Wegen
der gleichen Form bei uns in der Regel Dreizeiler mit
5-7-5 Silben - erscheinen Haiku und Senryû in
Sammlungen und anderen Publikationen oft ohne weitere Unterscheidung
bunt gemischt, zuweilen mit der als Hai-Sen bezeichneten
Mischform. Doch sehen wir auch nach (z.T. problematischen) Setzungen
in Definition und Kriterienliste so messerscharfe Trennlinien zwischen
beiden Dreizeilerformen, daß die reiche Fülle der Produktionen etwa
so klar und sicher gesondert wirkt - wie Urwaldparzellen, deren
mühsam geschlagene Trennschneisen immer rasch wieder überwuchert
sind. Zu einfach aber wäre es, wenn wir angesichts der
Schwierigkeiten ganz darauf verzichten wollten, nach wesentlichen
Unterschieden zwischen Haiku und Senryû zu suchen.
Wie
erst mit und nach Shiki das (japanische) Haiku zum heutigen Namen und
Begriff kam, obwohl Haiku schon vor Bashô entstanden waren, sind
Senryû bereits vor Karai Hachiemon produziert worden und
erhielten von dessen Dichternamen Senryû (= Flußweide) die bis heute
übliche Bezeichnung. Ehe wir uns kurz der Frage nach Entwicklung und
Wesen des Senryû zuwenden, sollten wir auch die Scheu, die
Abwehrhaltung, ja die Geringschätzung in bezug auf das Senryû
ansprechen, die viele Haiku-Freunde bewußt oder halb unbewußt
an den Tag legen. Sehr Wichtiges dazu schrieb Jane Reichhold vor
Jahren in dem nachlesenswerten Aufsatz Senryû kann ein schmutziges Wort sein (Vjsch. Jg. 4/Nr. 2, Mai 1991,
S.7ff.) Wie aber begründet sich eine solche Haltung, die etwa in
einem internen Bewertungspapier beim Senryûgrundsätzlich
von vornherein ausschloß, daß ein Senryû so gut wie ein Haiku sein
könnte? Schlichtweg ein Vorurteil?
Wie
in Japan die alten Haiku vielfach in geselliger Runde entstanden,
bevor sie isoliert zu den gedankenschweren Schöpfungen wurden, die
wir meist als das Haiku ansehen,
so entstanden die witzigen und oft derben Senryû in der ausgelassenen
Runde meist zechender Bürger der Edo-Zeit - die Frau erscheint hier
erst recht nur als Thema/Objekt des Senryû, nicht aber als Autorin,
deren Rolle sie im Japan der jüngeren Zeit erst wieder erringen mußte,
obwohl sie in der Heian-Periode eher dominant war, mindestens in der
epischen Dichtung...
Das
von Schinzinger u. a. herausgegebene japanisch-deutsche Wörterbuch
erklärt Senryû kurz als „das japanische, humoristische
(humoristisch-satirische) Kurzgedicht in Haiku-Form" - und damit
sind schon zwei wesentliche Grundzüge im Haiku angesprochen:
-
thematisch-inhaltliche Unterschiede zwischen Senryû und Haiku;
-
andere Dichter-Haltungen und -Einstellungen bei Senryû und Haiku.
Gerolf
Coudenhove-KalergisSenryû-Buch
(1966 erschienen im Verlag Die Waage, Zürich) spricht im Umschlagtext
etwas plakativ, doch zutreffend von „Lebensweisheit, Heiterkeit,
Besinnlichkeit, ... Einfällen, Eindrücken, Einsichten"; die
acht Seiten des Vorworts leiten in knapper und doch informativer Weise
ein, was auf gut 100 Seiten an japanischen Senryû-Beispielen folgt.
(Das englische Senryû-Buch von R.H. Blyth ist noch schwerer
zugänglich!)
Haiku-Gegenstand
ist, so wissen wir, die Natur in ihren vielfältigen
Erscheinungsformen, wie sie der Dichter durch seine Sinne erfährt -
aber ist das Haiku damit auch ,reines Naturgedicht'? Die Natur, die
Schöpfung, das All - dazu gehört der Mensch ,natürlich' ebenso wie
all dasLebendige,
das unbestreitbar das Haiku-Thema
ist und bleibt, selbst wenn nur von Wolken und Wind, von Bergen und
Wasser die Rede ist. In welcher Weise der sehende und erlebende Mensch
für das Haiku von Belang ist, auch wenn er sich weder als Subjekt
einbringt noch ein wie auch immer wertendes Urteil erkennbar wird, das
ist ein Problem, das zu klären erst in einer Meta-Poetik des Haiku
und erkenntnistheoretischen und sprachphilosophischen Untersuchungen möglich
wäre, nicht aber in diesem Rahmen...
