Rudolf Thiem
 
Möglichkeiten, Probleme und Grenzen beim Übertragen japanischer Haiku
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Heikel sind Übertragungen allemal, angefangen mit Vergleichen, die vielfach 'hinken', bis zu Übersetzungen aller Art. So scheinen mittelhochdeutsche Texte nur einfach umzusetzen in gegenwartssprachliche neuhochdeutsche Fassungen; ferne, fremde, dem Deutschen gar nicht verwandte Sprachen bringen andere Schwierigkeiten; und Gedichte gelten weithin als unübersetzbar - erst recht Haiku.
 
Wenn wir Texte übersetzen, dann bekommt das an sich einfache Verb 'übersetzen' schon einen tieferen Sinn, sobald wir spielerisch umdeutend den Hauptakzent des Wortes verschieben: jedes Übersetzen - im Normalsinn und mit Normalbetonung - bedeutet auch ein Überqueren von Sprachbarrieren; wir setzen über an ein anderes Ufer und bringen im schwankenden Boot das Faßbare, das Gewünschte zurück in das vertraute Gelände unserer Sprache, und das Abenteuer wird nur von Fall zu Fall gefahrenreicher oder risikoärmer...
 
Technisch-naturwissenschaftliche Texte lassen sich sachgebunden so weitgehend exakt übersetzen, daß computergesteuertes Übersetzen mindestens zu lesbar-verständlichen Ergebnissen führt. Lyrik dagegen, die wesenhaft an bildliches Sprechen gebunden ist, entzieht sich hartnäckig immer wieder den Versuchen, absolut identische und voll befriedigende Nachgestaltungen zu erreichen.
 
Die Herausforderung, gerade auch die knappste und dichteste Lyrikform des Haiku aus dem Japanischen in westlich-europäische Sprachform umzusetzen, wurde wiederholt aufgenommen und führte zu recht verschiedenen Resultaten; diese wären grundsätzlich-allgemein, theoretisch-poetologisch zu erörtern oder aber an konkreten Übertragungen desselben Textes nur zu werten.
 
Ohne hier alle Möglichkeiten erschöpfend darzulegen, wären jedoch 2-3 Hauptrichtungen mindestens anzusprechen, die im deutschen Raum erkennbar wurden. Wie angelsächsische Übersetzer aus der 5-7-5-Silbenform Vierzeiler mit und ohne Reim machten, vertritt der Ungar Gyula Illyés (vom übertragen chinesischer Gedichte kommend!) die Auffassung, "die dichterische Kraft der Muttersprache zu Hilfe rufen" zu müssen. Ähnlich suchte auch Paul Lüth, bei seinen Dreizeilern einen Reim in Anfangs- und Schlußzeile zu bringen, wobei er 'auffüllen' mußte und im Originaltext gar nicht angesprochene Elemente einbrachte - die Philologenregel "so nah am Originaltext wie möglich und nur so frei wie unbedingt nötig" bleibt dabei praktisch unbeachtet... Manfred Hausmann dagegen bemühte sich um eine angemessene Wiedergabe der Originale, ohne die vorgegebene Silbenzahl zu beachten; und Dieter Krusche reduziert die Silbenzahl noch weiter, vielleicht Higginsons Regel folgend, daß ein Atemzug als Grundmaß gelten müßte - hier fragt man sich, wie der japanische Sprachduktus in slawische Sprachen mit ihrer Fülle von Suffixen und Konsonanten tauglich wäre für ein Nachgestalten von Haiku-Texten; ein tschechischer Freund findet es einfacher, deutsche Haiku zu schreiben als solche in seiner Muttersprache...
 
Im Deutschen erwies sich die 5-7-5 Silbenform als nachvollziehbar, wie Gundert und Hammitzsch, Debon u.v.a. überzeugend zeigten. Reim und Rhythmus treten zurück, doch kommen dafür (vor allem bei deutschen Haiku Schreibern) mehrfach Assonanzen und Alliterationen zu einer (gewollten?) Bedeutung...
 
