Hans Stumpfeldt
Deutsche Haiku-Dichter. Anmerkungen eines Unpoetischen
Festvortrag zum 7. Haiku-Kongress 2001 in Frankfurt am Main
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1.

   Haiku-Dichter, ein Haiku-Kongreß, und gar der siebte bereits, die Haiku-Gesellschaft drei Begriffe, und jeden versehe ich für mich mit einem Fragezeichen, den Ausdruck ‚deutscher Haiku-Dichter gar mit einem doppelten. Gibt es das tatsächlich den Haiku-Kongreß, die Gesellschaft, die Haiku-Dichter? Und Haiku, das sind für mich verdächtige, subversive Texte, nichtjapanische Haiku vor allem.

   Die deutsche Literatur lebt von den Formen, die sie aus anderen Literaturen, auch fernen und alten, übernahm. Sie meisterte deren Anverwandlung an die deutsche Sprache und an die Ausdruckswelt des damit verbundenen Denkens oder versuchte das wenigstens. Auch poetische Formen, Formen des Gedichts, finden sich immer wieder unter solchen Aneignungen: die kunstvolle Terzine zum Beispiel, in welcher Form Hugo von Hofmannsthal einige unvergeßliche Gedichte schrieb:

 

Wir sind aus solchem Zeug wie das zu Träumen,
und Träume schlagen so die Augen auf
wie kleine Kinder unter Kirschenbäumen.

 

   Die Suche im Internet nach dem Stichwort Terzine erbrachte 250 Resultate, die meisten in italienischer Sprache. Von einer Terzinen-Gesellschaft war nirgendwo etwas zu sehen, von einem Terzinen-Kongreß ebenfalls nicht und ob Hofmannsthal ein Terzinen-Dichter genannt werden dürfte?

   Als deutsche Dichter zu Beginn des 19. Jahrhunderts orientalische, auch ostasiatische Gedichte kennenlernten, zeigten sie sich auch von deren Formen entzückt. Das persisch-arabische Ghasel war unter ihnen, kunstvoll-streng. August von Platen, vor allen anderen, versuchte sich darin:

 

Komm und brich des jungen Jahres Hyazinthen!
Laß mich locken deines Haares Hyazinthen!
Auf ein süß Geheimnis deuten, auf ein stilles
Und allein uns beiden klares, Hyazinthen.

 

   Dutzende Ghaselen schrieb dieser Graf von Platen-Hallermünde, Heinrich Heine zum Gespött, wegen soviel orientalisierender Künstelei, doch nicht einmal der hätte ihn einen Ghaselen-Dichter genannt, denn insgeheim bewunderte er die Sprachkunst des Angefeindeten.

 

   Die Suche nach dem Stichwort ‚Ghasel im Internet zeitigte 94 Ergebnisse, die meisten allerdings nicht einschlägig. Auch hier war über eine Ghaselen-Gesellschaft oder eine vergleichbare Institution nichts zu erfahren, früher nicht und heute nicht. Immerhin war da die Auskunft, daß Arnold Schönberg in den acht Liedern seines „opus 8 ein Ghasel des biederbösen Gottfried Keller vertont habe. Ganz vergessen wurde diese Form also nicht.

   Auch der anverwandlungsfreudige Johann Wolfgang v. Goethe schrieb ein Ghasel, trunken über den berühmten Weinjahrgang 1811, der Schluß:

 

Sing es mir ein andrer nach
Dieses Lied vom Eilfer,
Denn ich sangs im Liebesrausch
Und berauscht vom Eilfer.

 

   Über dutzende Doppelverse hinweg hatte er das gleich Reimwort, „Eilfer / Elfer, wiederholt, wie es der arabischen Ausgangsform entsprach. Bald aber, im „Schenkenbuch des „Divan, macht er sich von dieser formalen Bindung frei und scheut sich dennoch nicht, das Gedicht ‚Ghasel zu nennen:

 

Denn meine Meinung ist
nicht übertrieben:
Wenn man nicht trinken kann,
soll man nicht lieben;
Doch sollt ihr Trinker euch
nicht besser dünken,
Wenn man nicht lieben kann,
soll man nicht trinken.

 

   In freier Form nutzt dieser Meister die übernommene, fremde Form, in souveräner Freiheit, und paßt sie sich, seinen Zwecken und seiner Sprache an, denn wer wollte sagen, daß im Deutschen sich das gleiche Reimwort in einem Gedicht schadlos dutzendfach wiederholen ließe? Die Gewohnheiten der Sprache deutscher Dichtung verlangen, ungeachtet ihrer bewundernswerten Aneignungskraft, nach Nuancierung, nicht nach Wiederkehr, auch in der hohen Kunst des Reims. Über die notwendige Verwandlung übernommener Formen werde ich später noch einen Satz anmerken.

   Nicht nur im „West-östlichen Divan, seinem erstaunlichen Alterswerk, eignete sich Goethe Östliches an, sondern auch Fernöstliches, noch später, in „Chinesisch-Deutsche Jahres- und Tageszeiten:

 

Dämmrung senkte sich von oben,
Schon ist alle Nähe fern;
Doch zuerst emporgehoben
Holden Lichts der Abendstern!
Alles schwankt ins Ungewisse,
Nebel schleichen in die Höh
;
Schwarzvertiefte Finsternisse
Widerspiegelnd ruht der See.

