DEUTSCHE HAIKUSZENE - GERMAN HAIKU SCENE
von Werner Reichhold
 
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Deutlicher als zuvor haben in den letzten drei Jahren Verlage in Deutschland daran gearbeitet, sich der Weiterentwicklung des deutschsprachigen Haiku anzunehmen. Die unter Book Reviews an anderer Stelle erwähnten Publikationen deuten auf neue Ansätze, und es wird sich bald erweisen, dass die unterschiedlichen Wege, die deutsche Autoren anstreben, ihre Wirkung auch im Ausland nicht verfehlen. Vor allem aus dem Blickwinkel der zahlreichen, im englischen Sprachbereich erscheinenden Bücher und Magazine darf man sagen, dass eine Anzahl von Schriftstellern in Deutschland einen durchaus eigenen Ansatz zum Haiku erarbeitet haben.

   Innerhalb der größeren Literaturszene hofft man darauf, dass die anhaltende, sehr viel Papier verschwendende historische Rückbeziehung auf japanische Vorbilder ein Ende, zumindest aber eine Einschränkung erfährt. Die Wiederholung von längst Bekanntem und Verarbeitetem wirkt nicht nur ermüdend, sondern schürt unaufhörlich den berechtigten Verdacht, dass ohne diese Korsettfunktion japanischer Vorbilder anderssprachige Haiku nicht vertretbar wären. Und das, um es deutlich zu sagen, ist mit der Kreativität deutscher Schriftsteller unvereinbar. Vielmehr gilt es der Erörterung und Ausleuchtung dessen, was jetzt in Deutschland an Haiku geschrieben worden ist, weitesten Raum zu geben. Das würde denjenigen, die der engen Szene vorwerfen in Nachahmung zu verbleiben, den Wind aus den Segeln nehmen. Ziel ist, der Verbreitung von heute entstandenen Haiku weite Beachtung in anderen literarisch interessierten Kreisen zu ermöglichen. Wir sprechen von dreißig Jahren Haiku-Erfahrung. Wenn wir nicht konzentriert vertreten, uns in dieser Zeit mit der Arbeit am Haiku freigeschwommen zu haben, sehen wir alt aus, und die hinter uns liegenden Entwicklungen könnten nur als ein auslaufender Trend abgetan werden. Es soll Leute geben, die darauf lauern.

   Machen wir uns nichts vor: Was erwarten die Käufer, die gerne Übertragungen japanischer Dichtung gelesen haben? Sie suchen sicher keinen Verkaufsknüller, keinen steilen Hasen im Felde der Kurzpoesie. Was erhoffen sie zu finden, wenn sie englische oder deutsche Haiku in der Buchhandlung oder am Netz durchstöbern? Alles noch mal wie gelesen oder so ähnlich? Nein, das genau kaufen sie nicht, können sie auch nicht brauchen. Potenzielle Leser suchen, wenn sie denn suchen, nach wirklich neuen Haiku, die vom Stoff her und ihrer Gestaltung nach neue deutsche Dichtung repräsentieren, entwickelt aus unserer eigenen Sprachkultur. Wie, fragt der Interessierte, hilft das Haiku weiter zur geistigen Orientierung, was ist überraschend kurz und genial eindringlich zur Sprache gebracht? Was beurkundet darin einen neuen Menschen. Finden die Leser das, dann greifen sie auch in die Tasche und bezahlen. Ansonsten hängen sie still weiter am Glücksgefühl der hochgeschätzten Übertragungen japanischer Haiku.

