter Apfelbaum
hat bloß einen Ast. Der trägt
Knospe an Knospe.
Der Zustand der Konzentration, der Disziplin, womit Imma von Bodmershof den Haiku-Moment (in casu: die Verwunderung, das Erstaunen über den Kontrast Alter Apfelbaum - Knospe) übermittelt, bestimmt die Form dieses Haiku. Charakteristisch ist, daß das Haiku wie ein gewaltiges Echo den Leser erreicht, obwohl hinter Ast ein Punkt gesetzt ist; seine Worte treffen zusammen mit dem Haiku-Moment und funktionieren sofort.
Leichthin fährt das Boot
im sanftgeblähten Segel
unsichtbaren Wind.
Dieses Haiku ist viel mehr als die Wiedergabe eines Stimmungsbildes. In Einklang mit dem Existierenden ist seine Aussagekraft das Ergebnis einer inneren Spannung, die in tiefe Ruhe übergeht. Die zwei Pole dieses Haiku (Leichthin - Wind) sind nicht kontrastierend, jedoch komplementär. Was man hier feststellt, ist sorglose Freude an dem Leben und der Natur, das Gefühl des Einswerdens mit dem Geschaffenen und dem Schöpferischen.
Im folgenden Haiku, in dem die Dinge mehr als je zu Wort kommen, erscheint die Welt als ein bis auf einige Elemente reduziertes Bruchstück:
Mondlose Frostnacht
die Rehe scharren nach Moos
mit wunden Läufen.
 
Wie auf einem uneingerahmten Tuschebild reden die Dinge hier nur um zu schweigen und schlagen uns in Bann durch Sprachlosigkeit. Die besondere Erlebnisweise, die hinter diesen Versen steckt, ist für den unvorbereiteten Leser vielleicht schwer zugänglich. Auf die Schönheit dieses Haiku mit seinem Schimmer von Askese, seiner Einsamkeit in der Zeit und seinen vielen Assoziationen können wir im engen Rahmen unserer Betrachtung nicht eingehen.
Die Haiku von I.v.Bodmershof zeichnen sich aus durch ihre Ungekünsteltheit und Direktheit. Obwohl sie das übliche Schema anwendet, wirkt dies nicht störend für die Moment-Aufnahme. Im nächsten Haiku, aufgebaut gemäß dem 5-5-7 Schema, rührt uns die schöpferische Fähigkeit der Dichterin, da sie in einer scheinbar nichtssagenden Mitteilung eine Welt von Einfachheit und Unschuld darzustellen vermag:
 
Mit trocknen Füßen
laufen die Spinnlein
über das tiefe Wasser.
Trocknen Füßen und tiefe Wasser, die beiden Pole dieses Haiku, liegen auf der gleichen Längsachse und ergänzen sich gegenseitig. Die kaum suggerierte dichterische Emotion klingt authentisch. I.v.Bodmershof bezeugt selbst, daß dieser Vers in einem Zug zustande kam. Der gebildete Leser läßt sich mühelos ein auf die tieferen Bedeutungsstufen. Das wiederholte i spielt hier eine nicht zu unterschätzende Rolle. Das flüssige l von laufen und Spinnlein gewährt dem Vers Schwung und Rhythmik. und tiefe Wasser, die beiden Pole dieses Haiku, liegen auf der gleichen Längsachse und ergänzen sich gegenseitig. Die kaum suggerierte dichterische Emotion klingt authentisch. I.v.Bodmershof bezeugt selbst, daß dieser Vers in einem Zug zustande kam. Der gebildete Leser läßt sich mühelos ein auf die tieferen Bedeutungsstufen. Das wiederholte i spielt hier eine nicht zu unterschätzende Rolle. Das flüssige l von laufen und Spinnlein gewährt dem Vers Schwung und Rhythmik.
Einfachheit, Schlichtheit und Aufrichtigkeit sind auch die Merkmale des nächsten Haiku, in dem das fünfmal wiederholte r den stöhnenden Laut des zerbrechenden Mastes suggeriert:
Dieser Frühlingssturm
er droht den Mast zu brechen meinem kleinen Boot.
 
