Ekkehard May

Mitleiden mit der Kreatur
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Auch wenn sich das westliche Haiku weitgehend verselbständigt und emanzipiert hat, ist es doch keine Gattung sui generis, sondern beruht auf der japanischen Form- und Stiltradition, auf die sich seine Verfasser auch immer gern berufen. Eine ständige Rückbesinnung auf die Wurzeln ist aber dabei wichtig und eine kontinuierliche Nach-Rezeption meines Erachtens immer wieder notwendig. Sie bringt sicher nicht nur Erkenntnisse, sondern auch Anregungen. Für mich als Japanologen, der sich in den letzten zehn Jahren vor allem mit dem klassischen japanischen Haiku beschäftigt hat, wirkt das deutsche Haiku, trotz der zunehmenden Beschäftigung mit ihm, immer noch ein wenig fremd. Meine Leseerwartung ist ›Haiku‹, und ich erfahre – natürlicherweise – westliche Lyrik in ungewohnter, exotischer Kurzform. Ich vermisse spontan einen festen Rahmen zur Einordnung, mir begegnet eine gewisse Regellosigkeit, die freilich auch Freiheit bedeutet oder verheißt, aber auch in die Beliebigkeit führen kann. Interessant wird es für mich, wenn ich gleiche oder ähnliche Sujets in deutschen ›Haiku-Versen‹ entdecke. Zum einen freut mich die Entdeckung dichterischer Universalien, zum anderen gibt es Gelegenheit, die Unterschiede im poetischen Zugriff zu erkennen und darzustellen.
  Vor einem Jahr hatte ich schon einmal die Gelegenheit, anläßlich einer solchen Themen-Koinzidenz – hier war es der »Schatten eines Falken« – drei japanische Verse ähnlicher Thematik vorzustellen (»Bewegte Schatten").1 Diesmal gab ein Haiku von Ursula Mach, das Margret Buerschaper in einer Buchrezension vorstellte,2 die Anregung:
 
Er liegt im Herbstlaub.
Der verletzte Tagfalter
fliegt niemals mehr auf.
 
Bei meiner Übersetzungs- und Kommentierungsarbeit zu Autoren der Nach-Basho-Ära im 18. Jahrhundert stieß ich auf folgenden Vers von Oshima Ryota (1718-1787):
 
akikaze ni / kataha wazurau / kochô kana
 
Im Herbstwind, ach
ein Falter mit einem
verletzten Flügel!
 
Der Ausdruck »kataha wazurau« ist schwer genau übersetzbar, wörtlich etwa ›mit (nur) einem Flügel leiden‹. Im Herbst sieht man bekanntlich häufig Schmetterlinge mit lädierten Flügeln, die ›Abnutzung‹ während eines langen und vielleicht turbulenten Sommers
zeigend, auch Spuren von Schnabelhieben Insekten jagender Vögel, denen der Falter gerade noch entkommen konnte.
  Worin unterscheiden sich die beiden Verse? Das japanische Haiku beschwört die Vorstellung von einem Falter herauf, der sich mit seinem lädierten Flügel durch den schon frischen Herbstwind kämpft, hin und hergeschüttelt sich nur schwer zielgerichtet bewegen
kann. Der Taumelflug, das Torkeln und das Ausgeliefertsein an die Witterung zeigt sehr deutlich, das sein ›Lebensflug‹ bald vorüber sein wird. Ein Vers mit einer intensiv melancholischen Herbststimmung – im klassischen japanischen Haiku ist bekanntlich
das Nachfühlbarmachen der Jahreszeiten-Atmosphäre an Hand von wenigen, allgemein verbindlichen Indikatoren (›kigo‹) das A und O. 
›Schmetterling‹ (›cho‹ oder ›kocho‹) ist ein fröhliches ›buntes‹ Jahreszeitenwort für den Frühling, der ›Herbstfalter‹ (›aki no cho‹) ist Einsamkeit und Abschied. Die Stellungnahme des Autors, das Mitfühlen oder Mitleiden ist nur im ausrufenden »kana« zu entdecken, das die dargestellte Beobachtung abschließt (»wazurau«, ›leiden an‹, gibt eher den objektiven Befund der Versehrtheit
wieder).
  Im Vers von Ursula Mach liegt der Falter schon am Boden, im Herbstlaub. Ein interessantes, stimmiges Bild, denn auch die ›abgelebten‹ Blätter sind zu Boden geflattert. (In Japan ist übrigens, bedingt durch die gegenüber unserem Klima etwas verschobenen Vegetationsperioden, das ›abgefallene Laub‹, ›ochiba‹, Jahreszeitenthema für den Winter; nur das ›bunte Laub‹, ›momiji‹ oder ›koyo‹, das noch an den Bäumen ist, gilt als ›Herbstlaub‹.) In der letzten Zeile denkt die Autorin weiter, zieht gewissermaßen ein Resümee, zeigt so ihr Mitfühlen. Das mag für den westlichen Dichter wichtig sein, vom westlichen Leser
erwartet werden. In klassischen japanischen Versen gibt es jedoch über die punktgenaue Vergegenwärtigung hinaus keine Zusammenfassung, kein Weiterdenken oder ›Nach-Denken‹ im wahrsten Sinne des Wortes. 
  Von einem weiteren Autor, der vor allem in der zweiten Hälfte des 18 Jahrhunderts aktiv war, Tan Taigi (1709-1771), stammen die folgenden drei Verse, die ein ›Mitgefühl‹, ein ›Mitleiden‹ mit der Kreatur erkennen lassen. Der erste, durch das Auftreten der »Spatzenkinder«, ›suzume no ko‹, ein Frühlingsvers, lautet:
 
ochite naku / ko ni koe kawasu / suzume kana4

 

Mit dem Kind, das aus
dem Nest fiel, tauscht sie Tschilpen aus,
die Spatzenmutter!
 
