Die
„Schatten-Aktivitäten“ der Ahlener Haiku-Gruppe (vgl. VDH; Nr.60,
2003, S.41f.) gaben mir eine willkommene Anregung. Bei meiner gegenwärtigen
Übersetzungs- und Kommentierungsarbeit zu Haiku-Dichtern der Generation
nach Bashô und seinen unmittelbaren Schülern, war ich auch auf einige
reizvolle Verse zum Thema „Schatten“ gestoßen. Der „Schatten
eines Falken“ kam dabei – eine nette Koinzidenz – überraschenderweise
auch vor! Die freundliche Aufforderung und Ermunterung, weitere
„Schattenspiele“ beizusteuern, greife ich gerne auf, zwar nicht mit
Eigenschöpfungen aber doch mit der Vorstellung und der „Nachschöpfung“
von vier interessanten Versen japanischer Haiku-Dichter, die bei uns
kaum bekannt sind und in den meisten Anthologien nur mit ein paar
Versen, wenn überhaupt, vertreten sind. Im Anschluß an meine
Vorstellung möchte ich dann noch ein paar Reflexionen zum Ahlener
Falken-Vers anfügen.
„Schatten“,
eine so auffällige Erscheinung der visuellen Phänomene, spielt wohl in
der Lyrik aller Welt eine überragende Rolle. In Japan ist es natürlich
nicht anders, doch Japan wäre nicht Japan, wenn es hier nicht eine
gravierende Besonderheit gäbe. Das Wort „kage“, normalerweise mit
„Schatten“ übersetzt (und im Lexikon auch so zu finden), meint
seltsamerweise nicht nur die dunkle Seite einer Hell-Dunkel-Aufteilung,
sondern auch die helle. D.h. es kann sowohl den Lichtschein meinen als
auch den Schatten, den er durch sein Vorhandensein erzeugt! So ist der
Mondschein (neben anderen Vokabeln), „tsuki-kage“ oder „tsuki no
kage“, der Sonnenschein „hi-kage“ oder „hi no kage“. Die
Doppeldeutigkeit von „kage“ kann in der geschriebenen Sprache durch
die Verwendung verschiedener chinesischer Schriftzeichen eindeutig
gemacht werden, doch im Haiku, das mit wenig Sinnschriftzeichen
auskommt, spielen solche Differenzierungen kaum eine große Rolle.
„kage“
kann weiterhin, und das macht die Interpretation und Übersetzung oft so
schwierig auch allein eine visuelle Er“schein“ung, ein Bild eines
Gegenstandes, eines Phänomens allgemein ausdrücken. „omokage“
beispielsweise ist die Vorstellung von einem Menschen, seinem Gesicht,
seiner Erscheinung, wie er war und wie man ihn in der Erinnerung –
oder der Tradition – festgehalten hat.
Die
beiden ersten Verse, die ich vorstellen möchte, stammen von Hayano
Hajin (1677-1742), der bei Kikaku und Ransetsu studiert hatte (vgl. mein
„Shômon I“, 2000, S. 22-77 bzw. 126-173), also ein Enkelschüler
von Bashô war. Hajin gewann größere literaturhistorische Bedeutung
u.a. dadurch, daß er in seinen späten Lebensjahren der erste
haikai-Lehrer von Yosa Buson (1716-1783) wurde, dem sicher bedeutendsten
Haiku-Dichters des späten 18. Jahrhunderts. Der erste Vers zunächst in
der Transkription des japanischen Originals:
naki-nagara
kawa
tobu semi no
hi-kage
kana
(Nihon
koten bungaku zenshû = NKBZ Bd.42, Shôgakkan 1972, S. 222). Wörtlich
übersetzt, in der sog. Interlinearversion, heißt das: „Ach, der
Schatten der (einer) Zikade, die, Töne von sich gebend, über den
(einen) Fluß fliegt!“ Meine freie und metrische Übersetzung dazu
lautet:
Mit
schrillem Zirpen
der
Schatten einer Zikade
fliegt
über den Fluß!
Die
Zikade („semi“), kigo für den mittleren und späten Sommer (Juni,
Juli), sitzt beim Singen normalerweise am Stamm eines Baumes. Daß sie
hier fliegend und singend beschrieben wird, ist etwas Besonderes,
daß sie nicht selbst, sondern „nur“ ihr Schatten im Fokus von
Beobachtung und Beschreibung steht, ist außergewöhnlich. Der
japanische Kommentator Yamashita Kazumi (NKBZ) imaginiert zwar den
Schatten der Zikade auf dem grünlichen Flußwasser – und bringt damit
zu Recht Farbe ins Bild – interessanter ist aber vor allem die
Vorstellung von der Bewegung vor einer anderen Bewegung. Dadurch,
daß der Schatten der Zikade beschrieben wird, spielen sich beide
Bewegungen – vielleicht gegenläufig – auf ein und derselben Fläche
ab, ein bewegter Schatten auf einer selbst bewegten, vielleicht dunkelgrünen
Oberfläche des fließenden Flusses, ein eindrucksvolles „Bild“
verstärkt durch die Imagination des durchdringend schnarrend-sirrenden
Klanges des Zikaden-Sanges. In diesem Vers steht ausdrücklich der
„Sonnen-Schein“ (hi-kage) für den Schatten, was anzeigen
kann, daß die große helle Umgebung den winzigen bewegten Schatten
dominiert. All das bringt eine äußerst suggestive und intensive, synästhetische,
d.h. mehrere Sinneseindrücke vereinende Vergegenwärtigung von dichter
japanischer Sommer-Atmosphäre mit sich.