 

   In seinem unübertroffenen Gespür hat der greise Dichter, noch anhand von schlechten Übersetzungen ins Englische, die traditionelle chinesische Auffassung von Dichtung begriffen und zugleich in die deutsche Sprache und in eine deutsche Form des Gedichts gewendet. Das „schwarzvertiefte Finsternisse könnte gar eine direkte Übersetzung aus dem Chinesischen sein, wenn er das denn hätte lesen können. Vollkommene Anverwandlung gelingt ihm sogar bei den epigrammatischen Kurzformen chinesischer Dichtung:

 

Nun weiß man erst, was Rosenknospe sei,
Jetzt, da die Rosenzeit vorbei;
Ein Spätling noch am Stocke glänzt
Und ganz allein die Blumenwelt ergänzt.

 

   Nur der Kundige erkennt noch, daß Goethe einer chinesischen Form nachdichtet, und Spätere werden ihm bei solchen Aneignungen nachfolgen: Günter Eich, der Chinesisch hinlänglich konnte und manche Wortfügung, die er von chinesischen Dichtern gewohnt war, ins Deutsche übernahm, auch Bertolt Brecht, um nur die größten zu nennen:

 

Das kleine Haus unter Bäumen am See.
Vom Dach steigt Rauch.
Fehlte er,
wie trostlos dann wären
Haus, Bäume und See.

 

   Eines von Brechts ‚japanischen Gedichten ist das. Solche Wahrnehmung fern-fremder Dichtung belebte deutsche Sprach und Dichtkunst, deren Formen, Bilder, Ausdrucksmöglichkeiten, Ansichten der Welt im genaueren Sinn dieses Wortes. Niemand käme in den Sinn, für derlei eine Gesellschaft zu gründen. Vielleicht wäre ein Kongreß darüber vorstellbar; doch ließe sich Brecht als deutscher China-Dichter bezeichnen, obwohl er doch immer wieder Themen, Stoffe und Sichtweisen der chinesischen kulturellen Tradition entnahm? An Terzine und Ghasel zeigt sich, daß fremde Formen auf Dauer nur schwer in eine andere Literatur zu übertragen sind. Gelingen kann dergleichen nur, wie bei Goethe und Brecht, bei freiem Umgang mit dem an den Ausdrucksmöglichkeiten einer anderen Sprache Geschaffenen, das übernommen werden soll.

   Das Stichwort ‚Haiku erbrachte im Internet schon beim ersten Versuch 1785 Verweise auf deutsche Homepages allein, weltweit dürften das zehntausende sein. Und diese wären ebenfalls nicht virtuell, wie der überaus gegenwärtige Haiku-Kongreß, die nicht minder gegenwärtige „Deutsche Haiku-Gesellschaft mit zahlreichen überaus lebendigen anwesenden Haiku-Dichtern und Dichterinnen erweisen. Hier zeigt sich ein Geschehen in der Perzeption und Rezeption des Fernen Ostens, das sich von früheren Annäherungen deutscher Dichter an diesen unterscheidet. Die Haiku-Gesellschaft ist unter den aberhundert deutschen Dichtungs- und Dichtergesellschaften einzigartig, weil sie sich um eine einzige literarische Form gruppiert, eine fremde zumal. Als dermaßen erstaunliches Phänomen ist sie zugleich auch eine wahrnehmbare Wirklichkeit. Indes, in welcher Weise fügt sie sich in unsere anderen Wirklichkeiten, die alltäglichen und die poetischen?

   Nicht ohne Grund habe ich einige Worte über Terzine und Ghasel verloren zwei in ihren Heimaten überaus populäre, jedenfalls in der Vergangenheit, poetische Formen. Deren Übertragung wurde durch große Dichter versucht, von den minderen zu schweigen, doch diese Versuche setzten sich nicht durch, hatten keinen Bestand, bereicherten nicht tiefwirkend die deutsche Dichtung. Deswegen habe ich an zwei sozusagen ‚gescheiterte poetische Experimente erinnert, denn, scheint mir, auch der bisherigen deutschen Haiku-Dichtung drohen manche Gefahren. Soll es dem Haiku besser ergehen als Terzine und Ghasel, oder wird auch das Haiku bald eine in der deutschen Literatur gleichsam tote Form werden, trotz gegenwärtiger, vielleicht modischer Beliebtheit?

   Seit ich vor zwanzig Jahren deutsche Haiku-Dichtung und ‑Dichter kennenlernte, bin ich ihrem Schaffen stets mit rätselnden Fragezeichen begegnet. Soviel im Augenblick zu dem ersten Begriff im Titel meiner kleinen Rede.

 

2.

