Rudolf Thiem
Haiku-Anfänge und -Entwicklungen in Japan
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Wenn wir uns auf deutsche Haiku einlassen, sollten wir wohl vom japanischen Haiku etwas wissen und uns wenigstens einen knappen Überblick darüber verschaffen, was in Japan da ist an Erscheinungen und Entwicklungen - auch wenn uns als Nichtjapanern viel von Geist und Wesen fremd bleibt (die, so weit es überhaupt möglich ist, zu erörtern und zu erschließen wäre eine große Abhandlung nötig.)
 
Haiku-Geschichte, Haiku-Entwicklung in Japan gab es nicht im luftleeren Raum. sondern natürlich eng verbunden mit der politischen Geschichte des Landes, mit der Entwicklung seiner Kultur. Ohne die ganze Geschichte Japans aufarbeiten zu müssen, sollten uns drei Zäsuren / Schwellenzeiten klar werden, alle in Zusammenhang mit der Entwicklung der Literatur, also auch mit dem Haiku:
 
1) Um 800 (794) befahl Kaiser Kammu, der 50. Kaiser Japans, nördlich von Nara eine neue Hauptstadt zu errichten: das heutige Kyoto - Heian hieß sie und gab der bedeutenden Epoche (800-200) mit ihrer Kulturblüte den Namen; und Kaiserstadt blieb sie bis 1869, obwohl Tokyo neues Machtzentrum wurde.
 
2) Nach 1500 begann mit der Shogunatsherrschaft der Tokugawa (bafuku) die sog. Edo-Zeit - bis 1868 Jahrhunderte der japanischen Isolierung mit dem Kaiserhof in Kyoto und den Shogunen in Edo/Tokyo.
 
3) 1868 begann die Moderne mit der Öffnung des Landes, die amerikanische Kriegsschiffe erzwangen - das bafuku wurde gegenstandslos, der Kaiser war wieder Landesherr, das Land weltoffen...
 
Haiku und Haikuform entwickelten sich eigentlich erst um/nach 1500, doch hatten sie alte Wurzeln:
 
Das Kagerô Nikki (um/nach 970), das Tagebuch (= nikki) einer Hofdame, die sich Kagerô (= Eintagsfliege) nannte, dokumentiert höfisches Alltagsleben, damit auch den Umgang miteinander; es zeigt so die Selbstverständlichkeit, mit der in höfischen Kreisen im Briefwechsel auch Tanka geschrieben oder mündlich formuliert wurden.
 
Statt einer bloßen Beispielreihe sei hier nur eins im Detail gezeigt: Kagerô schrieb beim Warten auf den Festzug einer Art Rivalin mit einem Malvenblatt und einer Mandarinenorange: "Malven-Festtag ist's. / Tag der Wiederbegegnung. / Wartet Ihr auf ihn?" Und sofort kam die Antwort: "Seid so gefühllos und kalt nicht! / Heut erst kann ich verstehn Euch." , d.h. Kagerô schrieb den Oberstollen, die andere Dame den Unterstollen, Haiku- oder Renga-Anfänge sind damit schon vor 1000 Jahren erkennbar! (Die von Niehans gewählte, etwas gestelzt wirkende Übertragung soll die kunstvolle Diktion von damals ein wenig andeuten) - wie wir Ahd. + Mhd. erst nach gründlichen germanistischen Studien lesen können, so brauchen oft auch moderne Japaner ihre Erklärungen.
Beim Kamo-Fest am 5. Mai (heute Knabenfest) trug man ein Malvenblatt in der Hand und schmückte Haus und Wagen mit Malvenblüten. Malve heißt afubi, was auch Tag der Wiederbegegnung bedeuten kann; Liebende feiern den Tag ihrer Begegnung. Es war damals eins der fünf großen Jahresfeste. (Iris ibirica wurde im Spiel aus der Erde gezogen, und wer die längste Wurzel hatte, war Sieger...) Mit der Malve ist einmal deutlich ein Jahreszeitenwort schon erkennbar - und zugleich ein Wortspiel, das nicht einfach zu übersetzen, sondern nur zu erklären ist; damit wird die höfische Bildung so belegt wie dann um/nach 1600 in der Teimon-Schule - und jedes einfache Übersetzen blockiert ...
 
