Max Verhart
Das Wesen des Haiku wie westliche Haijin es sehen
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Ich erfuhr etwa 1980 aus einem Buch mit dem Titel Een jonge maan (Ein junger Mond) etwas über Haiku. Das Buch enthielt Übersetzungen vieler klassischer japanischer Haiku und eine langatmige Einführung über Ursprung, Entwicklung und Wesen des Phänomens.1 Da stand »ein Haiku besteht aus siebzehn Silben, üblicherweise fünf, sieben und fünf auf drei Zeilen verteilt, die im Prinzip einen Satz bilden, der in einem Atemzug gesprochen werden kann.« Aber da stand noch mehr: ein Haiku handelt von der Natur und enthält ein Jahreszeitenwort. Über den Charakter dieses Gedichts hieß es in dem Buch: »Haiku zeigt die Sicht des Künstlers auf die Dinge in diesem bestimmten Moment, wo sie, so wie sie miteinander sind, bedeutungsvoll werden und eine Stimmung erzeugen, die Raum und Zeit transzendiert.« Damit, so hieß es, kommt es zur Erfahrung von Einssein. Weiter lernte ich, dass Shinto and Zen sehr stark die Haltung der Japaner zum Leben bestimmen und deshalb auch teilweise den Charakter von Haiku.
Nicht viel später abonnierte ich die holländisch/flämische Haikuzeitschrift Vuursteen (Feuerstein). Diese neue Informationsquelle eröffnete mir nicht gerade neue Perspektiven, weil das, was ich darin fand, meistens von Een jonge maan und dessen Quellen beeinflusst war. Einige Beiträge betonten zum Beispiel die Bedeutung des sogenannten Haikumoments: eine direkte Erfahrung, die als sehr bedeutend erlebt wird, und die vorzugsweise im fünf-sieben-fünf-Schema festgehalten und weitergegeben wird.2
Aus diesen Quellen schloss ich, dass Haiku ein dreizeiliges Gedicht mit (etwa) 5, 7 und 5 Silben ist, das eine authentische Naturbeobachtung in direkter und einfacher Sprache beschreibt und zu einer tieferen Erkenntnis der Realität führt. So jagte ich nach den flüchtigen Haikumomenten und versuchte, sie in der vorgeschriebenen Form zu erhaschen.
Vuursteen stellte auch andere Sichtweisen vor, aber damals beachtete ich diese nicht. Da gab es zum Beispiel eine Analyse der 5-7-5-Gedichte des holländischen Dichters J. C. Schagen, der das 5-7-5-Format schon in den 1960er Jahren in Gedichten benutzte, die inhaltlich keine Haiku im damaligen Verständnis waren.3 Es gab auch eine Einführung über Haiku in Kanada, in der Gedichte vorgestellt wurden, die angeblich Haiku waren aber nicht siebzehnsilbig geschrieben waren und einige noch nicht mal dreizeilig!4 Und in der gleichen Ausgabe, in der zwei Artikel erschienen, die die Allgültigkeit des Haikumoments betonten, war auch ein Essay eines der Herausgeber, der genau das Gegenteil feststellte: »Dichtung ist nicht Beschreibung der Realität. Sie kreiert unsere eigene Realität. Das Haiku beschreibt nicht irgendetwas in der Natur. Es ist eine Möglichkeit auszuwählen, was wir über uns mitteilen wollen auf der Basis dessen, was wir sehen und was uns passiert5 Das war vielleicht so, wie in der Kirche zu fluchen. 1991 begann der Autor W. J. van der Molen mit der Herausgabe seiner eigenen Zeitschrift Kortheidshalve (Der Kürze wegen), mit einem viel liberaleren Verständnis von Haiku.
Diese Sicht der Dinge hat mich damals nicht bewusst beeinflusst. Aber im Rückblick weiß ich, dass ich trotzdem eine Entwicklung durchlaufen habe. Zum Beispiel bin ich zu der Einsicht gekommen: es ist nicht der Haikumoment, der einem Haiku voraus geht, auf den es ankommt, nur der Haikumoment, der in dem Gedicht geschaffen wird. Die einzig bedeutende Relevanz ist die des Gedichts selbst.
1995 lernte ich Kortheidshalve kennen. Dort wurden Haiku veröffentlicht, die voll und ganz die Anforderungen erfüllten, die ich kannte, aber auch Haiku in viel freieren Formen und Inhalten, deren Resonanz oft sogar stärker war als die der eher netten Naturgedichte, die ich bisher kannte – und selbst schrieb! Diese Sicht auf das Haiku war nicht entgegengesetzt oder alternativ sondern einfach breiter und beschleunigte zweifellos die Entwicklung die bei mir schon begonnen hatte.
Weitere Anstöße kamen 1999 aus Japan. Zuerst war im Juli das Internationale Symposium über das zeitgenössische Haiku in Tokyo. Und im September ein Internationaler Kongress über das Welthaiku in Matsuyama. Von beiden gab es Dokumente, in denen zu lesen war, dass Jahreszeitenwörter im weltweiten Haiku nicht unbedingt notwendig sind, dass die Form der verwendeten Sprache angemessen sein soll und dass der Inhalt nicht unabhängig ist vom kulturellen Kontext, in dem der Dichter schreibt. Das Tokyoter Manifest stellt weiter fest: »Im weltweiten Haiku sollte die Originalität des Dichters am wichtigsten genommen werden.«6 Und die Deklaration von Matsuyma führte mich zu der Folgerung, dass »sie Form und literarische Technik dem poetischen Ausdruck, der erreicht werden soll, unterordnet – und nicht umgekehrt.«7 Ich meine nicht, dass das allgemeingültige Ansichten in Japan sind, aber sie haben immerhin ihre Basis im Ursprungsland des Haiku.
Von da an orientierte ich mich mehr international. Ich las Haikuzeitschriften wie Frogpond, Modern Haiku, Woodpecker, K  und Ginyu, nahm an Haikugruppen im Internet teil und traf bei verschiedenen Anlässen Haikudichter aus allen möglichen Teilen der Welt.
Alle diese Einflüsse führten mich zu meiner heutigen Definition: ein Haiku ist eine minimale Wortkonstruktion mit dem Ziel, ein intensive Erkenntnis des Seins zu erzeugen.
Eines habe ich gelernt: jede Haikudefinition kann und wird diskutiert werden. Ich bin deshalb überzeugt, dass eine starre Definition unmöglich ist. Aber in der Vielzahl der Haiku der Gegenwart, zu denen wir Zugang haben, finden wir Gedichte, die uns wirklich berühren. Die Dichter, die sie geschrieben haben, müssen also eine Idee davon haben, was wirklich ein Haiku zu einem Haiku macht. Jeder hat wahrscheinlich seine eigene persönliche Vision, so wie ich meine habe.
