Thomas Hemstege
Ungemalte Worte - Haiku und Synästhesie
Festvortrag zum 6. Haiku-Kongress 1999 in Goldenstedt
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Sehr geehrte Damen und Herren, liebe Haijin!
 
Um gleich zur Sache zu kommen: Haben Sie all Ihre Sinne beisammen? Wenn wir uns nach der klassischen Tradition richten, sollten das mindestens fünf sein, nämlich Sehen, Hören, Schmecken, Riechen und Tasten. Aber es soll da ja auch noch einen sechsten Sinn geben, und eine Fernsehsendung titelt gar: „Der 7. Sinn". Wie ist es eigentlich um unsere Sinnesorgane bestellt, ohne deren Leistungen wir uns und die Welt nicht wahrnehmen könnten? Ich möchte Ihnen ein paar Überlegungen vortragen, wie sich menschliche Sinneswahrnehmungen im japanischen Haiku widerspiegeln. In vier kurzen Kapiteln stelle ich Ihnen ganz persönliche Gedanken zum Haiku vor und begreife diese als reizvolle Denkanregung für Sie.
 
78 Kilogramm Sinnlichkeit
Die ersten zwei Haiku, die ich vorstellen möchte, führen dem Leser die mächtigste aller menschlichen Sinneswahrnehmungen vor Augen. Ob wach oder schlafend, ununterbrochen erfahren wir sie, richten unser gesamtes Weltbild nach ihr aus und sind uns ihrer dennoch selten bewußt. Diese allgegenwärtige sinnliche Erfahrung bildet den Hintergrund vieler Haiku. Das erste Beispiel stammt von Fusei, das zweite von Giku:
Prächtige Nüsse.
Doch schaut man hin, fallen sie
unentwegt herab.
Fusei
Draußen stürmt der Herbst.
Dennoch wirft eine Ratte
den Pilgerstab um.
Giku
 
Hören Sie, wie die Nüsse durch das Laub prasseln, bis sie dumpf unten im Gras aufschlagen? Erschrecken Sie mit dem Dichter, wenn im anhaltenden Tosen des Herbststurmes plötzlich der Pilgerstab auf den Boden knallt, und ihn die fiese Ratte so ungewollt daran erinnert, daß er eigentlich in diesem Unwetter auf Wanderschaft sein sollte?
Doch es ist nicht der Hörsinn, den diese Gedichte anschaulich machen, sondern unsere Sinnesleistung, die die Erdanziehung mißt. Die Schwerkraft dominiert unsere Welt: Alles fällt, wenn es nicht auf dem Weg dorthin aufgehalten wird, zum Erdmittelpunkt hin. Wäre da nicht der Boden, fielen die Nüsse tiefer und tiefer. Rudolf Arnheim beschreibt diesen Sachverhalt in seinem Buch „Die Macht der Mitte" so: „Der Tisch hält das Buch; der Fußboden hält den Tisch; die Grundmauern halten den Fußboden; und der Erdboden hält das Haus. Alles befindet sich im Zustand einer abgestoppten Bewegung nach unten. "
Diese gewaltige Kraft der Erde wird uns, in den meisten Fällen unliebsam, vor allem dann klar, wenn wir uns auf eine Personenwaage stellen, um unser Körpergewicht zu überprüfen. Unser Körper besitzt tatsächlich Sensoren, die die Erdanziehung registrieren: im Vestibularorgan, das sich im Innenohr befindet und auch für den Gleichgewichtssinn verantwortlich ist. Wie elementar diese Grunderfahrung für Erdenbewohner ist, stellten alle Astronauten fest, die in der Schwerelosigkeit des Weltalls hoffnungslos die Orientierung verloren: Es gibt dort kein Oben und kein Unten mehr, die Welt steht Kopf und auch wieder nicht.
Blickt man aus der Perspektive dieses Sinnes auf die Haiku, gewinnen sie - wie ich meine - eine zusätzliche Bedeutungsebene: Der Regen fällt, das Blütenblatt, der Hagel und dem müden Wanderer fällt es nicht mehr leicht, gegen die Schwerkraft anzugehen und einen Fuß vor den anderen zu setzen. Wenn Sie einmal in Ihren Büchern blättern, werden Sie feststellen, daß das Motiv „gebremste Bewegung" in vielen Haiku eine dezente, aber gewichtige Rolle spielt.
Dem folgenden Gedicht von Shoha sei vorbemerkt, daß Kamelien zu den Pflanzen gehören, die ihre Blüte nicht Blütenblatt um Blütenblatt abwerfen, sondern die Blüte als Ganzes verlieren.
 