Der Tanka-Komplex und die dazu gehörige höfische Kultur wäre für sich zu erörtern - seit der Heian-Zeit (vor 1000 Jahren!) blieb das Tanka erhalten und lebendig, wenn auch vielfach gewandelt. 
 
Mit der Zen-Einführung in buddhistische Klöster kam (Kamakura- und Muromachi-Zeit /13.-15.Jh.) aus China auch wieder chinesische Literatur, und japanische Mönche begannen zu dichten, meist chinesisch, doch auch japanisch und in geselliger Runde, d.h. Gemeinschaftsdichtung (renga+haikai?) in nichthöfischer Form entstand. Wir erkennen oft darin etwas wie Schuldbewußtsein wegen der weltlich-profanen Sprachspielereien, auch später bei Haiku-Klassikern, und manchmal bewußte Respektlosigkeit gegenüber den Tempeloberen etwa ...
Um 1500 gab es historisch die große Doppelzäsur, die kulturell vielfach bedeutsam wurde, als ungefähr gleichzeitig mit dem europäischen Mittelalter das japanische endete und die Neuzeit begann:
 
1) Mit den Entdeckungsfahrten wurde Japan nicht nur erreicht, sondern gleich auch missioniert. Jedoch: sehr früh wurde diese Aktion gestoppt und offiziell das Christentum in Japan ausgerottet (heimlich lebte Christliches weiter). Japan blieb bis 1868 isoliert und hatte nur streng kontrollierte Auslandskontakte.
 
2) Die Edo-Zeit oder Shogunatszeit hatte zwei Machtzentren: Kyoto mit dem Kaiser und Edo/Tokyo mit dem Sitz des Shoguns. Die Machtkämpfe der Fürsten wurden beendet und das Land raffiniert befriedet: Alle Fürsten waren verpflichtet, "angemessen" in beiden Zentren präsent zu sein - damit und mit den aufwendigen Reisen verarmte der Adel, und reich wurde das Bürgertum der Städte. Die bürgerliche Kultur der Edo-Zeit veranschaulicht die Entwicklung des Theaters und der Vergnügungsviertel. Die einfachen Leute blieben vielfach in bitterer Armut; die Bevölkerungszahl wurde streng kontrolliert und nach der Ackerfläche begrenzt.
 
Auf die Frage, wann das japanische Haiku begann, gibt es keine klare Jahreszahl als Antwort - und auf die Frage, wie Haiku, Tanka, Renku etc. zusammenhängen, sind nur Teilantworten möglich:
 
Ab 1500 etwa werden Hokku selbständig als Tanka-Oberstollen oder Kasen-Teile in der heute wieder gepflegten Kettendichtung - Haiku wurden erst nach Shiki (1867-1902) üblich; Bashô benutzte noch den Ausdruck Haikai (no Renga), so daß z.B. der Bashô-Experte Makoto Ueda konsequent nur von Bashôs Hokku spricht und Haiku erst für die Zeit nach Shiki gelten lädt. Wenn wir uns mit dem japanischen Haiku befassen, spielen drei Hauptaspekte eine Rolle:
 
Sprache -Form -Inhalt
 
1) die Sprache: der japanische Sprachtyp ist so verschieden von unseren indogermanischen oder indoeuropäischen Sprachen, daß man sagen kann, Haiku sind eigentlich nicht deutsch wiederzugeben. Jetzt diesen Gesichtspunkt noch sinnvoll erörtern zu wollen, sprengt jeden Rahmen und ist unnötig. Wichtig aber die Feststellung: Beim Übergang vom Tanka zum Haiku erfolgt ein Übergang von der höfischen Hochsprache zur Volkssprache mit z.T. sehr derbem Vokabular - und ganz moderne Haiku-Autoren greifen aparterweise wieder auf alte Sprach- und Wortformen zurück, daß dazu Erklärungen oft mitzuliefern sind!
 