   Wenn es denn so ist, dass die zu enge Kopplung dichterischer Inspiration an fremde, schon erprobte Vorbilder einen Energie mindernden Schatten auf dem Produkt hinterläßt, sollte sich die Frage stellen, worauf das beruhen könnte. In dieser Hinsicht erscheint es interessant, sich erneut die Arbeitsweise anerkannter Schriftsteller ins Gedächtnis zu rufen. Diese nämlich leben im Wachzustand ähnlich wie alle übrigen Menschen offen zu allen Eindrücken ihrer umgebenden Natur. Dann aber kommt die Nacht, der Schlaf. In diesem Zustand - und das wissen wir nicht erst seit Freud werden die am Tage aufgenommenen Eindrücke neu geordnet, eingeordnet in schon seit Urzeiten angelegten organischen Substanzen. Wissenschaftler wollen belegen, dass wir während der Schlafperiode im Unterbewußtsein Arbeit leisten, oder besser, dass eine Art Verarbeitung alles schon angelegten Materials mit dem neu hinzugekommenen Stoff stattfindet. Eine aber ganz seltsame Fügung scheint es möglich zu machen, dass sich die Methode der Verarbeitung bei einigen Personen deutlich unterscheidet von derjenigen anderer. Es wird umschrieben als ein im Unterbewußtsein entstehender Sprung, so als ob Materie die Fähigkeit hätte, in Selbstorganisation eine Mutation auszulösen.

  Die schwer zu beantwortende Frage bleibt, wie der Einzelne dieser in ihm stattfindenden Mutation später im Wachzustand eine künstlerische Gestaltung geben kann. Wir fragen, wie kann aus der Sprache der Nacht, der Traumwelt, eine Sprache des Tages und eine Schrift werden? Es geschieht  und viele Menschen haben diese Erfahrung gemacht - dass wir, durch welchen Anlaß auch immer, schon während der Schlafperiode oder am sehr frühen Morgen erwachen und, noch nicht bei vollem Bewußtsein, plötzlich ein Bild sehen oder einen Text klar vor Augen haben. Diese oft ganz kurze Botschaft enthält sehr wahrscheinlich die einer Person absolut einmalig zugehörende Prägung. Diese Botschaft ist das Haiku der Nacht, am Tage registriert". Wegen der zeitlichen Flüchtigkeit dieser Erscheinung gilt, sie unmittelbar zu notieren. Meine Empfehlung läuft darauf hinaus, diesem hier beschriebenen Phänomen Raum zu gewähren, ihm eine Chance einzuräumen, und ihm eine von allen erlernten fremden Inhalten und Schreibmethoden befreite eigene Form und Aussage zu verleihen.

    Natürlich kann alles das im Tagtraum sich ähnlich vollziehen. Mitten durch ein Sonnenbad gellt ein AHHH über Algen und Muscheln am sonst fast leeren Strand. Vom Ohr zum Bleistift sollte es ein blitzschneller Griff sein. Den Moment gibt es nicht, zwischen Flut und Ebbe ist alles Geschehen ein Fließen, ein vor oder nach dem Rauschen. Bis das unsere Registriermaschinerie erreicht, müssen unzählbare Operationen fein sauber ineinander greifen. Der Verlauf des eigentlichen Schreibvorgangs ist dann das letzte Glied in einer komplizierten Kette von Schaltungen, die wir nur teilweise durchschauen.

   Alle Ehre dem Haiku, es ist als Form Ursache alles dessen, was Generationen schon für diesen Vers an gestalterischen Möglichkeiten bereit gehalten haben. Er, der so sehr kurze Vers, öffnet zum Beispiel den Blick auf ein Gebilde mit anlockender erster Fallenstellung, gefolgt von einer geplanten Irreführung, und mit der dritten Zeile fällt der Vorhang: Hervor tritt der Hase im Mond, der neue Zahn in Kindesmund; eine Verknüpfung von zuvor noch nicht aufeinander bezogenen Phänomenen. Es ist genau dieser gleichzeitig stattfindende polyfokale Blick auf die Natur draußen und seine Reflexion aus unserem Innern, die zusammen die Produktion in bildender Kunst und Literatur seit dem letzten Jahrhundert vorangebracht haben. Dem Haiku, der Haiku-Sequenz und besonders dem gemeinsamen Schreiben steht in dieser Hinsicht noch sehr viel Raum zur Verfügung.