Es ist überdeutlich, daß Imma von Bodmershof in ihren frei atmenden Versen ihre eigene Stimme findet, die nicht die Stimme eines Formkünstlers oder Spracharchitekten ist, sondern die des eigenen Herzens. Falls Stimmungen wachgerufen werden, sind diese dennoch im Einklang mit dem Bestehenden und bleibt die persönliche Gemütsverfassung im Hindergrund. Ihre Haiku bieten immer wieder neue Horizonte. Die didaktische Absicht, so verhängnisvoll für Haiku, fehlt völlig. In der gleichen Atmosphäre wie das letzte Haiku lesen wir auch:
 
Sturm poltert ums Dach
hart schlägt Regen ans Fenster - lautlos wächst der Tag.
Die Hintergrundmusik von Vokalen und Konsonanten wird rhythmisch hinaufgetrieben durch das peitschende, bis zu sechsmal wiederholte r, die sausenden, reichlich benutzten s. Sturm steht hier gegenüber lautlos. Zwischen diesen zwei Polen ist alles möglich. Nur der Tagesanbruch stellt sich schweigend über diese nutzlose Gewalt.
Der Leser wird wohl wahrgenommen haben, daß viele Haiku von I.v.Bodmershof als Fragesatz geschrieben sind. Solches bietet ihr - was aber nicht - zur Regel werden darf - die Zusatzmöglichkeit, dem Haiku einen Mehrwert zu verleihen. Der Interpretationsraum wird hier extra erweitert dadurch, daß man die Antwort sowieso unentschieden läßt. Das ist der Fall im nächste Haiku, das - obwohl ganz gewiß nicht so gemeint - stark an das Senryu anlehnt:
Nacht. Nur ein Kater
ein Wachmann der volle Mond -
was suchen die drei?
 
In diesem Vers, der sich sehr gut für eine flotte Lektüre eignet, melden sich gleichzeitig Wachmann (in Österreich: Polizist), Kater, Mond - die letzten beiden stark anthropomorphisiert - mit Absichten die, nur leicht suggeriert, zu vielen Betrachtungen Anlass geben können. Mit den vielen gelungenen Ausdrücken - in einer Mondnacht, die an sich schon geheimnisvoll genug ist - und mit den wachgerufenen Gefühlswerten kann man viele Richtungen wählen. Dieser Vers ist aber gerade nicht ein Senryu, weil die Bestandteile dieses Dreizeilers, verschmolzen mit dem Ganzen des Naturbildes, ein Volumen schaffen, das nicht meßbar ist. Der Verstand reicht gerade nicht aus, die Bestandteile in entscheidender Weise auszuloten und ihnen - wie paradox auch! - ein menschliches Gesicht zu geben. Die Spannung, die implizit eingebaut wurde in diesem Haiku, das einen gewissen surrealistischen Anstrich hat, läßt nicht nach, weil sich keine der Parteien in die Karten schauen läßt oder ihre Ansicht zu erkennen gibt. Ein Haiku ist ja nicht statisch sondern dynamisch, in dem Sinne, daß es aufblitzt aus der Intuition in einem Augenblick. der sich manifestiert in der Zeit, aber andrerseits zeitlos, einmalig und unteilbar ist.
Imma von Bodmershof bedient sich dabei des Naturbildes auf eine solche Weise, daß die Grundstimmung bei der Beobachtung, die Assimilation und die Wiedergabe, unausgesprochen mitklingt. Es muß für sie ein begnadeter Augenbklick gewesen sein, als sie das folgende Haiku schrieb:
 
O dieser Seewind!
Selbst die Krähen trägt er  heut
wie Möwen dahin.
Mit dem unbestimmten dahin wird eine Welt sichtbar, die zeitlos, unergründlich und unermeßlich ist.
Wie in jedem wahrhaften Haiku ist auch hier die Grenze zwischen Symbol und Personifizierung äußerst gering.
Schlußendlich dienten I.v.Bodmershof die Anwendung von Formvorschriften - die Prosodie - und die Beachtung der wichtigen Grundprinzipien des Haiku dem versteckten Sinn, dem Geheimnis des Lebens selbst, nicht der Literatur. Nirgendwo steht solches klarer in Worte gefaßt, als in diesem Haiku aus dem Herbst ihres Lebens:
Spät im Abendlicht
leuchten fern Bergpfade auf - andre als mittags.
 
Nur für diejenigen, die lange und reiflich über Haiku nachgedacht haben, werden diese Bergpfade sichtbar.
 
(Dieser Aufsatz erschien in Vuursteen 8 (3): S.81-93 (1988))
Übersetzung: Marianne Kiauta unter Mitarbeit von Conrad Miesen