Im japanischen Haiku sind volle Aussagen sehr selten zu finden, erst recht keine grammatisch durchkonstruierbaren Sätze. Vielmehr werden die Aussagen weitestgehend verkürzt (Prinzip der Reduktion wie in unserer modernen Lyrik / Benn + Celan etwa) - die Wörter werden mit ihrem 'Hof' so eingebracht, wie das im Tanka mit den makura kotoba schon im Mittelalter üblich war; und als kigo bringen jahreszeitliche o.a. Schlüsselwörter gleich eine Erfahrungswelt mit vielen atmosphärischen Elementen ein, die in keiner Übersetzung zu fassen sind (wie Heimat, Advent, Fasching u.a.)
 
2) die Form: nur in extrem verkürzter Weise steht die heilige 17 mit dem einfachen 5-7-5 Silbenmuster als unantastbar da -   2-3 Probleme tauchen auf, von moderneren Regeldurchbrechungen abgesehen:
 
(a)     Auch die japanischen Haiku-Klassiker wie Bashô, Buson und Issa verlassen dieses
Grundmuster überraschend oft - die Regel - oder Richtzahl war nie so etwas wie
ein Dogma...
(b)     Japanische und deutsche Silben sind nicht identisch, auch wenn das so einfach
zu handhaben wäre:
Japanische Silben bestehen entweder nur aus einem einfachen kurzen Vokal oder 
haben davor als Silbenanfang einen Konsonanten stehen - das -n am Silbenende zählt 
schon wie eine 'Silbe', ebenso jede Lautverdoppelung und/oder - Dehnung...
Lia Frank regte daher an, statt Silbe lieber den Ausdruck More zu verwenden, 
der etwa dem japanischen onji entspricht (onji = Lautzeichen, Phonogramm)
Irmela Hijiva-Kirschenreiter vertritt das Morenprinzip ähnlich; der Haiku-Meister 
Tsunehiko Hoshino spricht von onji statt Silben in unserem üblichen Sinne; und 
Professor Watanabe bestätigte, daß onji einer More entspricht.
(c)         Zählweise und Zählung der Grundeinheiten im Vers wird damit problematisch: 
Im Japanischen ist mit den onji als Lautzeichen das Verfahren einfach; Lia Franks 
Vorschlag, (nur) die bezeichneten Vokaldehnungen als Doppelzählung einzubringen,
irritiert mich etwas ...
 
 
3) der Inhalt: Naturnähe gehört zum traditionellen Haiku, wo ein kigo als Jahreszeitwort normal war und ist; a
         ber die Formel "Haiku = reines Naturgedicht" erscheint entschieden zu eng!
         Im Haiku wird versucht, eine Augenblickserfahrung in die Dauer, in die Zeitlosigkeit zu retten; etwas wie 
         ein satori überall einzubringen bzw. zu erwarten, das erscheint vermessen. Überall Zen zu sehen, das wird 
         bei vielen, besonders modernen Haiku problematisch. Klassisch gewordene Haiku waren und sind Naturbilder, 
         Erlebnisdokumente, manchmal auch Spielform, Witz oder Gebet. Schon vor Shiki erscheinen im Haiku neben 
         der Natur bzw. mit und in der Natur auch Kulturelemente aus Religion und Brauchtum etwa! Gefühle wie 
         Trauer und Liebe werden mehrfach erkennbar, wo Ich - Vokabeln wiederholt auftauchen.
         Ab Shikis Zeit werden moderne, technische Elemente (wie Eisenbahn) immer häufiger einbezogen; 
         ein Kölner Referat galt nur Haiku in Zusammenhang mit der japanischen Kapitulation 1945!

 

Allgemein möchte ich zusammenfassen: Die klassische und traditionelle Haiku-Form lebt in Japan weiter wie die Tanka-Form auch, die in unserem Jahrhundert neu auflebte. Daneben gab und gibt es in der Shiki-Nachfolge revolutionäre Neuerungen verschiedenster Art. Nebeneinander gibt es heute in Japan verschiedenste Schulen und Gruppen, Verbände und Publikationen. solche für traditionell und solche für modern orientiertes Haiku - in Köln war neben dem Japanischen Kulturinstitut das Museum of Haiku Literature /Tokyo wie die Haiku International Association in der Organisation beteiligt und gleich stark vertreten waren die Modern Haiku Association, die DHG und der Verband der Haiku-Dichter ...
Aus dem 14./15. Jahrhundert zeigen die folgenden Beispiele Entwicklungen zum Haiku hin, das in den Dreizeilern im Original schon das 5-7-5-Muster aufweist; in beiden Fünfzeilern geht (7-7-5-7-5) der später Unterstollen genannte Teil voraus.
 
