Rudolf Thiem
 
Zu Unterschieden zwischen Haiku und Senryû
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Wegen der gleichen Form bei uns in der Regel Dreizeiler mit 5-7-5 Silben - erscheinen Haiku und Senryû in Sammlungen und anderen Publikationen oft ohne weitere Unterscheidung bunt gemischt, zuweilen mit der als Hai-Sen bezeichneten Mischform. Doch sehen wir auch nach (z.T. problematischen) Setzungen in Definition und Kriterienliste so messerscharfe Trennlinien zwischen beiden Dreizeilerformen, daß die reiche Fülle der Produktionen etwa so klar und sicher gesondert wirkt - wie Urwaldparzellen, deren mühsam geschlagene Trennschneisen immer rasch wieder überwuchert sind. Zu einfach aber wäre es, wenn wir angesichts der Schwierigkeiten ganz darauf verzichten wollten, nach wesentlichen Unterschieden zwischen Haiku und Senryû zu suchen.
Wie erst mit und nach Shiki das (japanische) Haiku zum heutigen Namen und Begriff kam, obwohl Haiku schon vor Bashô entstanden waren, sind Senryû bereits vor Karai Hachiemon produziert worden und erhielten von dessen Dichternamen Senryû (= Flußweide) die bis heute übliche Bezeichnung. Ehe wir uns kurz der Frage nach Entwicklung und Wesen des Senryû zuwenden, sollten wir auch die Scheu, die Abwehrhaltung, ja die Geringschätzung in bezug auf das Senryû ansprechen, die viele Haiku-Freunde bewußt oder halb unbewußt an den Tag legen. Sehr Wichtiges dazu schrieb Jane Reichhold vor Jahren in dem nachlesenswerten Aufsatz Senryû kann ein schmutziges Wort sein (Vjsch. Jg. 4/Nr. 2, Mai 1991, S.7ff.) Wie aber begründet sich eine solche Haltung, die etwa in einem internen Bewertungspapier beim Senryû grundsätzlich von vornherein ausschloß, daß ein Senryû so gut wie ein Haiku sein könnte? Schlichtweg ein Vorurteil?
Wie in Japan die alten Haiku vielfach in geselliger Runde entstanden, bevor sie isoliert zu den gedankenschweren Schöpfungen wurden, die wir meist als das Haiku ansehen, so entstanden die witzigen und oft derben Senryû in der ausgelassenen Runde meist zechender Bürger der Edo-Zeit - die Frau erscheint hier erst recht nur als Thema/Objekt des Senryû, nicht aber als Autorin, deren Rolle sie im Japan der jüngeren Zeit erst wieder erringen mußte, obwohl sie in der Heian-Periode eher dominant war, mindestens in der epischen Dichtung...
Das von Schinzinger u. a. herausgegebene japanisch-deutsche Wörterbuch erklärt Senryû kurz als „das japanische, humoristische (humoristisch-satirische) Kurzgedicht in Haiku-Form" - und damit sind schon zwei wesentliche Grundzüge im Haiku angesprochen:
- thematisch-inhaltliche Unterschiede zwischen Senryû und Haiku;
- andere Dichter-Haltungen und -Einstellungen bei Senryû und Haiku.
 
Gerolf Coudenhove-Kalergis  Senryû-Buch (1966 erschienen im Verlag Die Waage, Zürich) spricht im Umschlagtext etwas plakativ, doch zutreffend von „Lebensweisheit, Heiterkeit, Besinnlichkeit, ... Einfällen, Eindrücken, Einsichten"; die acht Seiten des Vorworts leiten in knapper und doch informativer Weise ein, was auf gut 100 Seiten an japanischen Senryû-Beispielen folgt. (Das englische Senryû-Buch von R.H. Blyth ist noch schwerer zugänglich!)
 