Diese Visionen zu sammeln war natürlich keine neue Idee. Die amerikanische Zeitschrift Modern Haiku hat vor sechs Jahren elf kurze Definitionen veröffentlicht, was die befragten Autoren als ideales englischsprachiges Haiku ansahen.8
Eine von ihnen, A.C. Missias, veröffentlichte später in Frogpond eine Analyse dieser Definitionen und der, die die Haiku Society of America benutzt.9 Sie fand in diesen gesammelten Definitionen insgesamt dreizehn Charakteristika und zählte die sechs am häufigsten genannten Merkmale: 1. Kürze, 2. Reali-tätsbezogenheit, 3. Natur/Jahreszeit, 4. Augenblicksdauer, 5. Erkenntnis/Intuition und 6. Gedicht/Dichtung. »Keine Definition enthielt alle diese wichtigen Merkmale«, stellte Missias fest.
Ihr Versuch verstärkte ganz sicher meine Idee, dass Haiku keiner festen Vorschrift folgt, sondern dass Haikudichter ihrer eigenen Intuition und dichterischen Ästhetik folgen. Um das weiter zu erforschen, brauchte ich mehr persönliche Definitionen und vor allem nicht nur von Dichtern, die nur oder hauptsächlich englisch schreiben.
Deshalb nahm ich Kontakt zu Haikudichtern in der ganzen Welt auf, deren Werk nach meinem Verständnis echte Haikuqualität hat. Die meisten dieser Kontakte mussten auf englisch sein, weil das die lingua franca unserer Tage ist. Aber obwohl es viele Menschen verbindet, schafft es auch eine Barriere in der Korrespondenz mit guten Haikudichtern, die nicht oder nur beschränkt in der Lage sind, sich englisch auszudrücken. Deshalb ist vielleicht der englischsprachige Einfluss in dieser Studie überrepräsentiert.
Alle Dichter wurden mit einem Brief eingeladen, in dem ich meinen Plan erklärte und bat: »Sie würden mir einen großen Gefallen tun, wenn Sie an dieser Studie teilnehmen und mir Ihre persönliche Haikudefiniton in möglichst nicht mehr als 25 (höchstens 40) Wörtern schicken…« Fast alle Dichter/innen, mit denen ich Kontakt aufnahm, antworteten gern. Einschließlich einer Definition, die Erika Schwalm bei einem früheren Workshop beisteuerte, umfasst meine Untersuchung die Ansichten von 29 Dichtern aus 19 Ländern.
Bevor ich sie vorstelle, möchte ich noch einmal betonen, dass eine abschließende Haikudefinition unmöglich ist. Wie Cyril Childs in einem Kommentar über die kürzlich erfolgte Übernahme einer geänderten Haikudefinition durch die Haiku Society of America schrieb: »Es ist kritisch zu sehen, dass ›Haiku‹ ein flüchtiger Begriff ist – seine Bedeutung hat sich verändert und wird sich weiter verändern – und das macht es unwahrscheinlich, ja unmöglich, dass irgendeine Definition breite und dauerhafte Zustimmung findet..«10 Er vertritt weiter die Auffassung: »Nach einer Definition gefragt, wird jeder von uns einen etwas anderen Blickwinkel mit unterschiedlichen Schwerpunkten einbringen. Eine korrekte endgültige Definition kann es nicht geben. Ein Einzelner kann nicht recht und alle anderen unrecht haben
Auch einige der Dichter, die sich an meiner Studie beteiligt haben, meinten, dass es keine endgültige Definition geben kann. Martin Lucas hat dies sehr deutlich geschrieben: »Ich meine, dass es keine angemessene theoretische Formulierung für die Definition von Haiku gibt. Haiku wird nur von jedem Haiku, das geschrieben wird, definiert, sozusagen definiert jedes neue Haiku das Haiku.« In einem Kommentar zu seiner (Nicht-)Definition, dass nur Haiku Haiku definieren, fügt Lukas hinzu: »Das heißt … wenn mich jemand fragt, ›was ist Haiku?‹, kann die einzig sinnvolle Antwort etwa sein: ›das Licht auf dem Feld in der Ferne wo die Brachvögel fressen‹. Streng genommen kann man nicht einmal sagen, das ist ›ein Beispiel für ein Haiku‹. Tatsächlich ist es dasLichtaufdemFeldinderFernewodieBrachvögelfressen, und dem geben wir der Einfachheit halber das Etikett ›Haiku‹, wenn wir darüber sprechen.«
Denken Sie daran: immer wenn Sie ein Haiku schreiben, definieren Sie gerade das Haiku neu!
Als ich meine Einladung schrieb, dachte ich nicht daran, dass sich die Definitionen im Charakter unterscheiden könnten. Die meisten, die eingingen, sind deskriptiv, also so, wie ich es im Kopf hatte. Aber einige waren anders und ich legte zwei weitere Kategorien fest: intuitive Definitionen und symbolische. Natürlich gebe ich gerne zu, dass die Zuordnung zu der einen Kategorie oder der andern bisweilen willkürlich ist.
Ich habe zudem das Wort Definition sehr liberal gebraucht. Vielleicht ist der Begriff »Formel«, wie ihn Vasile Spinei bei seiner Darstellung gebrauchte, passender.
Deskriptive Definitionen
 
Achtzehn Beiträge finden sich in dieser Kategorie.
Vanessa Proctor aus Australien ist Mitherausgeberin von The Second Australian Haiku Anthology und beurteilt Haiku und Haibun für die Zeitschrift Yellow Moon:
Haiku ist eine prägnante poetische Form, die oft von einer Offenbarung oder der genauen Beobachtung der Natur inspiriert ist. Der »Haikumoment« drückt allgemeine menschliche Erfahrungen aus, die kulturelle Grenzen überwinden.
Rob Scott, auch aus Australien, lebte und arbeitete in Japan, Schweden und den Niederlanden bevor er wieder nach Hause kam. Er ist Gründungsmitglied der Australischen Haiku-Gesellschaft:
Ein kurzes Gedicht mit einer Natur- oder Jahreszeiterfahrung in seinem Kern, das einen scharf beobachteten Moment kristallisiert (nicht unbedingt intellektualisiert).
Dietmar Tauchner aus Österreich ist Herausgeber der deutschen World Haiku Review und arbeitet an der deutschen Webseite Haiku Heute mit:
Ein Haiku ist ein kurzes Gedicht, das meistens in konkreter, bildhafter Sprache eine Einsicht in das Wesen der Natur als solche und in die Natur des Menschen mit all seinen Erfindungen wiedergibt.
Ginka Biliarska aus Bulgarien ist Journalistin und Verlegerin, Präsidentin der bulgarischen Haiku-Gesellschaft und hat drei Haiku-Anthologien herausgegeben:
Haiku ist das Modell der absoluten Poesie. Ein Mono-Gedicht in 5-7-5 Silben mit sig-nifikanten Wörtern – einige davon Kigo, Hilfswörter und Pausen. Lakonischer Ausdruck von Eindrücken, die die Veränderung der Welt reflektieren.Ein Mono-Gedicht ist ein vollständiger, unteilbarer und monolithischer Vers.
