Ruth Franke
Amerikanische Haiku. Elizabeth Searle Lamb

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In Anlehnung an Martin Berners Bericht über das amerikanische Haiku in der VJS Nr. 56/Februar 2002 möchte ich in loser Folge einige herausragende Autoren mit ihren Haiku vorstellen. Eine solche Auswahl ist immer subjektiv und nie vollständig – ich habe über einen längeren Zeitraum notiert, was mich ansprach.
„A haiku a day / keeps the doctor away“, schrieb James Kirkup einmal. Elizabeth Searle Lamb, 1917 geboren, ist ein gutes Beispiel dafür, dass die Beschäftigung mit dieser Kurzlyrik auch im hohen Alter wach und lebendig erhält. Sie gilt als eine der großen Haiku- und Führungs-Persönlichkeiten Amerikas. Nicht nur durch ihre Werke, sondern auch durch ihr Engagement in vielen verantwortungsvollen Positionen hat sie die Haiku-Szene entscheidend mitgeprägt. Sie war — um nur einiges herauszugreifen — Gründungsmitglied der Haiku Society of America und deren Präsidentin, Herausgeberin der vereinseigenen Zeitschrift „Frogpond“ und schrieb mehrere Dokumentationen über die Entwicklung des amerikanischen Haiku. Ihre eigenen Haiku-Bücher sind in viele Sprachen übersetzt, auch ins Japanische und Chinesische; über 150 Preise hat sie gewonnen und ist dabei stets bescheiden geblieben.
Schon früh hat sie sich der freien Form zugewandt, blieb experimentierfreudig und entdeckte noch im hohen Alter die Möglichkeiten des Internet für ihr dichterisches Schaffen. Viele ihrer Haiku haben die Musik zum Thema (sie studierte Harfe). Sie hat die Eindrücke von ihren zahlreichen Reisen ebenso prägnant in Worte gefasst wie die Einsicht in die mystische Welt der Pueblo-Indianer im Südwesten und die Faszination von Pflanzen und Tieren der Wüste. „Jede Form trifft genau das Thema, das die Dichterin inspirierte“, schreibt Makoto Ueda über ihre letzte Haiku-Sammlung, eine Retrospektive. „Aber über das Können hinaus“, so William J. Higginson im dazugehörigen Vorwort, „durchdringt ihr Werk ein zentraler Frieden — ein tiefer Einklang mit dem Leben, so wie es ist.“
deep into this world  
of Monet water lilies 
no sound…
tief in dieser Welt
von Monets Seerosen
kein Laut…
the boiling surf
covering uncovering
the black rock
of Bathsheba
die kochende Brandung
bedeckt und legt frei
den schwarzen Felsen
von Bathsheba
flight of the crane
surely just dream but
this white feather
Flug des Kranichs
sicher nur Traum aber
diese weiße Feder
glissandos
rippling from the strings
wind from the sea
Glissandos
tönen von den Saiten
Wind vom Meer
the blind sculptor
his own features
on all the bronzes
der blinde Bildhauer
seine eigenen Gesichtszüge
auf allen Bronze-Skulpturen
the fisherman casting   into a cloud   deepening shadows
into the deepest of the nightdark   the talking drums
der Fischer wirft   in eine Wolke   dunkler werdende Schatten
ins tiefste Nachtdunkel   die sprechenden Trommeln

spotting an antelope —
    that long moment
            before he jumps
eine Antilope entdecken —
      dieser lange Augenblick
               bevor sie springt
for sale
a rhinoceros beetle tethered
on a pink string
zu verkaufen
ein Rhinozeros-Käfer angebunden
an einer rosa Schnur
he emptiness
were the eyes were in the shed
snakeskin
die Leere
wo die Augen in den Lidern waren
Schlangenhaut
Übersetzung: 
Ruth Franke
Literatur:
Across the Windharp. Collected and New Haiku by Elizabeth Searle Lamb. Preface by William J. Higginson, Introduction by Miriam Sagan. La Alameda Press: 2000.