- Udo Wenzel
- Gelöstes Haar. Eine Enthüllung.
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- Unser heutiges Bild von Japan und der japanischen Dichtung ist
ein komplexes Konstrukt aus Meinungen, Wunschbildern, Klischees und unterschiedlichen wissenschaftlichen Thesen, aus Fantasien und Fakten.
- Das Buch »Gelöstes Haar« von Toyotama
Tsuno, in den 60er Jahren erschienen im S. Fischer Verlag, wurde vor allem in den 80er und 90er Jahren auch innerhalb der Deutschen Haiku-Gesellschaft viel gelesen und als »authentische Stimme«
Japans wahrgenommen. Es enthält Kurzgedichte einer jungen Japanerin, die, so das Nachwort, 1896 auf Hokkaido geboren wurde und schließlich mit ihrem Mann nach Paris kam, wo sie an der
Tuberkulose im Alter von 32 Jahren starb.
- Der Autor dieses Nachworts, gleichzeitig
Herausgeber und Übersetzer der Gedichtesammlung, ist der deutsche Schriftsteller Manfred Hausmann (1898-1986). Er wird vor allem der ersten Generation der Nachkriegszeit noch bekannt sein als
Autor mit hohen humanistischen Idealen. Anfänglich von der Jugendbewegung beeinflusst, entwickelte sich Hausmann durch die Begegnung mit dem Theologen Karl Barth und seiner Auseinandersetzung
mit Kierkegaard gegen Ende der 30er Jahre zum christlichen Existenzialisten. Er galt neben Hermann Hesse als einer der großen Sinnstifter unter den Schriftstellern der jungen Bundesrepublik,
der in intensivem Austausch mit seinen Lesern stand. Neben zahlreichen Romanen, Erzählungen und Gedichten veröffentlichte er Übersetzungen und Nachdichtungen aus dem Hebräischen,
Griechischen, Chinesischen, von Eskimo-Liedern und aus dem Japanischen.
- Viele der Kurzgedichte von Toyotama
Tsuno, häufig Haiku und Tanka im freien Format, weisen erotischen Charakter auf und erinnern daher entfernt an einen frühen Gedichtband der japanischen Moderne: »Midaregami« (»Verworrenes
Haar«, veröffentlicht 1901) von Yosano Akiko (1878-1942). Die Schriftstellerin löste mit ihrem Erstlingswerk um die Jahrhundertwende im konservativ-patriarchalischen Japan einen Skandal aus.
Das Buch enthält nicht nur erotische Gedichte, die Dichterin verteidigt darin auch ihr moralisches Recht auf Ehebruch. Toyotama Tsunos Lyrik aber erreicht nicht die glasklare Schärfe von Akiko
Yosano, ihr Tonfall ist häufig wehmütig und manche Gedichte drohen ins Sentimentale abzugleiten.
- Ich ließ mir das bereits vergriffene
Buch aus dem Archiv der DHG zuschicken, weil ich auf der Suche nach einem Zitatnachweis für einen Artikel war. Schon die erste oberflächliche Lektüre löste Befremden aus. Da ich
Enthaltsamkeit von Reflexionen und eine starke Bildhaftigkeit für Haiku-spezifisch halte, war ich überrascht von der großen Anzahl von Sinngedichten.
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- Im Ungesagten
- das Unsagbare
- sagen.
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- So lautet das Gedicht, das gelegentlich zitiert wird als
Wesensbestimmung der Haiku-Dichtung – eine Art »Meta-Haiku«. Zweierlei weckte meine Skepsis. Es erschien mir ungewöhnlich, dass eine so junge Frau in ihren Gedichten »Weisheiten« veröffentlicht.
Nun gut, diese »Weisheiten« könnten Allgemeingut der japanischen Kultur sein und insofern wäre dazu eine eigene tiefe Einsicht, die der Reifung und langer schriftstellerischer Erfahrung
bedarf, nicht unbedingt notwendig. Aber mir waren bis zu diesem Zeitpunkt die Begriffe »das Ungesagte« und »das Unsagbare« nur aus der westlichen und nicht aus der japanischen Ästhetik
bekannt. Eine Recherche im Internet verstärkte mein Befremden. Auskünfte über die Japanerin waren nur auf deutschsprachigen Seiten zu finden, und diese lediglich im Zusammenhang mit dem Buch
»Gelöstes Haar«. Ich erkundigte mich bei der in Japan lebenden deutschstämmigen Direktorin von WHC German (der deutschen Sektion des World Haiku Club) Gabi Greve, die meine Frage den
Mitgliedern der japanischen Sektion vorlegte. Niemand kannte eine Toyotama Tsuno, auch in den einschlägigen japanischen Nachschlagewerken wird sie nicht erwähnt. Es gab lediglich den Verdacht,
aufgrund der Ähnlichkeiten von biografischen Daten und Werktitel könne es einen Zusammenhang mit Akiko Yosano und ihrem Buch »Midaregami« geben.