George Swede: Mitbegründer von Haiku Canada (1977), veröffentlichte 14 Sammlungen von und über Haiku, gab drei Haiku-Anthologien heraus und ist Mitglied der Herausgeberkreises der alljährlich erscheinenden Red Moon Anthologie englischsprachiger Haiku:
Das Haiku ist ein Gedicht in der Länge eines Atemzuges, das einen Moment der Erkenntnis über das Geheimnis der Existenz beschreibt; es kombiniert zwei oder drei sinnliche Eindrücke, von denen eines immer aus der Natur kommt.
Georges Friedenkraft aus Frankreich schreibt seit 1967 Gedichte und seit 1983 Haiku, Gründungsmitglied der Association Française de Haïku:
Im Französischen, einer schwach betonten Sprache, erhöhen spezifische Stilmittel die Harmonie des 5-7-5 Versmaßes. Jeder Gegenstand kann eine Quelle der Inspiration sein, von existenziellen Gefühlen bis zu wilden surrealistischen Träumen!
Alain Kervern aus Frankreich, ehemaliger Co-Direktor der World Haiku Association, lehrt japanische Literatur und Kultur an der westbretonischen Universität. Ich zitiere seinen ganzen Text, von dem ich vor allem den letzten Satz für seine Definition halte (von mir hervorgehoben):
Die rasanten Veränderungen einiger menschlicher Realitäten und sogar unserer natürlichen Umgebung offenbaren einen fundamentalen Aspekt unseres modernen Lebensstils. Der weltweite, greifbare und unmittelbare Erfolg des Haiku ist der künstlerische Ausdruck dieses Phänomens, bei dem nur sofortige, zeitweise und provisorische Werte eine Rolle zu spielen scheinen. Mit dieser kurzen poetischen Form erzählen wir die ewig veränderliche Geschichte unserer Realität.
Martin Berner aus Deutschland war einer der Sprecher und Podiumsteilnehmer beim Internationalen Symposium über das zeitgenössische Haiku 1999 in Tokyo und ist jetzt Präsident der Deutschen Haiku-Gesellschaft:
Haiku ist ein in der Regel dreizeiliges Gedicht mit maximal 17 Silben, das nicht kommentiert oder interpretiert sondern direkt und anschaulich eine Situation beschreibt.
Ingrid Kunschke aus Deutschland schreibt Haiku auf deutsch, holländisch und englisch, war Mitglied einiger deutschen Haiku-Juries und ist Mitherausgeberin einer jährlichen deutschen Haiku-Anthologie:
Ein Haiku ist ein sehr dichtes kurzes Gedicht, das ein Bewußtsein von (dem Platz des Menschen in der) Zeit hervorruft, in dem es Aspekte der Welt auf konkrete, lebendige und liebevolle Weise zeigt.
David Cobb aus Großbritannien, Gründer der British Haiku Society 1990 und ihr Präsident von 1997 bis 2002 und 2005 Mitglied im Herausgeberkreis der jährlichen Anthologie von englischen Haiku bei Red Moon:
Haiku: ein Gedicht, das aus zwei nebeneinandergestellten Sätzen besteht, beide sehr präzise und auf natürliche Sprache achtend. Eine Komponente kann der Hintergrund für den anderen Satz sein; oder sie versorgt diesen Satz mit einem einzelnen konkreten Bild mit einem »korrelativen Ziel« (ein Ausdruck von T.S. Eliot). Die andere Komponente beschreibt ein gegenwärtiges Geschehen oder eine Situation entweder im Bereich der Natur oder im menschlichen Leben.
Angelee Deodhar aus Indien ist Augenärztin von Beruf und Augenöffnerin als Haijin; international sehr aktiv, sie hat Vorträge über Haiku und Ähnliches in England, Schottland, Kanada, USA, Deutschland, Japan und Rumänien gehalten:
Ein Haiku ist ein dreizeiliges japanisches Gedicht mit 17 Silben oder weniger, üblicherweise im Muster kurz-lang-kurz geschrieben und behandelt eine Naturerfahrung; es verbindet die Innenwelt des Dichters mit der äußeren und schafft eine Resonanz im Leser, die soziokulturelle und sprachliche Grenzen überwindet.
Wim Lofvers aus den Niederlanden, früher Präsident des Haiku Circle Netherlands, Herausgeber und Verleger der Haikuzeitschrift Woodpecker (1995-2002) und Herausgeber der sehr geschätzten Rettichserie, kleiner Haikubücher:
Haiku: die wahrhaftige Verkündung der Wirklichkeit, die mich umgibt und in der und von der ich lebe (so wie Sie und wir alle), und das im Umfang eines Atemzugs.
Ernest J. Berry aus Neuseeland war Werter in zwei internationalen Haikuwettbewerben, hat Haiku für Haikuwanderwege in Stein gehauen und ist Mitglied des Herausgeberstabs der jährlichen Red Moon Anthologie englischer Haiku:
Haiku: ein japanischer Vers, charakterisiert durch Kürze, Jahrezeiten-bezug und starken (nicht formulierten) Gefühlen einer intensiv erlebten, oft momenthaften Erfahrung.
Jasminka Nadaskic-Djordjevic aus Serbien ist Mitherausgeberin der Webseite Haiga on line and Aozora und hat fünf Bücher über Dichtung geschrieben:
Haiku ist für mich ein purer Naturmoment. Ich versuche, unsichtbar zu sein. Ich möchte diesen einzigartigen Moment nicht stören. 17 Silben sind nicht Vorschrift, nur das maximale Potenzial meiner Ausdrucksmöglichkeit. Die Sprache ist einfach und verständlich und sollte zwingend sein.
Kaj Falkman aus Schweden, früher Botschafter, schrieb fiktive und nichtfiktive Bücher und gab eine Anthologie japanischer Haiku auf schwedisch und eine Anthologie schwedischer Haiku auf schwedisch und japanisch heraus, jetzt ist er Präsident der Schwedischen Haikugesellschaft:
Haiku ist ein kurzes Gedicht, das in konkreten Bildern das Wesen einer
Naturerfahrung oder menschlicher Begebenheiten vermittelt und verschiedene Bedeutungsebenen anspricht. Ursprünglich eine japanische Gedichtform, wird es heute weltweit in vielen Sprachen geschrieben. Traditionell bestehen Haiku aus 17 Silben, in der heutigen Praxis oft weniger und werden normalerweise dreizeilig geschrieben. Das Haiku versucht, eine Szene zu beschreiben, die eine Veränderung zeigt, wenn möglich mit unerwartetem Ende oder mit nachklingender dichterischer Atmosphäre.
Lee Gurga aus den USA war Präsident der Haiku Society of America, jetzt ist er Herausgeber von Modern Haiku, der am längsten bestehenden Zeitschrift mit und über Haiku auf englisch:
Haiku: ein kurzes Gedicht, das ein Natur- oder Jahreszeitenbild verwendet um einen intuitiven und emotionalen Komplex in einem Augenblick darzustellen.