Der
zweite Vers von Hajin hat den schon erwähnten Falken im Visier:
hayabusa
no
chi
ni sasu kage ka
kaze
no kiku
Die
Übersetzung kann hier so wörtlich bleiben, daß sich eine
dazwischengeschaltete Interlinearversion erübrigt:
War
es der Schatten
des
Falken, den Boden streifend?
Chrysanthemen
im Wind
(NKBZ,
S. 223; „hayabusa“ ist der Wanderfalke, Falco peregrinus; „taka“,
der gewöhnliche und unspezifische Ausdruck für den Falken meint
meistens den kleineren und nicht so seltenen Turmfalken, Falco
tinnunculus).
Auch
hier sind zwei Bewegungen beschrieben, die aber auf den ersten Blick
nichts miteinander zu tun haben müssen. Der Schatten fällt auf die
Erde, den Boden („chi ni sasu“), durch das zäsurbildende kireji „ka“,
das hier einen leicht erstaun fragenden Ausruf markiert, deutlich von
der letzten Zeile abgesetzt, die „Chrysanthemen im Wind“ („kaze no
kiku“). Der Leser kann einen Zusammenhang herstellen, muß
es aber nicht. Der in der stillen, sonnigen Herbstatmosphäre (die
Chrysanthemen sind kigo für den Spätherbst, Oktober) unvermittelt
auftauchende Schatten des Raubvogels erzeugt einen gelinden Schreck.
Fast meint man die Flügel über sich rauschen zu hören. Und man sieht
auf einmal die Chrysanthemen auf ihren hohen Stengeln schwanken, so als
habe sie der schwarze Schatten in Bewegung versetzt und nicht etwa ein
aufkommender, herbstlicher Windstoß. Auch hier ist wieder Synästhesie
im Spiel: Das optische Phänomen, der blitzschnelle schwarze Schatten,
erzeugt ein kinetisches Ereignis, die Bewegung der Chrysanthemen,
vielleicht von einem Rauschen begleitet!
Der
dritte Vers stammt von Tachiba Fukaku (1662-1753), ein über Jahrzehnte
in der haikai-Szene von Edo (heute Tôkyô) einflußreicher Literat,
Verlagsbuchhändler und berufsmäßiger haikai-Meister, der eine große
Zahl von Schülern und Anhängern aufweisen konnte. In seinen jungen
Jahren seines mehr als neunzigjährigen Lebens hatte er noch Kontakt mit
den Dichtern aus der Traditionslinie des Bashô-Schülers Kikaku gehabt,
entwickelte aber später einen sehr eigenartigen eigenen Stil mit
komplizierten, verblüffenden Wortspielereien – weit entfernt vom
Shômon-Stil.
Das folgende Haiku aus seiner frühen Schaffenszeit (aus der Sammlung
„Tsuzuki no hara“, 1688) ist freilich noch frei von den späteren,
heute nicht mehr geschätzten, Stilelementen:
waga
kage ni
oi-tsuki-kanuru
kochô
kana
(NKBZ,
S.209). Die Übersetzung ist einfach, und es fällt leicht, ganz wörtlich
zu bleiben:
Meinem
Schattenbild
vermag
er nicht zu folgen,
ach,
der Schmetterling!
Die
Beobachtung, daß Schmetterlinge einem oft eine Strecke Wegs zu folgen
scheinen, ist simpel und treffend in einen Vers umgesetzt. Der eigene
Schatten bewegt sich aber nicht geradlinig vorwärts, er tanzt auf und
ab mit den Unebenheiten des Weges und verschiedenen, dazwischenkommenden
„Hindernissen“ am Rande der Strecke. Der so „tanzende“ eigene
Schatten und der flatternde Schmetterling („kochô“, kigo für „Frühling“),
der mit ihm nicht Schritt halten kann – eine wunderbare Impression
eines Weges durch einen sonnigen Frühlingstag.
Der
Vers ist auch lautlich gut gelungen: Die vielen Alliterationen auf
„k“, die zwar keinerlei lautmalende Bedeutung haben, erzeugen aber
eine starke klangliche Geschlossenheit, wie sie Haiku bevorzugt aus
dieser Periode häufig aufweisen. Man sollte den japanischen Vers laut
vor sich hinsprechen, um seiner Qualität auf dieser Ebene nachzuspüren.