- Ich schrieb an den S. Fischer Verlag.
Man antwortete umgehend und ermöglichte mir den Kontakt zu dem bereits im Ruhestand befindlichen Lektor der zwanzigbändigen Werkausgabe von Manfred Hausmann. Von ihm erfuhr ich die für mich
überraschende Wahrheit: Toyotama Tsuno hat nie existiert. Sie ist ein Pseudonym von Manfred Hausmann. Dieser hatte das Geheimnis zwar seinem Lektor anvertraut, und so war es im Hause S. Fischer
bekannt, aber er wollte nicht, dass dies vor seinem Tod veröffentlicht wird, also wurde darüber Stillschweigen bewahrt.
- Das Motiv für Manfred Hausmanns
Kunstgriff war auch dem Lektor nicht bekannt, er verwies mich an dessen Tochter Bettina Hausmann, und nachdem der Fischer Verlag freundlicherweise noch einmal Briefträger spielte, erhielt ich
von ihr Antwort:
- »Ganz gewiß sind sämtliche
Gedichte in ›Gelöstes Haar‹ von meinem Vater verfaßt und zwar von ihm ganz allein und ohne jegliche Beeinflussung von irgend einer Seite.«
schrieb sie und auf meine Frage, ob Ihr Vater eine Einflussnahme durch die Gedichte von Akiko Yosano erwähnt habe: »Sie stehen in keinem Zusammenhang mit der von Ihnen genannten japanischen
Dichterin Akiko Yosano.«
- Sie habe den Namen auch nie von ihrem
Vater gehört. In der Literaturgeschichte sind weibliche Dichterinnen, die ein männliches Pseudonym wählten, um überhaupt veröffentlichen zu können, keine Seltenheit. Der umgekehrte Fall
– ein Mann, der sich als Frau maskiert – ist weit ungewöhnlicher. Was bewegte Manfred Hausmann? Seine Tochter stellt die Arbeit in einen größeren Zusammenhang:
- »Mein
Vater hat zeit seines Lebens immer wieder auch Gedichte geschrieben, die er von einer Frau gesagt sein läßt. Er konnte sich eben in die Seelen von Frauen besonders feinfühlig hineinversetzen.
Dafür war er Lyriker. Er gibt von ihm sehr männliche Gedichte, aber auch viele ganz weibliche. Die Spannweite seiner seelischen Schwingungen war außerordentlich groß. Unter seinen Gedichten,
die er von Frauen gesagt sein läßt, sind zum Beispiel: ›Das Mädchen‹, ›Abschied in Kopenhagen‹, ›Die Braut‹, dann auch ›Junge Frau‹, ›Geheimnis‹, alle in ›Jahre des
Lebens‹, dem Gedichtband von 1938, aber großenteils bereits in den 1920er Jahren entstanden. Später dann, 1969, ›Der golddurchwirkte Schleier‹, Gedichte nach dem Griechischen, – ebenso
einfühlsam in eine andere Zeit und in eine fremde Kultur; Gedichte, in denen im steten Wechsel eine Frau und ein Mann sich aussprechen und sich gegenseitig ansprechen. – Und so weiter bis zu
den späten Gedichten, in denen er auch wieder Frauen ihre Gedanken und Gefühle sagen läßt.«
- Vielleicht würde man durch eine Recherche im Deutschen
Literaturarchiv in Marbach, wo seine Tagebücher zur Einsichtnahme vorliegen, genaueres erfahren. Dies wäre sicher eine spannende und lohnenswerte Forschungsarbeit.
- Selbstverständlich ist eine fingierte Autorenschaft künstlerisch vollkommen legitim. Von einer Fälschung kann man nur sprechen,
wenn mit Hilfe der gewählten Maske Intentionen jenseits der Literatur verfolgt werden würden. Dies ist hier eindeutig nicht der Fall. Dennoch, auch dieses Buch hat Anteil an unserer Verwirrung
über den Charakter der japanischen Kurzlyrik. Nun, da bekannt ist, wer die »japanischen« Gedichte Toyotama Tsunos geschrieben hat, trägt es über seinen literarischen Genuss hinaus dazu bei,
unsere Zweifel wachzuhalten, gegenüber einem vereinfachten Bild von Japan und seiner Dichtung.
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- © Udo Wenzel; Sommergras 71/2005