Jim Kacian aus USA ist Mitbegründer der World Haiku Association und Inhaber der Red Moon Press (die unter anderem jährlich die Red Moon Anthologie englischsprachiger Haiku herausgibt) und gab früher Frogpond, die Zeitschrift der Haiku Society of America heraus:
Was mir als essentiell ins Auge fällt: 1) kurz (so lang wie es sein muss, so kurz wie es geht); 2) Wortverknüpfung (das ist letztlich literarische Kunst, und die Wörter eines Haiku sind nicht die Erfahrung, die es enthält; andererseits sind die Wörter des Haiku eine andere, neue Erfahrung); 3) Öffnung (zu etwas, wenn auch nicht immer zum Gleichen, aber immer weiter als die flache Beschreibung selbst es wäre).
John Stevenson aus USA war früher Präsident der Haiku Society of America und folgte Jim Kacian als Herausgeber von Frogpond, der internationalen Zeitschrift dieser Gesellschaft:
Ein paar ausgewählte Worte in demütiger Anerkennung des wirklichen Platzes menschlicher Wesen unter den Lebewesen und den Kräften, die das Leben möglich machen.
 
Schauen wir, wie oft wir die sechs Charakteristika finden, die A.C. Missias am häufigsten in den Definitionen fand, die ihr vorlagen.
Kürze wurde irgendwie in allen erwähnt: kurz, prägnant, knapp, 5-7-5 – all das betrachte ich als Synonyme. Am zweitmeisten genannt wurde Gedicht/Poesie: dreizehn mal. Aber hier wage ich die Unterstellung, dass für die, die es nicht erwähnt haben, die poetische Natur des Haiku so selbstverständlich ist, dass sie es für überflüssig hielten, es zu erwähnen. Auf Natur/Jahreszeiten wurde elfmal Bezug genommen, meist indem »Natur-« oder »Jahreszeitenbezug« explizit genannt wurde.
Auf Realität wurde fünfmal Bezug genommen, Hinweise wie die Veränderung der Welt (Biliarska) und eine Situation (Berner) inbegriffen. Es gab keine Überschneidungen zwischen diesen beiden Kategorien, wenigstens nicht explizit. Ich habe jedoch den Eindruck, dass da, wo »Realität« erwähnt wurde, »Natur« eingeschlossen ist. Das ergäbe eine Gesamtnennung von 16 mal »Natur«.
Aber kann »Natur« auch »Realität« beinhalten? Zum Beispiel ist in Cobbs »die Welt der Natur oder des menschlichen Lebens« »Natur« explizit gegenwärtig, aber könnte das »menschliche Leben« als »Realität« gezählt werden? Vielleicht, aber ich habe es nicht getan. Oder nehmen wir Swedes Definition. Er erwähnt »Natur«, nachdem er sich auf das »Geheimnis der Existenz« bezogen hat, ich bin geneigt, das als Bezug auf die Realität zu verstehen, habe es aber nicht so gezählt. Oder betrachten wir Tauchners Definition, der »Natur« also solche erwähnt, aber auch von »der Natur des Menschen« (die menschliches Schaffen einschließt) spricht. Wieder habe ich nur »Natur« gezählt und nicht »Realität«, obwohl ich glaube, dass sie mit einbezogen sein könnte. Deshalb wäre vielleicht, oder wahrscheinlich, die Zahl der Bezüge auf »Realität« im weiteren Sinn als nur Natur höher, wenn ich großzügiger gewesen wäre.
Nur zwei Autoren erwähnen weder »Natur« noch »Realität«. Aber dazu komme ich später.
Erkenntnis als essentieller Aspekt von Haiku wird in neun Definitionen erwähnt. Das schließt Offenbarung (Proctor), Bewusstsein (Kunschke), Verbundenheit (…) der inneren Welt mit der äußeren (Deodhar), Bedeutungsebenen (Falkman), intuitiver (…) Komplex (Gurga), Öffnung (Kacian) and Erkenntnis (Stevenson) ein. Und in einem Kommentar seiner Definition erklärt Scott, dass die Wiedergabe der wahrgenommenen Bedeutung eines Ereignisses in einem Haiku das Benutzen dieser Erkenntnis ist. Nun, das hätte zehn Zähler ergeben, wenn er das in seiner Definition deutlicher gemacht hätte. Vielleicht hätte man Friedenkrafts existentielle Gefühle hier auch mit einreihen können, aber ich tat es nicht.
Am wenigsten erwähnt von den Kategorien, die A.C. Missias herausfand, ist die Augenblicksdauer. Ich fand sie nur in fünf dieser Definitionen. Aber ich habe auch Ausdrücke gefunden, die vielleicht gerade das Gegenteil sind. Wenn zum Beispiel Biliarska die Veränderung der Welt erwähnt, glaube ich nicht, dass sie von einem Moment spricht, eher vom Vergehen der Zeit und der Veränderlichkeit der Dinge – panta rei, alles fließt. Oder wie es Kervern in seiner Definition sagt: die ewig veränderliche Geschichte unserer Realität. Falkman teilt diese Sicht, wenn er feststellt, dass »Haiku versucht, eine Szene zu beschreiben, die eine Veränderung zeigt
So weit zu den Charakteristika, die Missias als die häufigsten herausdestillierte. Aber was ist noch in den gesammelten Definitionen, das von diesen Kategorien nicht erfasst wird?
Haiku drückt, wie Proctor sagt, »allgemein menschliche Erfahrung aus, die kulturelle Grenzen überwindet«. Das wird in Deodhars »Resonanz im Leser, die soziokulturelle und sprachliche Grenzen überwindet« gespiegelt oder findet hier sein Echo. Ich verstehe das so, dass Haiku mit existenziellen und emotionalen Erfahrungen verbunden ist, die allen gemeinsam sind, ohne Ansehen der Nation, Sprache, Kultur, Religion, Volkszugehörigkeit, politischer Orientierung – oder welche Unterscheidungen man auch immer machen kann. Jedes Menschenblut ist einfach rot.
Dieses Charakteristikum des Haiku wird in den anderen Definitionen nicht so deutlich ausgedrückt, aber bei einigen fühle ich es mitschwingen. Wenn zum Beispiel Tauchner von einer Einsicht in die Natur des Menschen, wenn Swede vom Geheimnis der Existenz spricht oder in Friedenkrafts existenziellen Gefühlen. Ich will diesen Aspekt existenziellen Widerhall nennen. Das heißt nicht, dass damit aktuell erlebte Erfahrungen gemeint sind, sondern Erfahrungen, auf die wir uns auch beziehen können, die im Leser mitschwingen. Das Haiku ist nicht die Erfahrung, die es enthält, sondern eine andere, neue, wie Kacian meinte; aber, möchte ich hinzufügen, eine, in der die eigene Erfahrung des Lesers mitschwingt. Existenzieller Widerhall, meine ich, ist so etwas wie der erleuchtende Aspekt des Haiku, von dem in einigen anderen Definitionen gesprochen wird.
