Eckehart Wiedemann

Shiki und der Kleine Kuckuck (Hototogisu)
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Masaoka Shiki (1867-1902) war nicht nur nach Matsuo Bashô, Kobayashi Issa und Yosa Buson der letzte der vier großen Haikudichter, sondern die einflussreichste Gestalt seiner Generation in der japanischen Lyrik. Er reformierte sowohl das Haiku als auch das Tanka, die beide im 19. Jahrhundert in Banalität und Formalität zu erstarren drohten, und gab ihnen ihre heutigen Namen. Mit einem Jugendfreund gründete er die einflussreiche Literaturzeitschrift Hototogisu (»Kleiner Kuckuck«), war Mentor seines gleichaltrigen Freundes Natsume Sôseki, der sich später zu einem der bedeutendsten japanischen Schriftsteller des 20. Jahrhunderts entwickelte, brachte die um 759 geschriebene monumentale Lyrik-Anthologie Manyôshi aus der Vergessenheit zurück und »entdeckte« Buson, dessen Haiku er für die besten hielt. Obwohl er nur 35 Jahre alt wurde und wegen Tuberkulose seine letzten 13 Jahre in zunehmender Invalidität verbrachte, hinterließ er ein Lebenswerk, das seinesgleichen sucht: über 20000 Haiku, 3000 Tanka, 900 Kanshi und zahlreiche richtungsweisende literarische Essays.
Im Jahr 1889 legte sich Masaoka, wie es damals unter Literaten üblich war, ein Pseudonym anstelle seines Vornamens Tsunenori zu und führte dieses fortan als Künstlernamen. Er wählte das Wort Shiki, ein chinesisches Synonym des japanischen Wortes Hototogisu. Beide beziehen sich auf einen in Ostasien weit verbreiteten und allgemein bekannten Vogel, den Cuculus poliocephalus, von Ornithologen auf Deutsch »Kleiner Kuckuck«, auf Englisch »lesser cuckoo« genannt. Er ist ein kleinerer Vetter des in Japan auch vorkommenden eurasischen Gemeinen Kuckucks, Cuculus canorus, japanisch Kakkô. Was ist an diesem Vogel so interessant, dass Masaoka nicht nur seine literarische Zeitschrift, sondern auch sich selbst nach ihm nannte? Der Hototogisu ist ein taubengroßer Zugvogel, der im Mai aus seinem Winterquartier eintrifft und im Frühsommer Tag und Nacht seinen lauten fünfsilbigen Ruf ausstößt, der ihm seinen wortmalenden japanischen Namen eingetragen hat. In der Folklore ist er Verkünder und Wahrzeichen des Sommers und hat deswegen in der japanischen Dichtung seit ihren Anfängen eine hervorragende Rolle gespielt. Im Haiku ist er neben dem der Nachtigall verwandten Uguisu (Deutsch »Buschsänger«) der am häufigsten erwähnte Vogel1 und das fünfsilbige Wort Hototogisu, das allein schon den ersten oder dritten Vers eines Haiku füllen kann, ist ein beliebtes Kigo für den Sommer. Damit wäre Masaokas Namenswahl schon durchaus verständlich. Es gibt aber noch einen tieferen, persönlichen Grund. Der Hototogisu hat einen tiefroten Schlund, den man gut sehen kann, wenn er seinen Schnabel öffnet, z.B. während seines unaufhörlichen Geschreis. Das ist offenbar der Ursprung des merkwürdigen Volksglaubens, dass der Hototogisu beim Singen Blut spuckt, ja sogar, dass er nach 8008 Rufen so viel Blut hustet, dass er stirbt. Dieses Märchen hat offenbar den jungen Tsunenori beeindruckt, denn schon als 12-jähriger Schuljunge, der von seinem Onkel in den chinesischen Klassikern unterrichtet wurde, schrieb er ein Kanshi (»chinesisches Gedicht«), ein nur in Kanji und in chinesischem Stil geschriebenes Gedicht, in der Form eines 20-silbigen Vierzeilers mit der Überschrift »Der Schrei des Hototogisu«2:
 
Der Schrei des Hototogisu.
Ein Schrei im Mondschein,
unerträgliches Husten von Blut.
In tiefer Nacht such’ ich umsonst das Kissen;
fern über Wolken liegt mein Heimatland.
 
Am 5. Mai 1889 hustete Masaoka selbst Blut und erkannte, dass ihm kein langes Leben vergönnt sein würde3. Umso mehr entschloss er sich offenbar, sein Lebenswerk unbeirrt fortzusetzen und begann mit der Wahl eines Pseudonyms. Die Parallele seines schrecklichen Erlebnisses zu dem Blut hustenden Hototogisu der Sage liegt auf der Hand. Hototogisu selbst, der allen bekannte Vogelname, eignet sich zwar sehr gut als Titel einer Zeitschrift, aber kaum als Vorname, deshalb suchte er nach einem nicht allgemein bekannten Synonym. Es gibt sieben verschiedene japanische Schreibweisen des Wortes Hototogisu, nämlich zwei in Kana (den japanischen Silbenschriften Hiragana und Katakana) und fünf in Kanji, den chinesischen Schriftzeichen. Drei der letzteren bedeuten verschiedene chinesische Namen des Hototogisu. Unter diesen wählte Masaoka das aus den zwei Kanji shi und ki bestehende Wort Shiki aus, weil das Kanji ki auch als nori wie in Tsunenori gelesen werden kann4. Damit stellte er eine Verbindung zu seinem Vornamen her: aus Tsunenori wird Shiki, der Hototogisu, der lärmende, Blut speiende Sommervogel, der bald sterben wird.
Am Tag nach dem Bluthusten schrieb Shiki eine größere Anzahl Haiku zum Thema Hototogisu, darunter5:
 
Unohana o                         Es scheint, er zielte
megakete kitaka                 auf die Deutzienblüten –
hototogisu                         der Kleine Kuckuck.
 
Die Deutzie (Unohana) ist ein beliebter japanischer Zierstrauch, der im Mai zahlreiche weiße Blüten hervorbringt. Shiki forderte vom Haiku realistische Beschreibung wirklichen Geschehens in ungestelzter Sprache. Es ist ziemlich klar, wer der Kleine Kuckuck ist, und was er getan hat.
 
 
1  In der Natur besteht zwischen den beiden Haikuvögeln eine sinistere Beziehung: Der Kleine Kuckuck ist wie der Gemeine Kuckuck ein Brutschmarotzer, der seine Eier in die Nester anderer Vögel legt. In Japan ist der Uguisu bei weitem der häufigste Wirtsvogel des Hototogisu.
2  Kanshi: www.lib.ehime-u.ac.jp/KUHI/JAP/kuhi159.html. Deutsch von E.W. nach der wörtlichen englischen Übersetzung von Dr. Tokuko Saito-Wiedemann. Chinesisch gelesen hat es 20 Silben (zugleich 20 Worte), japanisch gelesen 44 On (Moren).
3  Bibliothek der Universität Ehime: www.lib.ehime-u.ac.jp/KUHI/ENG.
Ki ist die Lautlesung, nori (»Regel, Gesetz«) die Bedeutungslesung; Tsunenori ist einer, der »immer die Regeln befolgt«. Kurioserweise gibt es ein japanisches Wort shiki, das »vier Jahreszeiten« bedeutet. Es wird mit einem anderen Kanji als das Pseudonym  des Haikudichters geschrieben.
5  Japanischer Text bei www.cc.matsuyama-u.ac.jp/~shiki/kim/shikisummer.html; Deutsch von E.W.
 
 
© Eckehart Wiedemann; Sommergras 71/2005