Eine auf den ersten Blick ganz neutrale Beschreibung einer dramatischen und für den Spatzennachwuchs lebensbedrohlichen Situation. R.H. Blyth, der große englische Haiku-Exeget schreibt: 
"This verse could easily fall into sentimentality. If saved from it, it is by the ›exchange‹ of cries of mother and child. The young one cannot return to the nest; the mother is afraid to leave it. What can we do? What God does, look on or look away in silence."
  
Blyth erkennt scharfsinnig, was es bei diesem Vers möglich machte, eine völlig objektive und doch sprachlich staunenswert prägnante Schilderung des anrührenden Ereignisses zu geben.
 
Auch im nächsten Haiku finden wir keinerlei emotionale Beteiligung des Autors:
 
mizugame e / nezumi no ochi-shi / yosamu kana6
In den Wasserkrug
ist eine Maus gefallen
kalt ist schon die Nacht!
 
Dieser Wintervers läßt Dunkelheit, ein unheimliches Geräusch im Haus, Kälte, Verlassenheit (?) vorstellbar werden. Ob sich die Maus ertränkt hat, ist nicht gesagt. Ob der Dichter eventuell Mitleid mit ihr hat, auch nicht. Ob er froh ist, daß nun vielleicht ein Hausschädling weniger existiert, ob er sich ekelt, das mühsam geschöpfte Wasser wegschüttet? Keine Auskunft, keine Reflexion. Nur der kurze poetische Augenblick ist wichtig, atmosphärisch eindringlich erfaßt und mit einem Ausruf versehen. 
 
Der letzte Vers von Taigi bringt ein für uns sehr ungewöhnliches, ja seltsames Sujet aus der Tierwelt:
 
bôfuri ya / teru hi ni kawaku / ne-nashi-mizu7

 

Mückenlarven –
in heißer Sonne trocknend
Tümpel ohne Zufluß
 
Die Mückenlarven (heute ›bofura‹) sind im ›haikai‹ ein gar nicht so seltenes Thema, einigermaßen regelmäßig als Sommer-›kigo‹ auftauchend. Von einigen sehr bekannten Dichtern (Buson, Shozan, Issa) finden sich Verse zu diesem Sujet, meist in Verbindung mit
einem Ausdruck wie ›tamarimizu‹, ›Pfütze, stehendes Wasser‹ u. ä. Bekanntlich können sich Mückenlarven in Fließwassern nicht entwickeln, sie sind auf stehende Wasser angewiesen. Unser Dichter sieht sie hier in einer Wasserlache ohne erkennbaren Zufluß (›nenashi‹); sie bewegen sich voller Energie, doch das Wasser wird bald von der brennenden Sonne (›teru hi‹) ausgetrocknet sein. Die Insekten haben keine Überlebenschance. Ist der Dichter froh, daß es ein paar Plagegeister des Sommers weniger geben wird? Fühlt er gar mit? Wenn wir eine ›Aussage‹ destillieren wollen, dann ist es die Darstellung der Vergeblichkeit des Ins-Leben-Kommens überhaupt, was an das alte, klassische Ästhetik-Ideal des ›mono no aware‹, des ›Angerührtseins von der Vergänglichkeit aller Dinge‹, gemahnt. Das klassische Haiku hat (wenn es gut ist) keine explizite Aussage. Es segmentiert die Erscheinungen, Geschehnisse in der Welt und zeigt. Im gewählten Ausschnitt und in der Komposition der Elemente liegt die Aussage.
 
1) Vierteljahresschrift der deutschen Haiku-Gesellschaft Nr. 62, 2003, S. 15-19.
2) Vierteljahresschrift der deutschen Haiku-Gesellschaft Nr. 64, 2004, S. 46.
3) Ryota kushu (»Verssammlung Ryota«, 1769). In: Nihon haisho taikei (»Kompendium der japanischen haikai-Schriften«), Fukyu-han Bd. 23 (= Temmei meika kusen 1.), Tokyo, Shunjusha 1930, S. 149.
4) Taigi kusen ("Versauswahl Taigi", 1772). In : Nihon haisho taikei ("Kompendium der japanischwen haikai-Schrifte"), Fukyû-han Bd. 23(= Temmei meika kusen1.) Tokyô, Shunjûsha 1930, s. 98.
5) R. H. Blyth: Haiku. Eastern Culture. Bd. 1-4. 4, 1992, Bd. 2, S. 518.
6) Taigi kusen (Anm. 4), S. 107.
7) Ebd., S. 100.