Einige Definitionen enthalten Bemerkungen zur Sprache. Haiku verlangt eher konkret, bildhafte Sprache als abstrakte Ausdrücke, sagt Tauchner. Das schließt nach meinem Gefühl aus, dass philosophische Betrachtungen und Verallgemeinerungen im Haiku nicht ausgedrückt werden sollten (was nicht ausschließt, dass solche Gedanken mit dem Haiku zum Ausdruck gebracht werden können). Berners Ansicht, dass Haiku Dinge nicht interpretieren oder kommentieren, drückt vielleicht eine ähnliche Einstellung aus. So auch Scotts Feststellung, dass Haiku eher kristallisieren als intellektualisieren.
Cobbs Betrachtung über Sätze … auf eine natürliche Sprache achtend und Nadaskic-Djordjevics Feststellung, dass die Sprache einfach und verständlich ist – beides wird wohl mit diesem Aspekt von Haiku zusammenhängen, den ich nicht interpretierende Sprache nennen möchte.
Jetzt eine Spekulation über die Beziehung zwischen existenziellem Widerhall und nichtinterpretierender Sprache: ein Haiku sollte keine existenziellen Betrachtungen anstellen (die abstrakte Begriffe erfordern) sondern einen existenziellen Widerhall hervorrufen. Berrys nicht formulierte Gefühle beziehen sich vielleicht auf den selben Kern. Der bekannte Ausdruck für diese Beziehung zwischen existenziellem Widerhall und nicht interpretierender Sprache ist: zeigen, nicht sagen!
Ein anderer Gedanke, den wir in zwei Definitionen formuliert finden, ist die Beziehung zwischen Natur und menschlicher Natur, so bei Tauchner und der Innen- und äußeren Welt, wie Deodhar schreibt. Der gleiche Gedanke wird wahrscheinlich auch in den Definitionen von Lofvers (die Wirklichkeit, die mich umgibt und in der und von der ich lebe (so wie Sie und wir alle)) und Gurga (einen intuitiven und emotionalen Komplex) und bei anderen berührt. Aber diese Echos sind zumindest für mich zu schwach, um weiter darauf einzugehen.
Ein Aspekt der literarischen Technik findet sich in Swedes Definition, wenn er sagt, dass das Haiku zwei oder drei sinnliche Eindrücke verbindet. Cobb spricht von einer ähnlichen Anforderung: zwei nebeneinandergestellte Sätze, was er dann noch weiter ausführt. Ein Element, das sich in drei Definitionen findet, ist der japanische Ursprung des Haiku.
Nun noch einmal zu zwei Dichtern, die weder Natur noch Wirklichkeit erwähnen. Friedenkraft stellt fest: jeder Gegenstand kann eine Quelle der Inspiration sein, von existenziellen Gefühlen bis zu wilden surrealistischen Träumen. Natürlich schließt das Natur und Wirklichkeit als Gegenstand im Haiku überhaupt nicht aus, er erweitert nur den Bereich der zulässigen Themen auf alles. Kacian sagt noch nicht einmal explizit etwas über Themen, stellt aber als wichtig fest, dass Haiku eine Öffnung schafft zu etwas, wenn auch nicht immer zum Gleichen, aber immer weiter als die flache Beschreibung selbst es wäre.
Ich neige stark dazu, diese Idee mit dem existenziellen Widerhall, der uns vorhin begegnet ist, und mit dem Erkenntnischarakter von Haiku zu verbinden. Existenzieller Widerhall kann auch die Basis dafür sein, dass Friedenkraft alles als Inspirationsquelle für Haiku zulässt. Das passt jedenfalls zu der Bemerkung von Kacian, dass die Wörter des Haiku eine andere, neue Erfahrung sind. Und, möchte ich hinzufügen, die einzige Erfahrung, die für den Leser zählt. Oder anders ausgedrückt: ein Haiku, auf das sich ein Leser beziehen kann, muss nicht notwendigerweise eine Erfahrung wieder entstehen lassen, aber es schafft mit Sicherheit eine, was auch immer die Eingebung des Autors war.
 
 
Intuitive Definitionen
 
Intuitive Definitionen sind solche, die ich für weniger objektiv halte als die beschriebenen, aber nicht für so subjektiv wie die symbolischen. Man kann darüber diskutieren, ob nicht einige dieser Definitionen besser in die erste oder die nächste Abteilung hätten aufgenommen werden sollen. In dieser Abteilung habe ich acht Definitionen.
Boris Nazansky aus Kroatien ist Schriftsteller und Journalist, Mitglied der Gesellschaft kroatischer Haikudichter und Mitherausgeber der zweisprachigen (kroatisch/englischen), halbjährlich erscheinenden Zeitschrift Haiku und Herausgeber des Haikukalenders 2004, der in Ludbreg erschien:
Haiku ist ein flüchtiger Moment, der als die Ewigkeit des Moments festgehalten wird.
Und noch eine: Haiku ist ein literarisches Bonsai. Aber das ist eine symbolische Definition.
Erika Schwalm aus Deutschland war Mitgründerin und treibende Kraft des Frankfurter Haiku-Kreises, prominentes Mitglied der Deutschen Haiku-Gesellschaft und bis zu ihren letzten Tagen international sehr aktiv, wie ich selber miterlebt habe.
Das Wesen im Haiku ist für mich der flüchtige Moment der Beobachtung, des Erlebens, dem Fluss der daraus geborenen Gedanken. Mit dem Haiku lerne ich, meine Inspirationen zu entdecken, in dem ich aus meinem Inneren heraustrete und mich mit dem Wort einlasse, daraus etwas überraschendes Neues komponiere und so das Potential meiner Kreativität ausschöpfe.
Klaus-Dieter Wirth aus Deutschland ist ein Sprachzauberer (der Ausdruck ist von mir) mit einer Vorliebe für Dichtung. Er ist in den Haikugesellschaften von Deutschland, Großbritannien, Frankreich, Belgien/Niederlande und den USA aktiv.
Haiku ist eine (neue) Art, unsere Umwelt wahrzunehmen, wobei wir selbst lediglich ein Bestandteil wie jeder andere des Universums sind. Die unmittelbare Zuwendung zu unserer Außenwelt geschieht daher unvoreingenommen, hellwach, aufnahmebereit, dankbar. Haiku ist Dichtung, Lebens-Erfahrung und Elixier zugleich, da es die Begegnung, als Augenblickserlebnis dennoch begreif- und nachvollziehbar, mit dem ermöglicht, was zeitlos gültig bleibt.
Vasile Spinei aus Moldavien ist Schriftsteller und Journalist, Mitglied der Haikugesellschaft von Konstanza (Rumänien) und hat acht Haikubücher veröffentlicht, die meisten zweisprachig (rumänisch/englisch):
Meine Haikuformel: Die vier Jahreszeiten mit dem Blitzflug von Intuition und Bewusstheit verschmolzen, dazu Gefühl und Vorahnung.