Die Kamelie.
Im FaIlen bleibt sie hängen
mitten im Blattgrün.
Shoha
Der ehrwürdige Blyth stellt fest: „The best haiku on the camellia are concerned with its falling." Und gibt anschließend an: Die Japaner glauben, Kamelienblüten fallen so plötzlich ab wie ein menschlicher Kopf, der abgeschlagen wird. Vielleicht hilft uns diese Aussage ja zum besseren Verständnis des folgenden Gedichts von Bakusui:
 
Die Kamelie
fiel ab. Ein Mönch lachte auf
im Vorübergehen.
Bakusui
 
Obwohl wir diesen einleitenden Gedanken schön weiterspinnen könnten, möchte ich ihn nicht weiter vertiefen. Lassen wir noch einmal Arnheim zu Worte kommen: „Ein Grunderlebnis der menschlichen Freiheit besteht in der Überwindung der Schwere. In Vögeln und Insekten erschauen wir den Sieg über die Tyrannei der Schwere."
Ohne weiteren Kommentar folgen nun drei Haiku:
Eine Fledermaus.
Im Gestrüpp verfinstert sich
ihres Fluges Klang.
Shiki
Hoch in die Lüfte
schwingt sich die Lerche und läßt
die Kinder warten.
Sampu
 
 
Den Winteregen
läßt nicht zu Boden fällen
der stürmische Wind.
Kyorai
 
Neben den fünf Hauptsinnen verarbeiten also in unserem Körper unzählige Sinneszellen Unmengen an Informationen über unsere eigene Befindlichkeit und die Welt, die uns umgibt. Spezielle Muskelsinne teilen unserem Gehirn in tiefster Finsternis mit, daß wir unsere Arme gestreckt vor uns halten, wir nehmen Temperatur wahr und nicht zuletzt Schmerzen in den unterschiedlichsten Abstufungen. Erst das Zusammenspiel all dieser Sinneswahrnehmungen, seien sie nun bewußt oder unbewußt erlebt, läßt uns die Welt so überraschend vielfältig erfahren, wie wir sie erleben. Mag uns heute plötzlich der Duft einer Rose in seinen Bann schlagen, am nächsten Tag sind die Karten der Sinne neu gemischt, und unsere Nase jubiliert nicht, wenn wir an der Rose vorbeilaufen.
Für die folgenden Betrachtungen möchte ich den Begriff „Synästhesie" so allgemein fassen, wie es Wahrig in seinem „Deutschen Wörterbuch" tut: „Verknüpfung verschiedener Empfindungen, Miterregung eines Sinnesorgans, wenn ein anderes gereizt wird." In der europäischen Literaturwissenschaft beschreibt dieser Fachausdruck Formulierungen wie „golden wehn die Töne nieder" von Brentano, in denen also optische, akustische oder haptische Eindrücke miteinander verbunden werden. Dieses sprachliche Stilmittel wird von den japanischen Haikudichtern so selten eingesetzt, daß man allgemein sagen kann: Synästhesie kommt im japanischen Haiku nicht vor.
Ein gerne zitiertes, aber gar nicht so eindeutiges Beispiel für Synästhesie stammt aus dem Pinsel von Basho.
 
Das Meer wird dunkel.
Ein weißer Schimmer
beim blassen Ruf der Enten.
Bashô
 
Das besondere an diesem Haiku ist zunächst, daß Basho die Zäsuren des Regelhaiku geändert hat und den Rhythmus 5 - 7 - 7 wählte. „Umi kurete", „das Meer wird dunkel", dann „kamo no koe", „der Enten Ruf" und schließlich „honaka ni shiroshi", „ein blasses Weiß". Das Kireji „shi" steht ungewöhnlicher Weise am Ende des Gedichts und betont das „Weiß", das sich aber nicht notwendig auf das Quaken der Enten beziehen muß. Alle westlichen Übersetzer sehen hier allerdings das Prinzip der Synästhesie verwirklicht, so zum Beispiel Jan Ulenbrook, der diese Fassung veröffentlichte:
 
Der See verdämmert,
Und das Gequack der Enten
Ein schwaches Weiß nur.
Bashô
 
 
Synästhesie im europäischen Sinne gibt es also kaum im japanischen Haiku. Mit dieser Erkenntnis können Sie nach Hause gehen und aufatmen: Endlich einmal ein kurzgefaßter Festvortrag, ganz so, wie es sich für einen Haikukongress gehört. Doch wie es nun mal so ist: Gerade weil es so einfach ist, wird es nun kompliziert. Denn ich muß Ihnen sagen: Das japanische Haiku lebt von der Synästhesie, ja gehört geradezu zu den sinnenfreudigsten Gedichtsformen der Welt. Ich will versuchen, Ihnen dies zu erklären.
 