Jetzt sollte ich dem zweiten Begriff im angekündigten Thema einige Darlegungen widmen. Wer spricht hier zu Ihnen? Ein Unpoetischer steht vor Ihnen, erklärtermaßen und ein wenig schuldbewußt, denn was sollte ein solcher einer derart illustren und einzigartigen Poeten-Gesellschaft mitzuteilen haben, zumal er durchaus jeden Vergleich mit den berühmten „Betrachtungen eines Unpolitischen zu scheuen hat. Den Vergleich mit den „Bekenntnissen eines Opiumessers hingegen, den würde er nicht abweisen. Schließlich macht auch das Lesen und Bedenken von Gedichten süchtig, erst recht das von Haiku, und allem Anschein nach macht auch das Verfassen von Haiku süchtig. Gar von einer Haiku-Lust ließe sich wohl manchmal sprechen.

   Ich habe nie ein Haiku geschrieben, auch sonst meine Lebtage lang nur vier Gedichte. Der erste Vers meines ersten Gedichts blieb mir unauslöschlich in die Erinnerung eingegraben nicht wegen seiner poetischen Kraft, sondern meiner noch jungen Deutschlehrerin halber einer Gestalt, die stark in der poetischen Empfindung und in der Ironie war und der ich, unvorsichtig-stolz, als Siebzehnjähriger dieses erste Gedicht zugesandt hatte. Dieser unauslöschliche Vers aus meiner unvergänglichen Feder lautete: „Zähe Zähren weint der Kiefer Stamm. Die Lehrerin schrieb, ich lebte noch in der DDR, ich solle mich besser der Wissenschaft zuwenden, vielleicht gar der Theologie; ich könnte es bis zum Professor bringen, in der Theologie gar zum Bischof. Wie weit diese noch junge Frau voraussah, der ich unerhört viel verdanke!

   Ihr Urteil hemmte jahrelang meinen weiteren Weg in die Dichtung, obwohl sie mich zur Lektüre von Gedichten anhielt, aber auch der von Plato. Einen nächsten Deutschlehrer, jetzt in der Bundesrepublik, enttäuschte ich, als ich nach seinen ebenfalls begeisternden Literaturstunden den Gedichten von Eich, Benn, Trakl, Rilke, die ich meist nicht verstand, die Lektüre der Verse von Georg Britting vorzog. Erst später begriff ich seine Enttäuschung, denn Brittings Lyrik war tatsächlich oft banal, obwohl ich noch später allerdings auch bemerken konnte, daß sein schmaler Roman „Die Geschichte eines dicken Mannes, der Hamlet hieß ein großes Stück Prosaliteratur des 20. Jahrhunderts darstellt. Kein Mensch kennt den Roman mehr, aber die Gedichte Brittings finden sich immer noch in Anthologien „Der ewige Brunnen. Hausbuch deutscher Dichtung:

 

O jammervolle Welt, dem Tod bestimmt,
drin jeder Scherz sich muß zum Schmerze wenden!

 

   Beinahe alles, was ein Gedicht vermeiden soll vor allem die aufgesetzte Bedeutung findet sich hier: beinahe so schön wie meine „zähen Zähren.

   Allmählich fand auch ich in die Dichtung des 20. Jahrhunderts, war begeistert von Ungaretti, in den Übertragungen der Ingeborg Bachmann zunächst, und schrieb mein zweites Gedicht:

 

Wie
zwischen Maibrüsten
das topasne Band.

 

   Naja, doch immerhin: nur elf Silben! Offenbar war ich frühlingsbewegt, doch bereits damals faszinierte mich concetti-Dichtung der winzige, zugespitzte Einfall, der in ein Bild gerinnt, einen sprachlichen Witz als Überraschung in sich birgt und überdies ein ‚enigma, ein Rätsel, ein Geheimnis. Bald danach las ich die ersten japanischen Haiku.

   Meine weiteren opera erspare ich Ihnen. Das dritte habe ich vergessen, und das vierte wurde ein Nonsens-Gedicht:

 

Kein Mensch geht in einen Garten,
in welchem Fische warten.
Kein Mensch wartet, erst recht,
im Garten auf einen Hecht.

 

   So der Anfang, und genug davon! Ich habe ausreichend dargetan, dass tatsächlich ein Unpoetischer zu Ihnen spricht. Ein solcher sollte tunlich vermeiden, zu Dichterinnen und Dichtern über ihre Werke zu sprechen, schon gar nicht sollte er solche zu interpretieren versuchen. Sein Rätseln über die deutsche Haiku-Dichtung darf er immerhin darstellen. Geblieben ist mir nämlich die Bewunderung für Menschen, die Gedichte schreiben, schreiben können, sie auch in eine Öffentlichkeit tragen können. Verbunden damit bleibt eine Scheu, die ich nicht zögere, eine heilige Scheu zu nennen. Was die Menschen aller frühen Kulturen wußten, das läßt sich auch heute noch ahnen beim Nachsinnen über ein Gedicht: Dem gelungenen eignet ein Moment des Rätselhaften, Geheimnisvollen, Numinosen, das manchmal kaum beschrieben, sondern nur erfaßt, doch allemal bewundert werden kann. Das gilt in Sonderheit für die Haiku, die gelungenen.

 

3.