Das Gedicht (also auch das Haiku) als Einheit von Gehalt und Gestalt lebt noch nicht aus der bloßen Einhaltung der Silbenzahl, wo Bashô selbst nicht durchweg am 5-7-5-Schema blieb - das Gesagte kommt in den benutzten Wörtern, Wendungen und Bildern mit dem Gemeinten dazu, wobei uns Europäern nicht immer zugänglich wird, was Japanern in ein Haiku zu legen möglich ist: Jahreszeitenwörter, Anspielungen auf spezifisch Japanisches oder Zitate etwa entziehen sich oft einem Übersetzerzugriff und erfordern Kommentare, Fußnoten u.dgl., wie sie Dombrady, Berndt u.a. Japanologen anfügen und selbst einfache, unproblematische Haiku entfalten sich oft erst im Nachhall, in einer Art Meditation, daß etwas wie Satori geschieht, ein intuitives Erfassen jenseits des rein Rationalen...
 
Jede Übersetzung, Übertragung oder Wiedergabe eines dichterischen Textes bewegt sich zwischen einer notwendigen Interlinearversion und einer ( mehr oder weniger deutlich erkennbaren) Interpretation des fremdsprachlichen Originals; und solche stellen für uns schon althochdeutsche oder mittelhochdeutsche Texte ebenso dar, wie es plattdeutsche, mundartliche oder ähnlich unvertraute Idiome auch bedeuten. Von einer Interlinearversion (wörtlich: Zwischenzeilenübersetzung) können wir bei einem Haiku im engsten Wortsinn gar nicht sprechen; denn japanische Textausgaben drucken die Texte in einer fortlaufenden Zeile ab, daß wir allenfalls von einer Wort-zu-Wort-Übersetzung sprechen können, von einer wörtlichen Übersetzung - und dabei vermindern die grammatischen und Satzbau-Unterschiede meist schon die Lesbarkeit beträchtlich, d.h. Umstellungen werden schon in dieser Vorstufe nötig.
Da beim Haiku weder Reim noch Metrum erkennbar sind, sondern allenfalls lautmalende Wörter und Wendungen oder auch Assonanzen, werden wir hier freier gelassen als etwa beim Chinesischen, wo sich Endreime ähnlich leicht ergeben wie bei unseren englischen oder deutschen gereimten Gedichten (wir wissen, daß in einfachster Sehweise der Endreim wichtiger erscheint als das Metrum oder gar Alliterationen und bewußt gewählte Assonanzen wie z.B. Wind und Wetter, aber gerade..) Die Gestaltung zielt nun schon auf eine Anverwandlung oder gar Angleichung der Textvorgabe an die Möglichkeiten und Muster der Muttersprache ab, der Zielsprache; und hier gehen die gewählten Wege extrem weit auseinander: Englische Vierzeiler sehen wir oft - und stellen manchmal verblüfft fest, daß das Original ein Tanka oder ein Haiku war, also mit 5-7-5-7-7 und 5-7-5 Silben durchaus nicht dasselbe Versmodell, das damit einfach unterschlagen wird, d.h. dem Leser wird etwas Wesentliches vom Original vorenthalten!
Deutsche Haiku (und Tanka) Übertragungen verdeutlichen hier mehr schon in der optischen Anordnung in drei (bzw. fünf) Zeilen, so verschieden die Ansätze und Endgestaltungen auch werden können, vor allem wenn wir Gehalt und Stil oder Sprachebene mit‑berücksichtigen - wir müssen ja nicht unbedingt überall Noten verteilen bei den (grundsätzlich schon dankenswerten) Bemühungen um das Erschließen eines sonst ganz fremd bleibenden Kulturbereiches!
 
Dennoch erkennen wir 2-3 mögliche Gruppierungen in deutschen Haiku-Übertragungen:
 
(a)      die überwiegende Mehrzahl bemüht sich um die 5-7-5‑Silbenform;
(b)      einzelne Übersetzer liefern die drei Zeilen wie in lyrischer Prosa oder eben ohne Rücksicht auf die Silbenzahl in rhythmisch 
          metrischer Form (wie Hausmann) und einzelne (wie Lüth) versuchen mit einem umschließenden Reim den Gedichttext zu 
          verklammern und deutlicher als Gedicht auszuweisen; und Krusche etwa reduziert die Silbenzahl oft noch bis zur Skelettierung...
(c)      dagegen ergänzen manche durch (oft schon vorgegebene) Überschriften und/oder Kommentierungen, die oft notwendig. 
          (nicht nur hilfreich) für ein besseres Verstehen sind (z.B. Dombradys Übertragung von Bashôs "Oku no hosomichi" 
            (= Auf schmalen Pfaden durchs Hinterland).
 