Aufforderung zum Tanz
Für die nicht akademischen Richtungen der Tuschmalerei, also für die sogenannte Literatenmalerei und besonders für den japanischen Sumie-Stil gilt: Die freien, nicht bemalten Flächen im Bild besitzen dieselbe Wertigkeit und Bedeutung wie die vom Pinsel auf dem Papier hinterlassenen Tuschespuren. Erst durch die Wechselwirkung zwischen ausgesparten und bemalten Stellen entsteht beispielsweise das Bild eines mit fünf Strichen gemalten Granatapfels. Das Nicht-Malen wirkt also wie das Malen. Dies ist ein künstlerischer Prozeß, der das bereits vorhandene, nämlich Farbe, Textur und Struktur des Papiers ohne weitere Bearbeitung in seinem ursprünglichen Zustand beläßt und durch die sparsamen Pinselstriche sogar noch hervorhebt.
Toshihiko Izutsu schreibt dazu in „Philosophie des Zen-Buddhismus": „Dieses Prinzip gründet sich auf das Wissen um die Ausdruckskraft des Nicht-Ausdrucks, das heißt die ausdrückliche Abwesenheit des Ausdrucks. Dies gilt für beinahe alle diejenigen Künste, die für die östliche Kultur charakteristisch sind." Auf das Haiku übertragen bedeutet das: Das nicht gesagte Wort hat dieselbe Wertigkeit wie das gesagte. Manchmal ist ein nicht formuliertes Wort sogar wichtiger als alle fixierten siebzehn Silben zusammen.
Untersuchen wir ein Haiku von Gonsui mit Blick auf die Synästhesie:
 
Im trüben Mondlicht
schwanken die Pflaumenblüten.
Der Kater riß aus.
Gonsui
 
 
Was ist hier geschehen? Ohne nach draußen zu blicken, sitzt nachts eine Person möglicherweise in einem Raum mit geöffneter Tür zum Garten hin. Mit einem Male verstärkt sich der Duft der Pflauinenblüten ganz vehement, was eigentlich nur bedeuten kann, daß deren Zweige bewegt worden sein müssen. Vom Wind vielleicht? - Bis jetzt sind wir noch allein mit Reizungen des Geruchssinnes beschäftigt, obwohl dieser im Gedicht nur indirekt angesprochen wurde. - Doch komisch, heute geht doch überhaupt kein Wind! Die Person wird jetzt neugierig und möchte die Situation nun doch mit dem Augensinn überprüfen. Tatsächlich: Die Blütenzweige schwanken noch immer. Hinter dem Obstbaum erblickt die Person gleichzeitig den Frühlingsmond verschwommen am Nachthimmel. Und in diesem Moment hört sie ein paar heimliche Geräusche, vielleicht sogar ein fernes Schnurren oder gar gieriges Miauen.
Langsam dämmert es der einsamen Person - nehmen wir einmal an, das ist sie -, welches allabendliche Spielchen durch den Duft der Pflaumenblüten verraten wurde. Der eigentliche Akteur dieser poetischen Szene, der geile Kater, ist überhaupt nicht auf der Bühne erschienen, war gar nicht zu sehen. Das ganze Schauspiel erschließt sich uns erst. wenn es den beiden angesprochenen Sinnen. Riechen und Sehen, gelingt, zusätzlich weitere Sinne mit in Schwingung zu versetzen.
Wieso übersetzen eigentlich alle das japanische Wort „neko" mit „Kater", obwohl es für sich allein genommen, geschlechtsneutral ist und sowohl „Katze" als auch „Kater" bedeuten kann? Um das zu verstehen, bedarf es einer zusätzlichen Information. Denn schon in der klassischen chinesischen Literatur gilt die Pflaumenblüte als Inbegriff der holden Weiblichkeit und besonders auch für deren treue und feinsinnige Liebe. Aus der Zusammenstellung „Pflaumenblüte" und „Katze/Kater" ergibt sich daraus spontan die Assoziation „Frau-Mann".
Jetzt können wir unseren Gedanken freien Lauf lassen: Der flexible Kater und der unbewegliche, ortsgebundene Pflaumenbaum. Der Schwerenöter tritt auf dem Sprung zur Geliebten noch einmal kräftig auf den Blütenzweig. Die Trauer der Blüten wird zu so starkem Duft, daß er selbst den herrlichen Frühlingsmond verschleiert. Wir sind jetzt mitten in einer gegenseitigen Erregung der Sinne, die bis zur Verwirrung oder zum Rausch führen kann.
Kehren wir zu der Person zurück, die vor einigen Minuten den sich verstärkenden Duft der Pflaumenblüten wahrgenommen hatte. Ist es vorstellbar, daß auch ihr Temperatursinn angesprochen wird, und es ihr fröstelt? Sich ihre Wahrnehmung der Schwerkraft spürbar verstärkt und sie mit einem Mal das Gewicht der Erde empfindet? Kann es sein, daß diese Person nun sogar von schneidenden Schmerzen durchdrungen wird, ja vielleicht sogar den Gleichgewichtssinn verliert und zusammenbricht? Wer hätte gedacht, daß ein derartig harmloses Frühlingsgedicht mit einem solch dramatischen Tumult der Sinne enden kann?
 