Ewa Tomaszewska aus Polen hat die Anthology of Canadian Haiku übersetzt (1993), die Anthologie polnischer Haiku herausgegeben (2001) und war Übersetzerin und Herausgeberin der ersten polnischen Anthologie europäischer Haiku (2005):
Was Haiku ist? Für mich ein Weg in drei Schritten. Der erste ist die Befreiung von aller Angst, der zweite meditative Ernüchterung, der dritte die Rückkehr zur eigenen Identität. Das Ziel ist, aus der Leere herauszukommen…
Ion Codrescu aus Rumänien, Haikudichter und Haigamaler, gründete die internationalen Haikuzeitschriften Albatross und Hermitage, letztere gibt er immer noch heraus, und präsentierte seine Ansichten, Gedichte und Bilder in vielen Ländern:
Ein Haiku ist meine Antwort auf die Welt, die mich unablässig mit ihren ewig brüchigen, flüchtigen Blicken, mit Augenblicken voller Geheimnis, Schönheit und Vielfalt staunen lässt, in Gestalt eines winzigen Gedichts mit direkten Bildern.
Zinovy Vayman aus Russland, der jetzt in den USA lebt, schreibt auf russisch, hebräisch und englisch:
Haiku ist ein einzigartiges kurzes Gedicht, geboren aus einer Beobachtung, die etwas anstößt und nur durch die höchstpersönliche gestalterische Fähigkeit des Dichters gefiltert
Fay Aoagi aus den USA spricht fließend englisch und japanisch, schreibt Haiku in beiden Sprachen, ist Mitglied in Haikuorganisationen in Amerika und Japan und steht so in zwei Traditionen.
Für mich ist Haiku die am besten geeignete Dichtform um auszudrücken, wie ich lebe und fühle. Haiku ist ein Medium für Tiefe und Aussagekraft. Das einzige Prinzip, dem ich mich unterwerfe wenn ich Haiku schreibe ist: »Zeigen, nicht sagen.«
 
In diesen Definitionen wurde Kürze zweimal erwähnt. Wirklichkeit fand ich, denke ich, in vieren; wenn wir Schwalms Beobachtung, Wirths Umwelt, Codrescus Welt und Vaymans Beobachtung, die etwas anstößt als Bezug auf Wirklichkeit nehmen. Natur/Jahreszeiten nannte nur Spinei.
Augenblick erwähnen nur Nazansky und Schwalm, es ist vielleicht in Vaymans Beobachtung, die etwas anstößt enthalten. Auf Erkenntnis wird meiner Meinung nach in sechs Definitionen Bezug genommen, allerdings nicht mit diesem Wort. Ich meine, es ist in Ausdrücken wie Ewigkeit des Augenblicks (Nazansky), meine Inspirationen (…) entdecken (Schwalm), »was zeitlos gültig bleibt« (Wirth), Intuition und Bewusstheit (Spinei), meditative Ernüchterung (Tomaszewska) und ewig flüchtigen Brüchen (Codrescu) enthalten. Gedicht/Dichtung ist dreimal genannt.
Schwalms, Tomaszewskas and Aoygis Definitionen beschäftigen sich vor allem mit der Beziehung zwischen Dichter/in und Haku, zu einem gewissen Grad auch die von Codrescu. Aoyagi sagt nur, dass Haiku die passendste Gedichtform für sie ist und ein Medium für Tiefe und Aussagekraft. Von wem oder was? Das sagt sie nicht– wenigstens nicht in dieser Definition. »Ich kümmere mich nicht um die Definition von Haiku. Ich schreibe, wie es mir gefällt!«, erklärte sie in dem Kommentar, den sie ihrer Definition beifügte. Aoyagi ist nebenbei in dieser Untersuchung die einzige, die das Prinzip Zeigen, nicht sagen erwähnt, das ich eher implizit in anderen Definitionen gefunden habe.
Schwalm reflektiert darüber, wie Haiku ihr geholfen haben, ihre eigenen Inspirationen zu finden. Das erinnert mich ganz stark an die Verbindung zwischen äußerer und innerer Welt, auf die auch in einigen der deskriptiven Definitionen hingewiesen wurde. Ähnlich beschreibt Codrescu Haiku als seine Antwort auf die Welt.
Noch persönlicher ist Tomaszewska, die von der Rückkehr zur eigenen Identität spricht und aus der Leere herauszukommen als Ziel des Haiku (oder des Haikuschreibens) nennt. Ich gebe zu, dass mich das verwirrt, aber ich denke, sie will sagen: tat twam asi (das bist du) – die brahmanische Bedeutung des Selbst, atman, und die allumfassende Wirklichkeit, die Weltseele Brahman, die nicht zweigeteilt sondern eins ist, adwaita. Das letzte Ziel von atman ist, nicht mehr von seiner wahren Natur und Identität getrennt zu sein, sondern in Brahman zurückzukehren. Was natürlich die innere und äußere Welt wieder sehr stark miteinander verbindet!
Aber, wenn wir auf dieser Spur sind, meint Wirth das nicht auch, wenn er uns als Bestandteil des Universums sieht? Und wenn er Haiku als »Begegnung … mit dem … was zeitlos gültig bleibt« beschreibt, ist das nicht das Treffen von atman und Brahman? (Das Wort atman hat übrigens etymologisch die gleiche Wurzel wie der deutsche Atem und atmen).
Auch Nazanskys flüchtiger Moment, der als die Ewigkeit des Moments festgehalten wird und Spineis Jahreszeiten, mit dem Blitzflug von Intuition und Bewusstheit verschmolzen, dazu Gefühl und Vorahnung erscheinen mir als Bezug auf Augenblicke von außerordentlicher existenzieller Bewusstheit.
Vayman traut sich nicht, irgendetwas davon zu sagen. Da ist eine, wie er es nennt Beobachtung, die etwas anstößt, die von dem Dichter als herausgeberischem Fachmann zu ein paar Worten wird. Der Rest, ob Vayman das sagt oder nicht, ist jenseits der Worte. Wollen wir das die Lucas´sche Position nennen.
 
 
Symbolistische Definitionen
 
Nazanskys Haiku ist ein literarischer Bonsai wurde schon zitiert. Es gibt noch drei andere. Oder vier, weil Alenka Zorman eine eigene anbietet und eine, die nicht von ihr ist.
Vladimir Devidé aus Kroatien war für die Einführung des Haiku in Kroatien, vielleicht im ganzen ehemaligen Jugoslawien, von ausschlaggebender Bedeutung. Er veröffentliche Bücher über Japanologie und literarische Werke einschließlich Sammlungen seiner Haiku auf kroatisch und englisch und Haibun auf kroatisch, englisch und deutsch:
Ein Haiku ist die (einzig richtige) Antwort auf das folgende Zen-Koan: Du kannst deine Erfahrung wahrscheinlich nicht in Worte fassen und musst genau das tun. Also; sprich, sprich!