Vom
Haiku, das uns mehr oder weniger klar und vertraut sein dürfte, das
Senryû mit Hilfe von Unterscheidungsmerkmalen abzugrenzen, das wird
nicht einfach, erst recht wenn eine Art von Faustregel oder
Kriterienliste erwartet wird, wo wir einfach die Punkte abhaken können.
Schließlich funktioniert nicht einmal die simple Formel mit der
Silbenzählung so einfach, da in klassischen Haiku bereits mehrfach
Abweichungen von der 5-7-5-Regel festzustellen sind und wir den free-style
haikuunseres
Jahrhunderts damit nicht mehr gut beikommen können. Und von den möglichen
charakteristischen Merkmalen unserer wohl unvermeidlichen Liste ist in
einem Haiku bzw. Senryû natürlich nicht immer alles zu finden,
sondern das eine oder das andere, wie wir nicht gleichzeitig gelassen,
heiter und traurig sein können!
Natur
+ kigo scheinen eindeutig ein Haiku auszuweisen - doch bedeutet schon
das Fehlen der Natur und des kigo
als klarem Jahreszeitenbezug den Übergang zum Senryû? Wie der
Mensch als Lebewesen einen unbestreitbaren Naturbezug hat, gehört er
als Sozialwesen gleichzeitig in die Dimensionen von Kultur und
Gesellschaft und deren vielfältige Einbindungen. So wird ohne
gewaltsame Schnitte vermutlich nicht überall eindeutig eine
Abgrenzung von Haiku und Senryû möglich,d.h.
ich möchte nur versuchen, in der Fülle der Erscheinungen einige
Grundzüge aufzuzeigen, die Haiku und Senryû aufweisen -
handwerkliche Faustregeln zum ,Machen' eines Senryû bzw. Haiku möchte
ich keine liefern.
Haiku
wirken normal eher offen, oft vage und mehrdeutig; sie haben in den
Bildern eines Augenblicks eine mögliche Tiefendimension, die meist
erst im Nachhall, im Nachwirken sich langsam, allmählich oder aber jäh
in der Art eines satori erschließt und nie kalkuliert einfügbar
sein dürfte; ihre Heiterkeit ist locker, gelöst, verbindlich, zart
und fein, eher andeutend als laut. Der Dichter bleibt hier staunend
und ergriffen im Erleben der Erscheinungen und ,Dinge', Gegenstände,
Pflanzen und Tiere oder auch Menschen, er wundert sich und bewundert
und wird gewissermaßen in die Natur hineingenommen, wird/ist eins mit
ihr. Ins Haiku geht die menschliche Befindlichkeit des Dichters
vielfach, 'irgendwie' ein, oft wird seine Anteilnahme erkennbar, auch
als Freude oder aber als Bedauern, als Klage oder als Bekenntnis ...
Senryû
erscheinen im Verhältnis dazu eher (ab)geschlossen und meist
eindeutig in ihrer klaren und direkten Aussage; sie geben eher eine
Summe von Erfahrungen wieder als augenblicklich Erlebtes, im Prinzip
eher rationale Bewältigung oder ,Bewältigung' von menschlichen,
sozialen Gegebenheiten; ihre Heiterkeit wird meist witzig-komisch, oft
pointiert und aperçuhaft geschliffen, sie erscheinen fest zupackend,
oft derb und drastisch und wirken auch spöttisch, ironisch, ja
sarkastisch, manchmal sogar ordinär. Der Dichter bleibt unbeteiligt
außerhalb stehen und demonstriert eher eine Art von unberührter Überlegenheit,
wobei er der Gefahr (zu) oft ausgesetzt ist, oberflächlich zu werden
und zu urteilen, auch gewöhnlich und boshaft, und als Besserwisser zu
erscheinen, der vielzitierte ,Mann von der Straße' bzw. der an seinemStammtisch,
wobei sich japanische und mitteleuropäische Gegebenheiten annähern
...
Haiku-Qualität
kann eigentlich der Senryû-Qualität kaum ganz allgemein und von
vornherein so überlegen sein, daß das Senryû prinzipiell als
minderwertig eingestuft werden könnte. Wir dürfen fairerweise nur
gute Haiku mit guten Senryû vergleichen und sehen uns leider vor das
Problem gestellt, daß wir nur an relativ wenige japanische Senryû in
ordentlicher Übersetzung geraten, während Haiku in bedeutend größerer
Zahl zu finden sind. Wir könnten allerdings theoretisch-allgemein zu
einer differenzierenden Bewertung gelangen, wenn wir die im Haiku,
wenigstens im großen und bedeutenden Haiku, mögliche metaphysische
Tiefe oder ein Transzendieren bedenken oder an eine natur-mystische
bzw. pantheistische Dimension denken - und im Senryû dagegen eher an
einfache Aussagen kommen, die vielfach die Quintessenzen von
gesammelten Erfahrungen und wiederholten Erlebnissen in eine gute Form
bringen. Doch ist eine solche Lebensweisheit grundsätzlich geringer
einzuschätzen als das subtile Anspinnen eines Fadens, der manche,
aber nicht alle in eine hohe Lichtwelt führt?