 
Von dem 1376 gestorbenen Mönch Gusai ist das folgende Liebesgedicht überliefert:
 
Im Teich am Felsen 
zerstiebt der Wasserfall.
Mein Tränenschwall 
stürzt nieder wie er 
auf den Tuschestein.
 
Im Sommer entstand am Saihôji in der später üblichen Haikuform der Text:
 
Ein Echo vielleicht?
Erst im Tal, dann vom Gipfel -
Kuckucksrufe
 
Im Haiku-Moment steckt auch die Problem-Frage nach Wirklichkeit und Eindruck, nach Schein und Sein schon - Meditation oder Nachhall?
Den Buddhismus zum Gegenstand hat der Fünfzeiler von Bischof Shinkei (1406‑1475):
 
Nun ist Buddha selbst 
mein Vater geworden.
Sie tadeln jeden,
der einnickt, im Läuten,
die Tempelglocke.
 
Dagegen wirken wie traditionelle Haiku die beiden Texte:
 
Auch dem Betrachter
gibt es noch Farben,  
das Licht des Mondes.
Moderndes Ahornlaub,
weißglänzender Frühreif
am Uferrande.
Shinkei
Shinkei
Doch nicht alle Haiku sind dem ZenBuddhismus zuzuordnen! Arakida Moritake (1473‑1549) war Priester am Schrein von Ise und hinterließ (jeweils 6-7-5 Silben/onji im Original):

 

Gefallene Blüten
kehren zum Baume zurück?
Schmetterlinge sind's!
 
Neujahrsmorgen!
Die Zeit der Götter
kehrt scheinbar wieder!
Moritake
Moritake
 
Im zweiten Haiku wird der shintoistische Bezug augenfällig; ein Versuch, hier buddhistische Vorstellungen einbringen zu wollen, müßte äußerst bedenklich-grotesk erscheinen!
 
Vom Begründer der Teimon-Schule, Matsunaga Teitoku (1571-1653) kommen die Haiku:

 

Auch vor dem Stadttor:
Die Mandarinenbäume
in voller Blüte!
 
Ein Regenschauer
fegte die Berghänge leer
ein Schneegürtel blieb.
 
Alle die Leute
schlafen am Tage wohl jetzt -
der Vollmond leuchtet!
 
 
Formal wie inhaltlich erübrigen sich hier wohl erklärende Anmerkungen, ähnlich auch:
 
Die Bambushüte,
zu Blütenhüten macht sie
der Schnee heute früh!  
 
Etwas vom Meer
in der Ferne noch
zwischen den Blüten.  
Sugiku
 
Yamamoto
 
 
Das erste der beiden Haiku stammt von Moichi Sugiku (15851667), das zweite von Sôin Yamamoto (1610‑1682).
 
Formal wie inhaltlich wesentlich zwangloser gab sich die Danrin-Schule mit ihren häufigen Überlängen. Alle vier Haiku-Texte von Mitsui Shôfû (1646-1717) der benutzten Anthologie wiesen dies aus bis zu 7-12-6 Einheiten; 6-9-6 hatte das Original:
 
Sinkende Sonne in Wolken.
auf dürren Blättern im Schilfe
ihre Zeichen malend.
 