Martin Lucas aus Großbitannien war Mitherausgeber der wichtigen Anthologien The Iron Book of British Haiku (1998) and The New Haiku (2002), er gibt seit 1996 die Haikuzeitschrift Presence heraus und ist derzeit Präsident der British Haiku Society.
Haiku wird nur von jedem Haiku, das geschrieben wird, definiert, sozusagen definiert jedes neue Haiku das Haiku (…) Das Problem ist: wenn wir darüber sprechen, halten wir fälschlicherweise das Etikett für das Ding, deshalb meinen wir, es sei sinnvoll über »Haiku« allgemein zu sprechen, wo doch der einzig sinnvolle Gegenstand das Licht-auf-dem-Feld-in-der Ferne-wo-die-Brachvögel-fressen ist oder mitten-im-winter-ich-radle-zum-untergehenden-Mond, oder … benennen Sie es!
Alenka Zorman aus Slowenien ist Präsidentin des Haiku Club von Slowenien, Herausgeberin seiner Zeitschrift Letni casi (Jahreszeiten) und Mitherausgeber von Aozora (der inzwischen nicht mehr aktiven Webseite on Südosteuropa) und der Webseite Lishanu:
Ein kurzes Rendezvous
mit dem Duft des Parfüms
»Ewigkeit«
 
Ich schaute wieder nach den sechs Hauptcharakteristika, die Missias herausfand. In diesen drei habe ich sie kaum gefunden. Das einzige leicht zu identifizierende ist Kürze, die Zorman nennt. Wirklichkeit mag in der einen oder anderen oder in allen eingeschlossen sein, aber das ist zu implizit um es zu zählen.
Ich glaube, dass Erkenntnis im Kern in allen drei steckt. Haiku als Antwort auf ein Koan zu definieren, wie es Devidé macht, soll sicher heißen, dass es etwas jenseits des Wissens ist, das Erkenntnis verlangt. Lucas macht genau das, was Devidé sagt: die Antwort auf das Koan mit Haikuschreiben geben.
Soweit ich es verstehe sagen sie, dass Haiku sich jenseits jeder Definition befindet. Das ist auch der Punkt in der Definition, die Zorman von Borut Zupancic, auch aus Slowenien mitbrachte, der Haiku als »das zum Schweigen bringende Sprechen des Schweigens« definierte.
Zorman selbst gibt ihre Definition verkleidet in die kurz-lang-kurz Erscheinungsform vieler Haiku, nachdem sie meine eigene Definition, die ich bei der Anfrage vorlegte, freundlich würdigte. Ein kurzes Rendezvous / mit dem Duft des Parfüms / »Ewigkeit« / suggeriert mir wieder außerordentliche existenzielle Bewusstheit. Oder Erleuchtung.
Nachdem wir alle neunundzwanzig Definitionen angesehen haben, kann einfach durch zählen festgestellt werden, dass die Mehrzahl der befragten Haikudichter/innen zum Ausdruck bringt, dass Haiku eine kurze (20) Gedichtform (15) ist, die sich mit Erkenntnis (19) befasst. Zahlenmäßig weniger Dichter sagen, dass ein Haiku seinen Grund im Augenblick hat (7), auf einem Natur/Jahreszeitenerlebnis beruht (12) oder allgemein auf der Wirklichkeit (9). Übrigens sieht es so aus, dass drei andere einem der Merkmale, dem Haikumoment, widersprechen. Sie betonen, dass Haiku die veränderliche Natur der Dinge reflektieren.
Da ich die sechs Charakteristika der früheren Studie von A.C. Missias entnommen habe, ist es logisch, dass sie alle hier zu finden sind. Aber wofür es auch immer gut sein mag, es sollte festgehalten werden, dass Missias alle in wenigstens der Hälfte der zwölf Definitionen fand, die ihr zur Verfügung standen, wohingegen ich nur drei in wenigstens der Hälfte der von mir gesammelten Definitionen fand. Keine Sammlung beruht auf einer zufälligen Auswahl, deshalb sollten wir mit Schlussfolgerungen vorsichtig sein. Es sieht aber doch so aus, dass nach Auffassung westlicher Haikudichter der Haikumoment, Natur/Jahreszeiten und Wirklichkeit weniger wichtig sind als Kürze, Dichtung und Erkenntnis. Aber sicherlich finden viele, wenn nicht die meisten Haikudichter die Quelle und Inspiration für ihre Haiku in Momenten, die sie in der Natur oder der Wirklichkeit im weiteren Sinn erleben.
Außer diesen sechs Charakteristika beziehen sich einige Dichter auch noch auf literarische Techniken, andere auf eine persönliche Beziehung zu diesem literarischen Phänomen, einige verweisen auf das was ich existenziellen Widerhall nenne, andere wiederum betonen, dass Haiku nicht interpretierende Sprache verwenden. Und das ist keine endgültige Liste aller Aspekte, die ich in diesen Definitionen fand. Es muss betont werden, dass jede/r Dichter/in in der Begrenzung einer kurzen Definition einfach die Punkte betont, die er oder sie für die wichtigsten halten. Oder mit anderen Worten: die Unterschiede in den Definitionen kann man nur als Unterschiede der Betonung bestimmter Aspekte werten, wie Cyril Childs schon vermutete, nicht als (fundamentale) Unterschiede der Sichtweise oder Einstellung. Selbst wenn es in einem gewissen Maß Unterschiede in der Einstellung gibt, glaube ich, dass im allgemeinen die meisten dieser Dichter anerkennen, dass von ihnen nicht genannte aber von anderen eingebrachte Aspekte auch ihre Bedeutung haben.
Ich würde gerne etwas wiederholen, was A.C. Missias 2000 in ihrer Studie schrieb, dass es »in der Gesamtzahl der Haiku Gedichte gibt, die mehr oder weniger typisch für das ganze Genre sind«. Anders gesagt: ein Haiku, das das eine oder andere akzeptierte Charakteristikum nicht hat, kann und wird von denen als Haiku erkannt werden, die ein Verständnis für das Genre entwickelt haben.
Nachdem ich einige Haikucharakteristika identifiziert habe, möchte ich gerne unterscheiden zwischen objektiven und subjektiven Charakteristika. Objektive sind natürlich von mehr oder weniger exakter Natur, Kürze ist das augenscheinlichste Beispiel, aber Juxtaposition (Nebeneinanderstellung) als literarische Technik, nicht interpretierende Sprache und Bezüge auf Natur oder Wirklichkeit passen auch in diese Kategorie. Subjektive Charakteristika sind nicht so einfach zu fassen. Zum Beispiel: was genau ist Dichtung? Und speziell im Fall von Haiku: was genau ist diese Erkenntnis, über die wir als einen Aspekt von Haiku sprechen?