 

   Eine weitere Abschweifung erlaube ich mir. In meinem beruflichen Alltag, als Sinologe, habe ich beinahe unablässig Gedichte zu lesen, auch als Historiker. In wohl keiner anderen Kultur der Welt, auch der japanischen nicht, nahmen Gedichte einen so bedeutenden Platz ein. Niemand kann die Zahl der überlieferten aus den letzten beiden Jahrtausenden abschätzen, allein aus dem Zeitraum zwischen dem 6. und dem 9. Jahrhundert sind mehr als 50.000 bekannt, und wo sonst wäre vorstellbar, daß bei den Examina für die Beamtenauswahl das Schreiben von Gedichten unerläßlicher Bestandteil war. Die chinesische Dichtungstradition hat die japanische natürlich beeinflußt, und deshalb möchte ich auf zwei von ihren herausragenden Eigenschaften verweisen, weil sie mir! Wesensmerkmal aller Dichtung zu sein scheinen.

   Hierfür dienen mir zwei Kurzgedichte, da mir deren Formen die liebsten sind. In ihnen, den Kurzgedichten, entfaltet sich der Geheimniszauber der Dichtung stets am genauesten.

 

Es heult der Wind im Baum auf jener Mauer,
im Gras versinkt der Weg am Mauerrand.
Und in den Mauern
Zeit der Mondeshelle:
Sind Geister es, die kommen oder gehen?

 

   Das Gedicht besteht aus zwanzig Silben, die Wörtern entsprechen, und die Überschrift besagt, dass das Gedicht in Ansehung einer vor über tausend Jahren wüst gewordenen Stadt geschrieben wurde. Gespenstisch ist die Szenerie, mit den nächtlichen Schattenspielen, und das Gedicht drückt die trostlose Unvergänglichkeit des Vergänglichen aus, aber auch die Vergänglichkeit von allem Anschein nach Unvergänglichen unter anderem durch dreifache Wiederholung des Wortes ‚Mauer. Das ist ein eklatanter Regelverstoß, denn zu den gattungsspezifischen Anforderungen an diese Gedichtform gehörte, daß von den zwanzig Silben keine sich wiederholen dürfe. Das Gedicht gewinnt seine Bedeutung und seine Aussagekraft durch den Regelverstoß. Solch kunstvoller Regelverstoß gehört zu den Stilmitteln der größten Dichter in dieser Form. Ein anderes Gedicht: vier Verse zu je sieben Silben / Wörtern, einer kaiserlichen Garde gewidmet:

 

Da werden die Schecken herbeigeführt
   hin zu den Kaiser-Weiden.
Die singenden Peitschen treiben sie
   über die Wei-Brücke ostwärts.
Rosa Hufe stampfen quer
   Durch den Schnee vor Frühlingsmauern,
Blütenmäuler schnauben stolz
   In den Wind im Park des Höchsten.

 

   „Blütenmäuler das ist ein offensichtlich eindrucksvolles Bild, aber die eigentlichen Schönheiten dieses Gedichts sind verborgener. „Rosa Hufe? Tatsächlich, bei Schimmeln und Schecken vor allem läßt sich oft ein unmerkbar feiner Rosaschimmer der Hufe entdecken. Die Genauigkeit des Sehens, wie eben auch bei diesem „Baum auf jener Mauer ist ebenfalls eine Gattungserfordernis chinesischer Kurzgedichte, deren Erkenntnis den meisten ihrer Übersetzer freilich abgeht. Und dann: „Rosa Hufe stampfen quer quer? Das Wort, das hier steht, heißt üblicherweise „wirr, unordentlich. Eine kaiserliche Garde, die ungeordnet daherzieht? Nun, das entsprechende Schriftzeichen hat, etwas anders ausgesprochen, eben die Bedeutung „quer, die allerdings sehr selten ist, aber hier unter anderem auch durch das Versmaß gefordert wird. Es hat die besondere Schönheit, daß es auf ein viel älteres Gedicht anspielt, dessen Gehalt eben auch in dieses neue Gedicht übernommen wird. Über die Jahrhunderte und Jahrtausende hinweg sprechen auf solche Art Dichter und Gedichte miteinander und verraten das oft nur durch solche formalen Winzigkeiten.

   Kunstvolle Formverstöße, aber auch Genauigkeiten bei der formalen, auch lautlichen Strukturierung machen den Zauber dieser Kurzgedichte aus und immer wieder die Genauigkeit des Hinsehens, die ein simples ‚Über-etwas-Schreiben, gar noch vordergründig-sinnträchtiges, zu vermeiden hat.

   Von solchen Genauigkeiten spricht eine berühmte Begebenheit, die sich im 11. Jahrhundert ereignet haben soll: Den bedeutenden Staatsmann und Dichter Wang An-shih suchte ein jüngerer Beamter und ebenfalls Dichter auf, der noch dazu über eine Lästerzunge verfügte. Der Staatsmann ließ ihn in seinem Arbeitszimmer warten, wo er auf dem Schreibtisch den Anfang eines Gedichts erblickte, das den Chrysanthemen von Sui-yang gewidmet war. Neugierig las der Wartende, des Wartens überdrüssig, die beiden Verse, die auf dem Papier standen. Sie beschrieben, wie diese Chrysanthemen im Herbst ihre Blütenblätter abgeworfen hätten, so daß sie einen goldgelben Schleier über den Boden breiteten. Danach hatte der dichtende Staatsmann offenbar nicht weiter gewußt. Flugs ergänzte der Wartende, ein lästernder Naseweis:

 

Läßt eine Chrysantheme je die Blütenblätter fallen?
O Dichter, achte genauer auf deine Worte.