Selten
nachzubilden, hier nur als Experiment verstanden, die Häufungen der „sch“-Laute
zur klanglichen Vereinheitlichung („stabreimend“!) in der Übersetzung:
Ach,
er schafft es nicht,
meinem
Schattenbild zu folgen,
schau,
der Schmetterling!
Der
vierte und letzte Vers, den ich vorstellen möchte, stammt von Kaga no
Chiyo (auch einfach Chiyo oder Chiyo-jo bzw. Chiyo-ni, 1703-1775), einer
in Japan zeitgenössisch äußerst populären Dichterin. Daß sie auch
bei uns im Westen sehr beliebt geworden ist, mag an ihren feinen,
poetischen und doch schlichten Versen liegen, die leicht übersetzbar
und auch ohne Kontextkenntnisse und deshalb auch ohne längeren
Kommentare gut nachvollziehbar sind.
Auch
in diesem Fall gibt es interessanterweise wieder eine doppelte Bewegung,
einen flüchtig bewegten Schatten, der vor der stetig in Bewegung
befindlichen Oberfläche eines Flusses oder Baches beschrieben wird:
yuku
mizu ni
onoga
kage ou
tombo
kana
(s.
Daisaijiki Bd.2, Shûeisha 1989, S. 155; Miyamori Asatarô, An Anthology
of Haiku Ancient and Modern, Reprint 1964,11932, S. 429)
In
diesem Falle ist es nicht die sicher selten über dem Wasser
anzutreffende Zikade wie im ersten Haiku, sondern die Libelle (kigo für
den Frühherbst, August), die natürlicherweise mit dem Wasser
assoziiert ist:
Auf
fließendem Wasser
ihren
eigenen Schatten jagt,
eine
Libelle!
Der
kunstvolle Schwirrflug, Zickzackflug führt die Autorin zu der
Vorstellung, daß die Libelle – ein Raubinsekt! – ihren eigenen
Schatten für ein Beutetier halten mag und deshalb dicht über der
Wasseroberfläche dahinjagt.
Wie
so häufig bei Chiyo bleibt außer dem fein beobachteten und
beschriebenen Bild kaum ein „Nachklang“ (yoin, yojô), d.h. kein
Raum für weitere Assoziationen, Reflexionen übrig, weshalb die
Dichterin bei den Kritikern in Japan gar nicht besonders gut angesehen
ist.
Vielleicht
mag der eine oder andere Leser noch eine weitere, übersehene
Assoziation zu dem Vers bemerken und seine Überlegungen dazu
beisteuern?
Der
anrührende Vers von Barbara Westphal über den Falken:
Überm
Spatzennest
der
Schatten des Turmfalken –
Nur
ein kleiner Schrei ...
erzählt
eine kleine Geschichte, wie dies auch in Haiku aus dem Ursprungsland
nicht selten vorkommt. Doch der Vers „erzählt die Geschichte aus“,
sagt zuviel, trotz der Pünktchen, die eine Auslassung suggerieren. Die
letzte Zeile, auch wenn so erlebt und abgeschildert (japan. shasei), ist
fürs Haiku zu präzis und „logisch“. Japanische Kritiker bezeichnen
solche Verse, auch bei der Besprechung alter Haiku, als „waza-to-rashii“,
d.h. „(zu) absichtsvoll erscheinend“, keine Stiltugend im haikai.
Zuviel zu sagen oder „Schlußfolgerungen“ zu ziehen sollte man
meiden. Die Andeutung, die Vermittlung von Stimmung, der so und so gefühlten
Atmosphäre muß reichen. Alles andere liegt beim Leser. Im vorliegenden
Fall liegt alle Aussage im Gegensatzpaar „Falke“ –
„Spatzennest“ schon überdeutlich zutage: Eine latente Bedrohung.
Jedes Wort darüber hinaus wäre zuviel. Jetzt fehlte nur noch eine
zeitliche oder lokale Situierung („Spatzenkind“, „Spatzennest“
ist natürlich kigo für den Frühling), die auch den „Schatten“
erklärlich macht. Vorschlag:
Überm
Spatzennest
der
Schatten eines Falken –
Mittagshimmel,
hell
P.S.:
Haiku entstanden auch im Japan der Edo-Zeit selten aus einem Guß,
perfekt aus einer spontanen Eingebung; nach der Erstfassung wurde –
wie viele Quellen, auch aus dem Bashô-Kreis, belegen, gefeilt,
„gebosselt“ und wieder und wieder verworfen. Auch bei Aufnahme einer
„fremden“ Zeile (z.B. vom Meister einer Schule), blieb das Gedicht
in Gänze das ungeschmälerte geistige Erzeugnis des Autors. Das
„Feilen und Polieren“, wie es im Ahlener Text heißt (es muß ja
nicht gleich das arme „Neugeborene“ sein), ist ganz gewiß die
Hauptarbeit. Und daß diese „Arbeit“ Spaß macht, zeigt in
sympathischer Weise die muntere Aufforderung zum schöpferischen Tun.