Bevor wir zum Schluß einige Übertragungsbeispiele zusammenstellen, die beliebig zu ergänzen und zu erweitern wären, müssen wir auf die Probleme und Grenzen bei Haiku-Übertragungen hinweisen:
Die 5-7-5‑Silbenzahl läßt sich im Deutschen oft nur durch besonders sorgfältige Wortwahl erreichen und erfordert Wortverkürzungen oder Füllwörter, die zwar nicht stören, aber auch nichts wirklich sagen.
Problematisch wird oft die Wiedergabe von japanischen Pflanzen- oder Tiernamen, wenn die Inselnatur Japans die Entwicklung und/oder Erhaltung einer Sonderform bedingte, daß wir im Deutschen gar keine genaue Entsprechung verfügbar haben und z.B. 'hototogisu' nicht einfach unser Kuckuck ist, sondern 'cuculus policephalus' und Wiedergaben wie 'kleiner Kukkuck' oder 'Bergkuckuck' genauer wären.
Absolute Grenzen erreichen wir bei spezifisch japanischen Kulturelementen, von Kleidungsstücken oder architektonischen Besonderheiten angefangen bis zu religiösen Elementen und buddhistischen und/oder shintoistischen Traditionen, wo etwa zu einem Issa-Haiku eine mehrseitige Erklärung/Interpretation nötig wäre, um seinen Gebetscharakter (wenigstens einigermaßen) zu erschließen. Landschaft, Klima oder Geschichte sind und bleiben für Japaner anders erfahrbar und erlebbar, wie wohl Namen wie Königgrätz und Langemarck, Verdun und Dünkirchen, Coventry oder Stalingrad uns mehr 'sagen' als Hiraizumi, wozu Japaner vermutlich jede Erklärung empört abtun würden und an die Schlacht von Dannoura erinnert sind.
 
Beispiele von Bashô-Übertragungen:
 
A            Kareeda ni - karasu no tomaritari ya - aki no kure
Interlinearversion: Auf kahlem/dürrem Ast/Zweig ein Rabe/eine Krähe sitzt/hockt/ hat sich niedergesetzt des Herbstes Ende/Abenddämmern im Herbst
 
  P.Lüth:                      
Auf blattlosem Zweige
Hockt eine einsame Krähe.
Müde geht der Tag zur Neige. 
 
(5-7-5 nicht beachtet, dafür die Reimklammer der Z1 und Z3!)
 
W.Gundert:   
Auf den dürren Ast
hat sich ein Rabe niedergesetzt -
zu Herbstes Ende.
 
(Mittelzeile mehr als die 'klassischen' 7 Silben!)
 
P.Lüth(II): 
In des Herbstabends dämmrigem Zwielicht
Läßt ein Rabe sich nieder auf dürrem Ast.
Wer denkt da seines Lebens Neige nicht? 
 
(Nachd. fügt in Z3 eine von Bashô nicht gestellte Frage an!)
 
B            Natsugusa ya - tsuwamonodomo ga - yume no ato
Interlinearversion:           (Das) Sommergras/ (Die) Sommergräser! (viele) Krieger / Rest der Träume/ des Traums
P.Lüth:   
Weicher Rasen und grüne Bäume.
Wie vielen jungen Kriegern, Frühlingsgras,
Warst du der Sproß ihrer Träume? 
 
(Z1 des Reims wegen zugedichtet; aus Sommer wird Frühling; nötige Frage?)
 
W.Helwig:  
Oh Halme, sommerhoch gewachsen
Dort, wo Krieger winters träumten
Wünschenden Traum.
 
(Freie Übertragung mit unnötiger Erweiterung: winters/ wünschend - Alliteration?)
 
M.Hausmann:
Blühendes Gras auf dem alten Schlachtfeld, 
den Träumen entsprossen 
der toten Krieger.
 
(Ungebunden-genaue Übertragung, die die Ortsangabe Hiraizumi 'einarbeitet')
 
D.Krusche:  
Sommergras 
ist alles, was geblieben ist
vom Traum des Kriegers.
 