 

   Diese Blütenblätter trocknen gemeinhin am Stiel ein. Der Staatsmann verbannte den Lästerer ob dieser Frechheit in eben diesen fernen Kreis Sui-yang und überrascht sah dieser im nächsten Herbst, daß die Chrysanthemenart dort tatsächlich ihre Blütenblätter abwarf. Soviel zur Genauigkeit in chinesischer Dichtung, und eben diese Genauigkeit in der Wahrnehmung der Natur zählt zu den wichtigsten Gattungsmerkmalen auch der Haiku. Im Grunde gehört sie zu jedem Gedicht, von Sonderformen abgesehen. Bei vielen Haiku, neueren japanischen sowie auch deutschen, läßt sie sich nicht beobachten.

   Der Regelverstoß der unmerkliche beinahe, der nur dem genauen Kenner auffällt und der doch vom Autor in genauester Weise kalkuliert war , der Regelverstoß, der subtilste Gebrauch lautlicher Strukturen, immer wieder und noch öfter die andeutende Genauigkeit des Hinsehens, diese bewirken den numinosen Zauber, aber auch den intellektuellen, solcher chinesischer Gedichte, die mich Tag für Tag begeistern.

   Bei dieser Gelegenheit merke ich auch gerne noch an, daß die chinesische Dichtungstradition neben solchen 20- und 27- Silblern noch kürzere Formen der Poesie ausgebildet hatte. Eine volkstümliche, schon im 4. / 5. Jahrhundert, bestand gar aus nur 13 Silben, nach dem Schema ‚3-5-5 geordnet, war also noch kürzer als das Haiku. Ein Beispiel, das sich natürlich nicht in dreizehn deutschen Silben wiedergeben läßt:

 

Der Efeu an der Kiefer.
Ich wollte, du seiest die treibende Wolke,
die ich von Zeit zu Zeit vorüberkommen sehe.

 

   Eine sehnsuchtsvoll enttäuschte Geliebte spricht so. Sie sieht den lüsternen Efeu, welcher der knorrigen Kiefer, Symbol der Dauer und ewiger Jugendfrische allemal, eng anhaftet. Derlei enge Verbindung mag sie nicht mehr erhoffen, doch sie hofft noch auf die Flüchtigkeit der Wolkenbegegnung. Einige weitere erotische Assoziationen übergehe ich, doch ich meine, daß dieses frühe Kurzgedicht in seiner Verbindung von Bild aus der Natur und evoziertem Gedanken zu den - bislang unbekannten -  Vorläufern der Haiku zu zählen ist.

 

4.

 

   Das Haiku?! Bisher bestanden meine unpoetischen Anmerkungen zum Thema, nämlich deutscher Haiku-Dichter und -Dichtung, beinahe nur aus Abschweifungen und Umwegen. Rätselhaftigkeit für mich! hatte ich diesen anfangs zugeschrieben, und Rätseln soll man sich nie genau und direkt zu nähern versuchen, sondern sich langsam und behutsam ihren Tiefen und Abgründen! zuwenden und bei solcher Zuwendung alle möglichen Gedankenverbindungen knüpfen, von welchen wenigstens einige anzudeuten waren. Allerdings wurden die Kreise dieser Zuwendung allmählich etwas enger, und während der nächsten Minuten sollen sie sich noch um einen weiteren Radius verengen, vorsichtig freilich.

   Haiku? Der „Große Duden von 1929 kannte das Wort gar nicht, der „Duden von 1991 sagt trocken: „eine japanische Gedichtform, während schon das „Duden-Fremdwörterbuch von 1960 wußte: „aus drei Zeilen und siebzehn Silben bestehende japanische Gedichtform. Dem stattlichen dreibändigen „Literatur-Brockhaus von 1988 fehlt ein Stichwort „Haiku; Harenbergs fünfbändiges „Lexikon der Weltliteratur von 1989 widmet dem Haiku demgegenüber immerhin 32 Zeilen einer Spalte. Diese Beschreibung endet jedoch im 18. Jahrhundert, und als Marginalie zitiert sie die jahrzehntealte ‚Frosch und Teich-Übersetzung von Wilhelm Gundert. Die Gegenwart des Haiku findet keine Beachtung, nicht einmal im Nebensatz: die japanische nicht, schon gar nicht diejenige andernorts auf der Welt, erst recht nicht die deutsche. Solche lexikalische Enthaltsamkeit gibt zu denken. Sie läßt einen Rückschluß auf die Akzeptanz zu.