Selbst der Haiku-Klassiker Matsuo Bashô (1644-1694) hatte oft, wie verschiedene Quellen zeigen, deutliche Überlängen (8-7-5; 10-7-5; 6-8-5 u.ä.), so auch in dem berühmten Haiku:
 
Kare-eda ni 
karasu no tomarikeri
aki no kure                                 
 
 
Auf den dürren Ast
hat sich ein Rabe niedergesetzt -
zu Herbstes Ende.
(Übers. Wilhelm Gundert)
 
Auf eine Kurzinterpretation mit Anmerkungen kann hier wohl verzichtet werden.
Ähnlich spare ich hier die uns wohlbekannten, die traditionelle         Haiku-Regel stützenden großen Haiku aus und verweise stattdessen auf augenfällige Abweichungen - so auch bei Yosa Buson (1716-1783):
 
Im Schatten der Quitten -
seltsamerweise 
nisten Fasanen.
Das Meer im Frühling -
im Wechsel leuchten
der Mond und die Sonne.
Die Sonne geht unter,
und geht die Nacht zu Ende:
es quaken Frösche!
(Übers. Wilhelm Gundert)
 
 
Die Originale zeigen Überlängen (6-7-5;  5-5-6;  6-7-5), und zwar bei drei von sieben Haiku in Folge, wie sie in der benutzten Anthologie erschienen! Sonst hält sich Buson an das 5-7-5- Muster:
 
An dem alten Teich
der Frosch ist alt geworden
im alten Laub.
 
Wir erkennen hier den Bezug zu Bashôs berühmtem Furuike ya..
 
Langsam, Tag an Tag,
reihen sich aneinander
vergangene Dinge.
 
 
Buson
Es erbebt mein Herz!
Den Kamm der geliebten Toten trat
ich im Schlafgemach.
Übersetzung: Horst Hammitzsch
 
Augenfällig wird, daß in beiden Haiku kigo und Naturbezug fehlen...! Auch Bashô verläßt gelegentlich Natur und möglichen Meditationsraum im konkreten Haiku-Moment:
 
Flöhe, Läuse -
die Pferde pissen nahe
bei meinem Kissen.                            (Üb. D. Krusche)

 

Noch breiter wird die inhaltliche Bandbreite bei Kobayashi Issa (1763‑1827):
 
 
Fortgehen muß ich -
in den Bergen der Heimat
blühen die Kirschen.
 
 
Der Frühlingswind weht.
Zwei Samurai sind unterwegs
mit ihren Hunden
Der große Buddha -
leiht die Nase zum Abflug
der kleinen Schwalbe!
(Üb. H. Hammitzsch)
 
 
Man gratuliere mir!
Auch dieses Jahr noch
haben mich Mücken gebissen. (Üb. D. Krusche)
 
Am Dienstbotentag -
der Wind streicht durch die Kiefer
hinter dem Grab.
 
Tierliebe und enge Verbundenheit mit der eigenen Situation werden deutlich:
 
Komm doch her zu mir
zum Spielen, du kleiner Spatz  
ohne Eltern wie ich!
 
 
Mageres Fröschlein,
hab doch keine Angst, Issa,
ich bin doch hier!
Klagt nicht, ihr Grillen -
denn diesen Weg
gehen wir alle.
 
 
 
 
 
 
 
Die Trauer um den Tod des Kindes wird zugleich zurückgenommen und ausgedrückt:
 
Tau ist die Welt nur,
ein Tautropfen die Welt nur -
und dennoch, ach!
 
 
Die Abendschwalben -
ich fürchte das Morgen,
mein Herz ist so schwer
 
Kalt ist die Welt und
voll Schmerz, auch wenn die
Kirschen erblühten.
.
Und neben der Wehmut wird tiefe Frömmigkeit erkennbar:
 
In unserer Welt
gehen wir hin über Höllen -
und sehen die Blumen.
 
 
Ein Segenszeichen:
der Schnee auf der Bettdecke
aus dem Reinen Land.
 
Im klaren Tau hier
kannst du den Weg erkennen
in das Reine Land.
 
 
 
 
Zwischen Witz und Gebet, Derbheit und zartestem Gefühlsausdruck bewegt sich Issa...
 
Masaoka Shiki (1867‑1902) leitete die Haiku-Phase unseres Jahrhunderts ein und verband alte Tradition mit der technischen Moderne:
 
Eisenbahnschienen-
Wildgänse queren sie tief
in dieser Mondnacht.
 
Der kühle Regen
über der Hängebrücke
schlägt durcheinander.
 
Die Lotosblüten
auch hier - sonst so einsam
die Bahnstation.