(Karg exakte Übersetzung/Interlinearversion, die den Plural in Z2 übergeht!)
 
Hammitsch /
 Gundert:
Sommerliches Gras -
Spur, von tapferer Recken
Traume geblieben!
 
G.Coudenhove: 
Sommergras im Wind
Letzte Spur des Lebenstraums
manchen Kriegermanns!
 
J.Ulenbrook:  
Das Sommergras, ach,
Ist von Kriegern nun
Der Rest der Träume...
 (Drei behutsam interpr. Übertr., ohne Lücken, ohne Zutaten!)
 
           
C          Furuike ya - kawazu tobikomu - mizu no oto
 
Interlinearversion:           (Ein) alter Teich/Weiher (oder: der alte Teich) Ein/der Frosch springt / (Das) Geräusch/(der) Ton des Wassers
P.Lüth: 
Ein stiller öder Teich, ein träumerisches Ried.
Da - plötzlich rauschts im Wasser irgendwo: -
Ein Frosch, der kleine Kreise zieht.
(Wegen des Reims unnötig ausmalende Nachdichtung: Zl wird mehr als verdoppelt,
Z2/3 ähnlich mit problemat. Bild in Z3)

 

D.Krusche: 
Der alte Teich.
Ein Frosch springt hinein -
das Geräusch des Wassers.
 
(Eher überkarg exakte Übers., die so kaum zum Klingen kommt)

 

M.Hausmann:
Ein uralter Weiher. 
Der Sprung eines Frosches
vertiefte das Schweigen.

(Z2/3 interpret. das Original, durchaus seinem Gehalt nach)

 

 

Hammitzsch/   
Gundert:
Da, der alte Teich
es hüpfte ein Frosch hinein,
das Wasser raunte.

(Formgerecht u.inhaltl./gehaltlich voll zutreffende Übertr.)

 
 
D          Tabi ni yande - yume wa kare no wo - kakemeguru
Interlinearversion:           Auf der Reise krank geworden (der/mein) Traum auf dürrem Feld läuft/irrt herum
D.Krusche:
Krank auf der Reise.
Meine Träume irren
übers verblühte Moor.
 
(Karge Übers., die in Z2/3 schon auch deutend zurechtlegt)

 

P.Lüth:  
Habe nun endlich das unstete Wandern satt.
Auf öder Heide jagt gehetzt ein Traum umher.
Vielleicht ist es mein Leben, das nie Ruhe hat.
 
(Problem. Wiederg. von Bashôs 'letztem Haiku': Z1 verbiegt die Aussage im Kern, indem sie die Zustandsbeschr. 
zu einer Unwillensäußerung umwandelt; Z2 erweitert die Kernauss.unnötig; 
Z3 fügt interpr. eine Erklärung an - wegen des Reims?)

 

M.Hausmann: 
Ich bin sehr krank geworden auf der Reise. 
Immer wieder sehe ich im Traume 
wie ich in der Einöde des Winters umherirre.
 
(Nicht formgeb. Wiederg., in Z2/3 erklärend erweiternd...)

 

 
J.Ulenbrook:   
Vom Wandern schwer krank:
Ein Traum, der dürre Heide
Im Kreise durchirrt...

 

 

H.Hammitzsch:   
Zu Ende das Wandern:
Mein Traum, auf dürrer Heide
huscht er umher.
(Beide Übertragungen entsprechen formal und inhaltlich/ gehaltlich dem Original.)
 
Die zitierten Übertragungen stammen aus den Büchern:
 
Gerolf Coudenhove (übertragen): Japanische Jahreszeiten (Manesse); G.S.Dombrady (Übertragung, Einführung, Annotationen): Bashô: Auf schmalen Pfaden durchs Hinterland (Dietrich); Wilhelm Gundert: Lyrik des Ostens (Hanser); Manfred Hausmann (übertragen): Liebe, Tod und Vollmondnächte (S.Fischer); Werner Helwig (Nachdichtungen): Klänge und Schatten (Claassen); Dietrich Krusche: Haiku - Bedingungen einer lyrischen Gattung (Thienemann); Paul Lüth (Umdichtungen): Frühling - Schwerter - Frauen (Neff); Jan Ulenbrook (übertragen): Haiku - Japanische Dreizeiler (Insel).