Ob
wir nun beim Senryû an unsere Sinnsprüche denken, an die aus der
Antike stammenden Epigramme, an Distichen oder aber an Aphorismen,
etwa von Lichtenberg oder der Marie von Ebner-Eschenbach, und andere
Spruchdichtungen, etwa von Walther von der Vogelweide oder Hans Sachs,
bzw. die modernen Sentenzen, so von Bertolt Brecht und anderen seiner
und unserer Zeitgenossen - wir stellen zwar Verwandtschaften und
Entsprechungen der einen oder anderen Art fest, doch von daher läßt
sich kein weiterer, höherer Wert des Senryû gegenüber dem Haiku
begründen, auch wenn wir für die religiösen,konkret
buddhistischen Elemente bei uns christliche einbringen wollten, was
ohnehin beim Haiku ebenso wie beim Senryû gleichermaßen möglich
oder unmöglich wäre.
Vermutlich
klarer und überzeugender als in der Theorie dürfte an konkreten
Beispielen eher zu erhellen sein, was bisher zu sagen versucht wurde -
und dabei müßte einzuräumen sein, daß wir nicht immer messerscharf
entscheiden können, auf welche Seite der Grenzlinie Texte im
Einzelfall bedenkenlos zu bringen sind, selbst wenn das kühne Bild
der fließenden Grenze im Aquarell nur cum
grano salis zu nehmen und zu halten ist.
Gerolf
Coudenhove-Kalergi bringt in seinem
Buch u.a. folgende ältere, anonyme Texte:
Hinter
dem Tempeltor
reden
sie schon dies und das
vom
Verstorbenen ...
Jetzt
hat er ein Weib.
Mit
dem schönen Morgenschlaf
ist
es nun vorbei.
Ein
geharnischter
Samurai
hat's nicht bequem,
wenn
er kacken muß.
Hohe
Sternenpracht!
Doch
der arme Vagabund
denkt
an nichts als Schlaf ...
Als
,klassische Senryû' ordnet er u.a. ein
Im
Gedränge trägt
er
sein Söhnlein huckepack -
selber
sieht er nichts.
(Ninomachi)
Fängt
die Gattin erst
einmal
laut zu schluchzen an,
ist
der Mann besiegt...
(Umebô)
Der
Herr Lehrer dreht
sich
rasch zur Tafel um,
weil
er gähnen muß!
(Isen)
Unter
'Maximen' faßt er Texte zusammen wie:
Wirst
du nicht geliebt,
tröste
dich zuletzt damit,
daß
dich niemand haßt.
(Senryû)
Wer
was haben will,
das
wem anderen gehört,
nennt
sich 'Sozialist'
(Miyabo)
Wenn
man einen Ast
immer
grade biegen will,
wird
die Wurzel dürr.
(Sprichwörtlich)
Als
Senryû enthält die Sammlung Texte, die sehr wohl auch als Haiku
gelten dürften:
Auf
der Fahrt das Schiff
kam
und teilte und zerriß
auf
dem Fluß den Mond.
Eine
Fliege sitzt
auf
dem Rücken eines Manns
-
beide
sonnen sich.
Umgekehrt
erscheinen als Haiku manche Texte, die eher als Senryû aufzufassen würen.
Von Buson hat Horst Hammitzsch für Gunderts Lyrik
des Ostens u.a. folgendes Haiku übersetzt:
Langsam,
Tag an Tag,
reihen
sich aneinander -
vergangene
Dinge.
Da
weder ein kigo noch sonst ein Jahreszeiten- oder auch nur Naturbezug erkennbar
ist, dürfte dieser Text durchaus in einer Senryû-Reihe stehen, ohne
aus dem Rahmen zu fallen.
Andere
Texte stehen im Grenzraum zwischen Haiku und Senryû wie die von Werner
Manheim:
Voller
Geheimnis,
was
sich im Schatten bewegt. -
Enttäuschung
im Licht.
Blüten
von gestern
sind
über Nacht erfroren.
Hungersnot
morgen.
Aus
literaturwissenschaftlicher Fachliteratur ließen sich zweifellos
weitere Kriterien und begriffliche Differenzierungen gewinnen, die in
der Abstraktion gelten können, doch an konkreten Texten wieder
problematisch werden. So befand Margret Buerschaper in weiser
Bescheidung in
"Das
deutsche Kurzgedicht" einfach: „Oft sind die Übergängezwischen
Haiku und Senryû fließend..."