   Das Internet hingegen bezeugt eine unerhört lebendige Haiku-Szene, obwohl sie dem Außenstehenden hier und da ein wenig kunterbunt erscheinen mag. Eine Bio-Bibliographie der Mitglieder der Deutschen Haiku-Gesellschaft von 1994 liegt vor mir: 328 Seiten stark, und mehr als 300 Mitglieder umfaßte diese Gesellschaft schon damals. Wahrscheinlich hat sich diese Zahl seither noch beträchtlich erhöht, und manche Haiku-Dichter werden ihr vielleicht gar nicht angehören. Hunderte also sind es, die allein in Deutschland Haiku dichten! Erstaunlich ist, daß die meisten von ihnen anscheinend nur deutsche Haiku dichten oder verwandte Formen nutzen, nicht einfach deutsche Gedichte schreiben in den überkommenen oder neuen Formen. Statt dessen bedienen sie sich einer Form, die vor Jahrhunderten in Ostasien gefunden wurde, in einer gänzlich anderen Sprach‑ und Geisteswelt geschaffen, in anderen sozialen und kulturellen Wirklichkeiten überdies. Anscheinend auch werden von diesen Haiku-Dichtern, die nicht bloß einfach Dichter sein wollen oder Dichterinnen, die neueren Ausprägungen der Haiku-Dichtung in Japan, dem Heimatland, nicht recht zur Kenntnis genommen, obwohl sie hierzulande doch auch Teil jener japanischen Massenbewegung zur Verfertigung von Haiku sind. Was erklärt dem Unpoetischen dieses Phänomen der deutschen Haiku-Bewegung?

   Ist es leicht, ein Haiku zu schreiben leichter, als ein anderes Gedicht? Beim Blättern in der genannten Bio-Bibliographie begegnet der folgende Text:

 

Nach drei Monaten
noch kein Haiku fertig. Muß
zum Psychologen.

 

   Moros, mürrisch klingt das. Offenbar ist es doch gar nicht so einfach, ein Haiku zu verfassen. Das läßt sich nachvollziehen und erinnert an jenen alten chinesischen Poeten, der von einem Schüler gefragt wurde, wie er lernen könne, einen Text in der Form des damals populären Prosagedichts zu schreiben. „Lies tausend, riet der Poet, „und du kannst eines schreiben. Soviel Geduld mag nicht jeder Haiku-Dichter aufbringen, wenn ihn die Haiku-Lust ankommt, um wieder eines dieser zarten Gebilde zu Papier zu bringen. Warum aber ruft er nach dem Psychologen, warum geht er nicht einfach in die Natur und hält die Augen offen? Ist das Haiku-Dichten etwa gar ein Vorgang, der eher mit der Seele, denn mit der Sprache zusammenhängt? Jedenfalls ist dieser Dichter wohl gewohnt, meint der Unpoetische, seine Haiku schneller vollenden zu können, und er erinnert sich staunend eines anderen Haiku-Dichters, der seine Texte gleichsam im Fünf-Minuten-Takt zu verfertigen wußte in einem Prozeß serieller Sinnstiftung gleichermaßen. Beklommen bleibt er der eigenen schmerzlichen Erfahrung eingedenk, daß jedes Gedicht seinem Verfasser Mühe und Nachdenken abverlangt, ehe es in die Nähe der Vollendung gelangen kann, nicht eben nur die Spontaneität des Einfalls, denn Gedichte bestehen bekanntermaßen aus Worten und nicht aus gutem Willen. Unterscheidet sich die Haiku-Dichtung, die mir immer wieder als eine Lust erscheint, insofern von anderer Dichtung, verlangt sie eine andere Art von poetischer Schöpferkraft?

   Möglicherweise ist das so, denkt der Unpoetische, und das Schreiben von Haiku oder der ihm verwandten Formen, ist gar nicht ein poetischer Akt, sondern etwas anderes, vielleicht gar ein psychisches Phänomen. Hierfür könnte sprechen, daß viele, nicht alle, eben nur Haiku schreiben, nicht die überkommenen oder neueren Formen der deutschen Dichtkunst nutzen, daß sie nicht Dichter sind, sondern eben Haiku-Dichter. Vielleicht deutet ein weiteres Haiku in dieser Bio-Bibliographie auf solch einen Zusammenhang:

 

Den Schwarzen Walfisch
suchte ich, doch ich fand ihn nicht
in ganz Askalon.

 

   Einen wohlvertrauten Ort der deutschen Literatur, zumindest den Älteren aus Studententagen gut bekannt, findet dieser Haiku-Autor nicht an dem angestammten Ort. Vielleicht will er nur andeuten, daß er die gesamte deutsche Literatur nicht an den Orten findet, an welche sie gehöre. Dann wäre die angesprochene Haiku-Lust abermals eher eine außerliterarische Bewegung, die gleichwohl und trotzdem die Literatur zu ihrem Gegenstand gemacht hat. Sie hätte sich einer fremden literarischen Form zugewandt, weil die eigenen sie unbehaust lassen im Hinblick auf ihre Erwartungen an die Literatur der jüngeren Zeit. Hängt damit möglicherweise zusammen, daß die in dieser Bio-Bibliographie vertretenen Autoren und Autorinnen, letztere wohl in der Überzahl, nicht mehr unbedingt der Jugend zuzurechnen ist, die eher in den kräftigeren Techno-Klängen schwelgt. Der Autor, der den ‚Schwarzen Walfisch suchte, fand sich allerdings auch in den deutschen Haiku nicht recht wieder, denn böse notiert er:

 

Haiku in Deutschland -
Wilhelms Bananenschalen
in neuem Gewand?