Haiku-Gegenstand ist, so wissen wir, die Natur in ihren vielfältigen Erscheinungsformen, wie sie der Dichter durch seine Sinne erfährt - aber ist das Haiku damit auch ,reines Naturgedicht'? Die Natur, die Schöpfung, das All - dazu gehört der Mensch ,natürlich' ebenso wie all das Lebendige, das unbestreitbar das Haiku-Thema ist und bleibt, selbst wenn nur von Wolken und Wind, von Bergen und Wasser die Rede ist. In welcher Weise der sehende und erlebende Mensch für das Haiku von Belang ist, auch wenn er sich weder als Subjekt einbringt noch ein wie auch immer wertendes Urteil erkennbar wird, das ist ein Problem, das zu klären erst in einer Meta-Poetik des Haiku und erkenntnistheoretischen und sprachphilosophischen Untersuchungen möglich wäre, nicht aber in diesem Rahmen...
Vom Haiku, das uns mehr oder weniger klar und vertraut sein dürfte, das Senryû mit Hilfe von Unterscheidungsmerkmalen abzugrenzen, das wird nicht einfach, erst recht wenn eine Art von Faustregel oder Kriterienliste erwartet wird, wo wir einfach die Punkte abhaken können. Schließlich funktioniert nicht einmal die simple Formel mit der Silbenzählung so einfach, da in klassischen Haiku bereits mehrfach Abweichungen von der 5-7-5-Regel festzustellen sind und wir den free-style haiku unseres Jahrhunderts damit nicht mehr gut beikommen können. Und von den möglichen charakteristischen Merkmalen unserer wohl unvermeidlichen Liste ist in einem Haiku bzw. Senryû natürlich nicht immer alles zu finden, sondern das eine oder das andere, wie wir nicht gleichzeitig gelassen, heiter und traurig sein können!
 
Natur + kigo scheinen eindeutig ein Haiku auszuweisen - doch bedeutet schon das Fehlen der Natur und des kigo als klarem Jahreszeitenbezug den Übergang zum Senryû? Wie der Mensch als Lebewesen einen unbestreitbaren Naturbezug hat, gehört er als Sozialwesen gleichzeitig in die Dimensionen von Kultur und Gesellschaft und deren vielfältige Einbindungen. So wird ohne gewaltsame Schnitte vermutlich nicht überall eindeutig eine Abgrenzung von Haiku und Senryû möglich, d.h. ich möchte nur versuchen, in der Fülle der Erscheinungen einige Grundzüge aufzuzeigen, die Haiku und Senryû aufweisen - handwerkliche Faustregeln zum ,Machen' eines Senryû bzw. Haiku möchte ich keine liefern.
 
Haiku wirken normal eher offen, oft vage und mehrdeutig; sie haben in den Bildern eines Augenblicks eine mögliche Tiefendimension, die meist erst im Nachhall, im Nachwirken sich langsam, allmählich oder aber jäh in der Art eines satori erschließt und nie kalkuliert einfügbar sein dürfte; ihre Heiterkeit ist locker, gelöst, verbindlich, zart und fein, eher andeutend als laut. Der Dichter bleibt hier staunend und ergriffen im Erleben der Erscheinungen und ,Dinge', Gegenstände, Pflanzen und Tiere oder auch Menschen, er wundert sich und bewundert und wird gewissermaßen in die Natur hineingenommen, wird/ist eins mit ihr. Ins Haiku geht die menschliche Befindlichkeit des Dichters vielfach, 'irgendwie' ein, oft wird seine Anteilnahme erkennbar, auch als Freude oder aber als Bedauern, als Klage oder als Bekenntnis ...
 
Senryû erscheinen im Verhältnis dazu eher (ab)geschlossen und meist eindeutig in ihrer klaren und direkten Aussage; sie geben eher eine Summe von Erfahrungen wieder als augenblicklich Erlebtes, im Prinzip eher rationale Bewältigung oder ,Bewältigung' von menschlichen, sozialen Gegebenheiten; ihre Heiterkeit wird meist witzig-komisch, oft pointiert und aperçuhaft geschliffen, sie erscheinen fest zupackend, oft derb und drastisch und wirken auch spöttisch, ironisch, ja sarkastisch, manchmal sogar ordinär. Der Dichter bleibt unbeteiligt außerhalb stehen und demonstriert eher eine Art von unberührter Überlegenheit, wobei er der Gefahr (zu) oft ausgesetzt ist, oberflächlich zu werden und zu urteilen, auch gewöhnlich und boshaft, und als Besserwisser zu erscheinen, der vielzitierte ,Mann von der Straße' bzw. der an seinem Stammtisch, wobei sich japanische und mitteleuropäische Gegebenheiten annähern ...
 