 

Neujahrstag ist es -
Der Einklang von Himmel und
Erde beginnt wieder.
 
 
 
 
 
 
Herrlich der Herbsttag,
von irgendwoher steigt doch
Rauch in den Himmel.
 
 
 
Shiki-Schüler erneuerten und pflegten das überkommene Haiku, doch brachen einige radikal mit den Traditionen, gaben die 5-7-5-Grundform ebenso auf wie das kigo und wahrten nur den Haiku-Moment. (In Klammern stehen jeweils die onji/Silben/Moren des japanischen Originals)
 
Kawahigashi Hekigodô (1873‑1937):
 
(9‑7)                    Nach dem Reizen der Bienen im Korb
                            werfe ich den Stock zur Seite.
 
(7‑5‑3‑6)            In der Ferne ein Riesenbaum
                            - der Sommer nah -
                            steht da
zwischen Dächerfalten.
 
(5‑7‑5)                 Frühling, noch kühl,
                                     über Naßreisfeldern
                             Wolken, wurzellos.
 
Kusano Shinpei (1907‑1937):
 
(5‑14‑1‑4)          Nakahara, ach Freund
                            Die Erde ist winterkalt und dunkel
                                   Nun denn
                                  Adieu.
 

 

Ogiwara Seisensui (1880‑1976):
 
(11)                      Zwischen zirpenden Grillen zirpen Grillen.
 
(9‑11)                   Sauber gereiht. bilden sie Linien,
                                    alle die Gräber der Soldaten.
 
(8‑10)                   Auf dem Rücken trag ich die Mutter
in die Wintersonne und setze sie ab.
 
Santôka Taneda (1882‑1940):
 
(8‑7?)                   Nur dieser Weg hier, sonst keiner,
ich geh ihn allein.
 
(8‑6)                     In meiner Bettelschale
auch dürres Laub
 
(4‑6‑9)                  Kalter Winterhimmel ‑
die Träume sind fort,
zerstoben, verflogen
 
(9‑7)                     Im endlosen Wasserton
ist Buddha
 
(8‑8)                     Die Sonne geht auf, geht unter‑
zu essen nichts da
 
(7‑6‑7)                  Mein Herz ist müde ‑
die Berge, das Meer
                            sind so schön
 
(7‑8)                     Die Stille des Todes:
klar der Himmel, kahl die Äste
 
Während Santôkas u.a. sog. 'Zen-Gedichte' oft nicht mehr als Haiku anerkannt werden, führte eine andere Linie die Tradi­tionen fort in der Nachfolge von Takahama Kvoshi (1874‑1959)
 
                            Im Wasser treibt
eine Schöpfkelle, darauf
                            der Schnee des Frühlings.
 
                            Ein einzelnes Blatt
der Paulownie fiel,
                            in Sonne getaucht.
 
(5‑7‑6)                  Die Schlange glitt fort,
 noch da sind die Augen,
                            die mich anstarrten.
 
Yamaguchi Seishi         (1901‑1980):
 
(1926)                   Gefroren der Hafen!
frühere Russenstadt ‑
                            nichts ist sonst da
 
(1944)                   Die Winterstürme,
vom Land auf das Meer gedreht,
                            kehren nicht wieder.
 
(1945)                   Glühende Sonne,
ein fernes Segel, Segel
                            auch meines Herzens
 
(1950, (4‑5‑5‑6)         Die Fontäne
steigt
Wassertropfen
                            Wassertropfen folgend
 
(1974)                   Hokkaidos Hauptbahn ‑
im Schnee wird ihre
                            Schneise noch enger
 
Ozeanriese
beim Auslaufen ‑ wird eine
Fata Morgana
 
(1975)                   In Buddha Gnade
sink ich im grünen Schatten
                            des Gingkobaumes
 
Masaru Watanabe (* 1932)
 
1994:
Aus dem Feuer der
dürren Blätter steigen auf:
Erinnerungen
 
Die kleine Auswahl in eigener Arbeitsübersetzung, wenn kein Übersetzer genannt ist, zeigt auch im traditionellen Bereich eine breite Fächerung der aufgenommenen Themen mit und ohne Jahreszeitenbezug.