 

   Das scheint zu besagen, daß deutsche Haiku durchaus nicht zu einer Erneuerung der poetischen Sichtweisen beitrügen, sondern daß sie auf banalen überkommenen Ansichten beruhten und diesen lediglich durch die andere Form den Anschein von Neuem verliehen.

   Wie dem auch sei: Wenn sich in deutscher Haiku-Dichtung unter anderem ausdrücken sollte, daß die deutsche Literatur allein den Notwendigkeiten des dichterischen Ausdrucks in unserer Zeit nicht genüge, dann wäre die deutsche Haiku-Dichtung zugleich auch ein soziales Phänomen. Das bedeutete ferner, daß sie Teil einer viel umfassenderen Entwicklung ist. Manches Haiku scheint auch das anzudeuten:

 

Weise Männer sind
hier und künden von Frieden,
von Liebe und Licht.

 

   „Weise Männer sind hierzulande weitgehend unbekannt. Die Vorstellungen von ihnen verbinden sich gemeinhin mit den Gedanken an asiatische Kulturen, fernöstliche vor allem. Und „Liebe und „Licht, auch der ‚Frieden der Seele sind Kernbegriffe zahlreicher Lehren, die in den letzten Jahren von dort in unseren Kulturraum gelangten und unsere Alltäglichkeiten zunehmend zu prägen beginnen. Sie fanden hier fruchtbaren Nährboden, weil alltägliche Sinnleere und ‑losigkeit von gar zu vielen Menschen, vor allem angesichts der ebenso alltäglichen Überreizungen der Sinne, schmerzlich empfunden werden. Auf der Suche nach Auswegen wäre dann auch das Haiku ein solchermaßen ersehnter Ort der Stille.

   Fernöstliche Lehren und Praktiken, die ich nur ungerne esoterische nenne, bestimmen zunehmend unser Leben. Das mag die Akupunktur sein, auch die unübersehbaren Taiji-Zirkel, die Lehre vom Feng-shui, die seit Jahren immer erstaunlichere Blüten hervorbringt, immer wieder das chinesische „Buch der Wandlungen, das numinose Qi, das Dao sowie Yin und Yang, die längst schon deutsche Wörter wurden, haben die Leben vieler hierzulande in mancher Hinsicht verändert. Ist etwa gar auch das deutsche Haiku Teil dieser hiesigen Hingabe an geheimnisvolles Fernöstliches, das zu hiesigen Genesungen beitragen soll? Allem Anschein nach ist das so, doch wohl nur auf den ersten Blick. Dafür könnte sprechen, daß solche Interessen sich gerne zu Kreisen, Zirkeln und Gesellschaften zusammenschließen, oft gar unter Abkehr von ihren alltäglichen Umgebungen. Orte und Augenblicke des Lichts und der Stille, des Friedens sollen gefunden werden. Die Haiku-Gesellschaft wäre dann Teil solchen alltagsflüchtigen gemeinsamen Einverständnisses.

   Indes, in solche Zusammenhänge läßt sich deutsche Haiku-Dichtung wohl nur bei oberflächlicher Betrachtung rücken. Dafür ist sie zu eigenständig, ihre Ursprünge liegen viel länger zurück, und dagegen sprechen auch viele Eigenheiten der Dichtungen selbst. Zwar fehlt es nicht an Hinweisen auf Fernöstliches in ihnen: Chrysanthemen, Bambusse, Glocken von Bergklöstern, Koto-Klänge und das Rauschen des Rieds begegnen in ihnen oft genug, und der Außenstehende fragt sich, ob sich hinter solchen Versen dann auch eine unmittelbare Anschauung verbirgt oder nur eine Vorstellung von einem Sehnsuchtsort. Viel häufiger sind die Gegenstände dieser Haiku jedoch, nach Morgenstern, „typisch deutsche Gegenstände: Buschwindröschen, Heilszeichen, Chopin, Hungerblümchen, Tee mit Rum, duftende Glöckchen und andere Diminutive, um nur einige Vokabeln aufzugreifen. Dagegen spricht auch die sogar für den Außenstehenden erkennbare Debattier- und Auseinandersetzungsfreude unter den deutschen Haiku-Autoren. Anscheinend suchen diese unablässig nach Grenzüberschreitungen, durchaus auch im Widerstreit, nach Erneuerungen der Inhalte, aber auch Ausweitungen und Verfeinerungen der überkommenen Form. Was läßt sich dabei nicht alles finden! Frauen-Haiku, Krimi-Haiku, politische Haiku, witzige Haiku, die aber nichts mit dem altvertrauten Haiku-Witz zu tun haben, erotische, obszöne gar, aber auch die der moralischen Betroffenheit:

 

Soldatenfriedhof.
Reihen, Reihen im Rasen
unterm Maihimmel.

 

   Dem Phänomen der deutschen Haiku-Dichtung läßt sich augenscheinlich nicht mit psychologisierenden Erwägungen beikommen, auch als soziales Phänomen allein läßt sie sich nicht begreifen. Das beste, was sich von ihr sagen läßt, bleibt, daß sie eine literarische Bewegung zu sein scheint eine solche zumal, die andere künstlerische Darstellungsformen, die Kunst und die Musik vor allem, zu ihrer Begleitung einlädt, mit welchen Beweggründen und Zielen auch immer. Das Rätseln darüber bleibt dem Unpoetischen trotzdem unbenommen.