Haiku-Qualität kann eigentlich der Senryû-Qualität kaum ganz allgemein und von vornherein so überlegen sein, daß das Senryû prinzipiell als minderwertig eingestuft werden könnte. Wir dürfen fairerweise nur gute Haiku mit guten Senryû vergleichen und sehen uns leider vor das Problem gestellt, daß wir nur an relativ wenige japanische Senryû in ordentlicher Übersetzung geraten, während Haiku in bedeutend größerer Zahl zu finden sind. Wir könnten allerdings theoretisch-allgemein zu einer differenzierenden Bewertung gelangen, wenn wir die im Haiku, wenigstens im großen und bedeutenden Haiku, mögliche metaphysische Tiefe oder ein Transzendieren bedenken oder an eine natur-mystische bzw. pantheistische Dimension denken - und im Senryû dagegen eher an einfache Aussagen kommen, die vielfach die Quintessenzen von gesammelten Erfahrungen und wiederholten Erlebnissen in eine gute Form bringen. Doch ist eine solche Lebensweisheit grundsätzlich geringer einzuschätzen als das subtile Anspinnen eines Fadens, der manche, aber nicht alle in eine hohe Lichtwelt führt?
Ob wir nun beim Senryû an unsere Sinnsprüche denken, an die aus der Antike stammenden Epigramme, an Distichen oder aber an Aphorismen, etwa von Lichtenberg oder der Marie von Ebner-Eschenbach, und andere Spruchdichtungen, etwa von Walther von der Vogelweide oder Hans Sachs, bzw. die modernen Sentenzen, so von Bertolt Brecht und anderen seiner und unserer Zeitgenossen - wir stellen zwar Verwandtschaften und Entsprechungen der einen oder anderen Art fest, doch von daher läßt sich kein weiterer, höherer Wert des Senryû gegenüber dem Haiku begründen, auch wenn wir für die religiösen, konkret buddhistischen Elemente bei uns christliche einbringen wollten, was ohnehin beim Haiku ebenso wie beim Senryû gleichermaßen möglich oder unmöglich wäre.
Vermutlich klarer und überzeugender als in der Theorie dürfte an konkreten Beispielen eher zu erhellen sein, was bisher zu sagen versucht wurde - und dabei müßte einzuräumen sein, daß wir nicht immer messerscharf entscheiden können, auf welche Seite der Grenzlinie Texte im Einzelfall bedenkenlos zu bringen sind, selbst wenn das kühne Bild der fließenden Grenze im Aquarell nur cum grano salis zu nehmen und zu halten ist.
 
Gerolf Coudenhove-Kalergi bringt in seinem Buch u.a. folgende ältere, anonyme Texte:
Hinter dem Tempeltor
reden sie schon dies und das
vom Verstorbenen ...
                               
Jetzt hat er ein Weib.
Mit dem schönen Morgenschlaf 
ist es nun vorbei.
Ein geharnischter
Samurai hat's nicht bequem,
wenn er kacken muß.
 
Hohe Sternenpracht!
Doch der arme Vagabund
denkt an nichts als Schlaf ...
Als ,klassische Senryû' ordnet er u.a. ein
Im Gedränge trägt
er sein Söhnlein huckepack -
selber sieht er nichts.
 
(Ninomachi)
 
                                
Fängt die Gattin erst
einmal laut zu schluchzen an,
ist der Mann besiegt...
 
(Umebô)
Der Herr Lehrer dreht
sich rasch zur Tafel um,
weil er gähnen muß!
(Isen)
Unter 'Maximen' faßt er Texte zusammen wie:
 
Wirst du nicht geliebt,
tröste dich zuletzt damit,
daß dich niemand haßt.
(Senryû)
                                        
Wer was haben will,
das wem anderen gehört,
nennt sich 'Sozialist'
(Miyabo)
Wenn man einen Ast
immer grade biegen will,
wird die Wurzel dürr.
(Sprichwörtlich)
 
 
Als Senryû enthält die Sammlung Texte, die sehr wohl auch als Haiku gelten dürften:
 
Auf der Fahrt das Schiff
kam und teilte und zerriß
auf dem Fluß den Mond.
                                   
Eine Fliege sitzt
auf dem Rücken eines Manns -
beide sonnen sich.
 
 
Umgekehrt erscheinen als Haiku manche Texte, die eher als Senryû aufzufassen würen. Von Buson hat Horst Hammitzsch für Gunderts Lyrik des Ostens u.a. folgendes Haiku übersetzt:
 
 
Langsam, Tag an Tag,
reihen sich aneinander -
 vergangene Dinge.
 
 
Da weder ein kigo noch sonst ein Jahreszeiten- oder auch nur Naturbezug erkennbar ist, dürfte dieser Text durchaus in einer Senryû-Reihe stehen, ohne aus dem Rahmen zu fallen.
Andere Texte stehen im Grenzraum zwischen Haiku und Senryû wie die von Werner Manheim:
 
Voller Geheimnis,
was sich im Schatten bewegt. -
Enttäuschung im Licht. 
                                 
Blüten von gestern
sind über Nacht erfroren.
Hungersnot morgen.
 
 
Aus literaturwissenschaftlicher Fachliteratur ließen sich zweifellos weitere Kriterien und begriffliche Differenzierungen gewinnen, die in der Abstraktion gelten können, doch an konkreten Texten wieder problematisch werden. So befand Margret Buerschaper in weiser Bescheidung in
 "Das deutsche Kurzgedicht" einfach: „Oft sind die Übergänge zwischen Haiku und Senryû fließend..."