Hier ist eine Theorie, die ich über die Beziehung zwischen objektiven und subjektiven Aspekten von Haiku habe: die objektiven Charakteristika dienen dazu, Erkenntnis auf poetische Weise zu kommunizieren. Die Unterscheidung zwischen objektiven und subjektiven Charakteristika ist die Unterscheidung zwischen Mitteln und Zielen. Und mich interessieren am meisten die Ziele. Speziell »Erkenntnis«.
Also noch mal, was ist diese Erkenntnis, über die wir sprechen? Spielen Formulierungen wie Spineis Blitzflug von Intuition und Bewusstheit auf sie an, Nazanskys Ewigkeit des Moments, Proctors allgemein menschliche Erfahrung, Swedes Geheimnis der Existenz, Kunschkes Bewußtsein von (dem Platz des Menschen in der) Zeit, Codrescus ewig brüchige, flüchtige Blicke, und andere? Ich habe vermutet, dass alle diese und ähnliche Ausdrücke der gleichen Idee, die ich existenziellen Widerhall nannte (was vielleicht weniger eine Bezeichnung als eine Alternative für Erkenntnis ist), stammen oder auf sie verweisen. Aber ich denke, dass Deodhars die Innenwelt des Dichters mit der außen zu verbinden und ähnliche Formulierungen bei Tauchner, Lofvers and Gurga in der gleichen oder einer vergleichbaren Klasse sind. Meine wildesten Spekulationen entstanden aus Tomaszewskas Rückkehr zur eigenen Identität und die Leere verlassen, in denen ich eine brahmanische Sicht der Realität erkannte (ob sie selbst sich dessen bewusst ist oder nicht). Das ist natürlich eine Interpretation, die ich auch in Wirths Definition fand.
Natürlich kann niemand einen abstrakten Gedanken verstehen, wenn er nicht schon irgendwie in ihm oder ihr präsent war. So entnehme ich vielleicht all diesen Definitionen, was ich in sie hineingelegt habe. Jedenfalls sind alle Bezeichnungen wie Erkenntnis, existenzieller Widerhall, Geheimnis der Existenz, Antwort auf ein Koan, Ewigkeit des Augenblicks, Öffnung und viele andere, die in diesen Definitionen formuliert wurden, nach meinem Verständnis nichts als Bezeichnungen für intuitive Auffassungen jenseits von Worten. Ja ich meine sogar, dass diese Bezeichnungen miteinander zusammenhängen oder gar im einen oder anderen Fall synonym sind. Also meine ich, dass der Kern dessen, was westliche Haikuschreiber für das Wesentliche im Haiku halten, ein Komplex miteinander zusammenhängender intuitiver Gedanken ist, der auf die Gestaltung von Wirklichkeit abzielt.
Verglichen mit dem, was ich zuerst über Haiku lernte, hat sich dieser Aspekt der Auffassung vom Haiku nicht sehr geändert. Wenn Een jonge maan Haiku als eine Stimmung, die Zeit und Raum überwindet charakterisiert, kommt mir diese Definition vor wie noch ein intuitiver Gedanke, der auf die Schaffung von Wirklichkeit abzielt. Hinweise auf vorgeschriebene Form, die Unverzichtbarkeit des Naturbezugs oder der authentische Haikumoment, der dem Haiku vorangehen muss, haben jedoch mehr und mehr an Bedeutung verloren.
Ich möchte noch eine Bemerkung machen. Ich halte alle Definitionen, die ich bekommen habe, für nichts mehr und nichts weniger als ein Zufallsbild dessen, was nach Meinung des Autors für das Haiku wichtig ist. Zu einem anderen Zeitpunkt könnte eine ganz andere Definition entstehen. Jim Kacian schrieb zum Beispiel, nachdem er seine Definition abgegeben hatte: Frag mich morgen noch einmal. Und während ich an diesem Vortrag arbeitete, sandte mir Ernest J. Berry innerhalb von vier Wochen zwei verschiedene Definitionen. (ich habe in der Studie nur die erste genommen). Darüber hinaus haben drei Dichter aus meinem »Podium« sich auch an der Sammlung beteiligt, die 2000 in Modern Haiku erschien: David Cobb, Lee Gurga und George Swede. Von denen hat nur Lee Gurga festgestellt, dass seine Definition in Modern Haiku noch gültig ist, die anderen zwei haben neue Texte geschickt. Die Ansicht eines Dichters darüber, was Haiku wirklich ist, entwickelt sich mit der Zeit. Oder vielleicht geht es auch nicht, oder nicht immer um Entwicklung, sondern einfach nur darum, das Gleiche aus einem anderen Blickwinkel zu betrachten. Oder das Haiku selbst entwickelt sich, weil ja jedes neue Haiku das Haiku neu definiert, wie Lucas vorgetragen hat.
Letztendlich trägt das alles natürlich nicht dazu bei Haiku wirklich zu verstehen und sicher auch nicht sie zu schätzen. In Anlehnung an Basho formuliert: lerne von Haiku über Haiku. Klingt so, als hätte ich Basho in Martin Lucas verwandelt, nicht?
Hier fällt mir ein, was Kurt Vonnegut in seiner Erzählung »Blaubart«11 eine seiner Figuren sagen lässt. In dieser fiktiven Autobiografie des fiktiven Künstlers Rabo Karabekian ist Malen eines der Hauptthemen, genauer: der abstrakte Expressionismus. Vonnegut führt in einer Szene einen Maler nur zu dem Zweck ein, die Frage zu beantworten: »Wie kann man ein gutes von einem schlechten Bild unterscheiden?« »Alles was du tun musst, mein Lieber,« sagt der fiktive Maler, »ist eine Million Bilder anschauen, und dann kannst du keinen Fehler mehr machen.« »Das ist wahr! Das ist wahr!« ruft Karabekian.
Und so ist es. Auch beim Haiku.
 
 
Anmerkungen:
1   J. van Tooren: Haiku – Een jonge maan. Amsterdam: Meulenhoff 1973.
2   For instance these two contributions in the same issue. 1. Marc Reynebeau: De beslotenheid van 17 lettergrepen. 2. Anonymous: Herfsthaiku van de Haagse kring. Vuursteen, spring 1984.
3   Karel Hellemans: Alle ding is teken. Vuursteen, autumn 1982.
4   Wanda Reumer: Haiku in Canada. Vuursteen, spring, summer and winter 1983.
5   W. J. van der Molen: De Dichter en het kind. Vuursteen, spring 1984.
6   Proceedings – The 1st International Contemporary Haiku Symposium. Tokyo 1999.
7   Max Verhart: De Verklaring van Matsuyama – Een Japanse visie op plaats en functie van haiku. Vuursteen, spring 2000.
8   Modern Haiku XXXI/3, fall 2000, p. 74-75.
9   A. C. Missias: Strugg for Definition. Frogpond XXIV/3, 2001, p. 53-63.
10  Cyril Childs: On Defining Haiku. Frogpond XXVIII/1, winter 2005.
11  Kurt Vonnegut: Bluebeard. London: Jonathan Cape 1988, p.156, (dt.: K.V., Blaubart. München: Goldmann 1991).