   Das "Märchen von den 17 Silben, die auszogen andere Sprachen anzuziehen" ist unsentimental beigesetzt. Die Runde macht, es sei ein Schelm, wer sich noch leistet zu diesem Thema Krokodilstränen fließen zu lassen. Die Anzahl der im Haiku verwendeten Silben ist das Resultat größter sprachlicher Verdichtung, beruht aber längst nicht mehr auf der Innehaltung eines mißinterpretierten Zählsystems.

   Wenn wir davon ausgehen, dass die kleine oder mittlere Gruppe aufgehen wird in einer einzigen, schnell miteinander korrespondierenden Gemeinschaft der Schreibenden am Netz, dann verstehen wir, welche Formen zu erwartende Kritik in Zukunft annehmen wird. Unsere Arbeiten werden ohne an Personen gebundene Rücksichten miteinander verglichen und beurteilt. Wie ein jeder von uns nur nach dem wirklich inspirierenden Neuen Ausschau hält, so unterliegt die eigenen Arbeit eben diesen Kriterien genau so unbarmherzig.

   Den mutigen Verlegern ist sehr zu danken, denn ohne ihren langen Atem ist die Vertretung der japanischen Genres im großen Literaturbetrieb kaum zu bewältigen. Die deutschen Autoren des Haiku herauszustellen ist mehr denn je von Bedeutung, weil sie ohne Frage mit ihren besten Arbeiten die allgemeine Literaturszene beeinflussen können. Man möchte vermuten und wünschen, dass es nicht lange dauern wird, dann kann so etwas wie ein Ruck durch die Medien gehen, die, beeinflußt durch Neuerscheinungen auf dem Markt, dieser lyrische Kurzform endlich die ihrem Wert entsprechend Beachtung schenkt. Eine in den U.S.A. mit viel Überlegung und ausgefeilter Strategie bevorzugte Methode der Verbreitung des Haiku besteht darin, diese Form den Verantwortlichen für die Lehrerausbildung näher zu bringen. Im Haiku schlummert ein kaum zu überschätzendes poetisches Potenzial, das, wenn in geschulten Händen angeboten, Lehrern wie Studierenden einsichtig macht, welche geheimnisvollen Bereiche eines allgemeinen künstlerischen Erwachens hierdurch angeregt werden können.

   Wie gesagt, die deutsche Haikuszene verschafft sich aus ganz eigenen Energien heraus zunehmende Beachtung. Um den einzelnen deutschen Autoren Gelegenheit zu bieten, ihren Arbeiten, und damit ihren Namen ein vielgelesenes Forum zu eröffnen, gibt es das amerikanische Magazin LYNX, am Netz unter Ahapoetry.com, als erstes Kapitel dort leicht aufzufinden. Ahapoetry.com, begleitetet und unterstützt internationale Entwicklungen seit 1988. Am Netz seit 1998, deutet die Leserzahl von 670.000 Einschaltungen auf weitgestreutes internationales Interesse. Sowohl auf dem Postwege (Ahapoetry, P.O.Box 767, Gualala, CA 95445, U.S.A.) als auch bevorzugt über e-mail (wreichol@mcn.org) nehmen wir Haiku, Tanka, Haibun und renga/renku, sowie weiterführende Versuche über diese Formen hinaus zur Publikation an. Ahapoetry.com ist bekannt für weitgehende Offenheit gegenüber Autoren, die Neuland hinter den japanischen Genre zu erforschen trachten. Einsendungen bitte zweisprachig, in deutsch und English, und, wenn gewünscht, auch als Übertragung in weitere Sprachen. Die Veröffentlichung erfolgt dann ebenfalls mehrsprachig.

Stellungnahmen zum dargelegten Stoff sehen wir entgegen und werden darüber im  Magazin LYNX berichten.