 

5.

 

   Über alldem, in der Abkehr von Traditionalismen und bei all solchen Neuerungen, wird das Haiku allmählich eine deutsche Dichtungsform, die den Weg auch in die allgemeinere und größere literarische Öffentlichkeit findet und von dieser beachtet wird, wie jüngste Rezensionen lehren. Alle von mir angesprochenen Haiku weisen die eine oder andere Überschreitung der Grenzen des Gewohnten auf. Manche Autoren gehen noch weiter, sie literarisieren das Haiku auf ganz entschiedene Weise. Ein Beispiel aus jüngster Zeit:

 

Der Zweig ein Wehen
hinüber und hinüber
ein Wehen
der Zweig

 

   Ein Mitglied Ihrer Gesellschaft schrieb dieses Gedicht. Ein anderes Mitglied übermittelte mir dazu das Manuskript einer Interpretation. Einige Passus daraus möchte ich zusammenfassen: Die Interpretation spricht von der Symmetrieachse des Gedichts, die durch das ‚haikubescheidene unbetonte „und bezeichnet werde. Sie fährt fort:

   "Die Assonanz des ‚ei-Diphtongs ist unaufdringlich, weil sie auf eine betonte und eine unbetonte Silbe verteilt ist. Dennoch markiert sie lautlich in ‚Vers a eine Mitte und gibt ‚Vers c ein Rahmenelement. Mit Ausnahme des dunklen ‚u im unbetonten ‚und haben wir nur Vorderzungenvokale, die wir ja traditionsgemäß mit ‚hell und Bewegung assoziieren; aber trotz der Form des Dargestellten hat deren Wiederholung im ganzen hier eher eine beruhigende Wirkung. Gekonnt entgeht der Text der Versuchung, statt des zweiten ‚hinüber, etwa um Monotonie zu vermeiden, ‚herüber zu setzen. Ein hörbares ‚r brächte Unruhe in diese ruhige, immer gleiche Bewegung, welch letztere übrigens auch durch die mehrfache Wiederholung des ‚n-Lautes klanglich angedeutet ist."

   Dargestellt ist der Zweig eines Baumes, wie er wahrscheinlich durch ein Fenster beobachtet wird. [...] Sprachlich angezeigt ist der leise, aber konstante Druck hinweg vom Betrachter und hier trägt die zweite Bedeutung der Wortform ‚Wehen, nämlich ‚Schmerzen, etwas zur Stimmung bei etwas Elegisches, ein Zug, den wir nicht unerfühlt lassen sollen. Aber hauptsächlich ist es die genaue Beschreibung des Zusammenspiels von Zweig und dem Wehen des Windes, dieser so ‚natürlichen Einheit in der Natur, die hier Aufmerksamkeit erheischt.

   Soweit aus dieser Interpretation, die diesem Text allerdings noch weitere Feinheiten entlockt. Dann aber tut der Interpret noch mehr, zugleich läßt er seine List walten. Er erinnert an ein Gedicht von Georg Trakl, „Rondell:

 

Verflossen ist das Gold der Tage,
Des Abends braun und blaue Farben;
Des Hirten sanfte Flöten starben,
Des Abends blau und braune Farben;
Verflossen ist das Gold der Tage.

 

   Das Haiku ist auf diese Weise in der deutschen Literatur angekommen, ist ein deutsches Kurzgedicht geworden. Verloren hat es die Anmutung, den Hauch des Haiku-Fremden, was alles aber hat es gewonnen! Auf jeden Fall den Hauch des Gedichts, den kalkulierten Hauch der Kunst und der Sprachbeherrschung.

   Wenn die Haiku-Dichter auf den angedeuteten neuen Wegen fortschreiten, wird ihnen wohl bald etwas Einzigartiges gelingen etwas zumal, das den früheren Verfassern von Ghaselen und Terzinen verwehrt blieb. Sie würden der deutschen Literatur eine neue Form des Kurzgedichts übermitteln und damit zu einer sich ausbildenden Weltliteratur beitragen, die dereinst Herder und Goethe lediglich postuliert hatten, ein Vorgang von ungeheuerer Kraft, wenn man ihn denn nur ernst nähme.

   Ihnen, den Mitgliedern der Haiku-Gesellschaft, kann ich dafür nur meine Bewunderung ausdrücken für solchen Beitrag. Manches Rätsel blieb mir freilich, dem Unpoetischen. Mich reizte wohl, einmal eine Sozialgeschichte der deutschen Haiku-Dichtung zu verfassen, um tiefere Einblicke in deren bisherige Hintergründe zu gewinnen. Wenn jedoch einmal das deutsche Kurzgedicht, das auf die fremde Form des Haiku zurückging, Gemeingut des hiesigen Dichtens geworden ist, dann wird es wohl nie mehr einen Haiku-Kongreß, wohl auch nicht länger eine Haiku-Gesellschaft geben. Das allerdings wäre ein Grund zur Wehmut.