Ein Haiku gewinnt seine Plastizität, und damit seine Tiefe, durch Synästhesie, allerdings unter der Voraussetzung, daß die angesprochenen Sinne die anderen miterregen, ausgesprochene Worte ihr Echo im Nicht-Gesagten finden. Damit ein solcher Prozeß in Gang gesetzt werden kann, muß sich einerseits der Dichter über dieses künstlerische Prinzip im Klaren sein und seine Worte entsprechend wählen, andererseits der Leser dazu bereit, die gereizten Sinne schwingen und sich selbst in den leeren, nicht ausformulierten Raum tragen zu lassen. Diese Bereitschaft scheint mir häufig bei westlichen Kritikern zu fehlen, dann nämlich, wenn sie behaupten: „Dieses Gedicht ist reine Beschreibung und kein Haiku." So etwas könnte man zum Beispiel ohne Zweifel von folgendem Gedicht von Boncho sagen:
 
Vollmond im Sommer.
Tausend Gerüche füllen
die Gassen der Stadt.
Boncho
 
 
Ein schlichtes Haiku. Gut, ich sehe den Mond, nehme, wenn ich mir nicht die Nase zuhalte, die Gerüche wahr. Ganz nett, aber das war's. - Doch auf einmal klebt mir das Hemd am Körper, rieche ich meinen eigenen Schweiß, ärgere ich mich darüber, daß mich die Schwüle in meinem Zimmer nicht schlafen ließ, daß ich durch die Straßen laufe, um Erfrischung zu suchen, die ich natürlich zwischen all den Leuten nicht finde, weil ich alle paar Minuten jemanden stöhnen höre: „Mann, ist das heute schwül!" Der Duft der Garküchen weckt meinen Appetit, schnell ist ein guter Happen gegessen, ein Schluck kalter Sake getrunken, da fühle ich mich schon besser. Nach all diesen aufdringlichen Eindrücken fällt mein Blick nun auf den Mond am nächtlichen Himmel: Was muß es dort droben kühl und still sein! So oder ähnlich kann es jemandem ergehen, der nicht nur die paar Worte des Haiku liest, sondern auch die folgenden Worte wahrnimmt, die nicht geschriebenen, die sich in ihnen spiegeln.
 
Die Plätze sind nicht nummeriert
 
Im letzten Abschnitt habe ich es mir leicht gemacht, als ich eine Ich-Person in die Schwüle der Sommernacht versetzte, im Abschnitt davor klang mein Versuch, das Haiku von der Pflaumenblüte und dem Kater auszumalen, holprig, weil ich ständig durch eine Person sprach, die angeblich das Szenario durchlebt. Aber wir stehen vor einer merkwürdigen Schwierigkeit: Im japanischen Haiku ist selten festgelegt, aus welcher Perspektive heraus der Leser das Haiku sehen soll. Denn zum einen kennt das japanische Haiku nicht das uns vertraute „Lyrische Ich", zum anderen läßt die japanische Grammatik den persönlichen Bezug der Verben weitgehend offen, nämlich ein Wort für „ich, du er sie es gehe, gehst, geht" und gleichzeitig auch für „wir, ihr, sie gehen, geht". Oftmals schränkt der Sinnzusammenhang die Möglichkeiten ein, häufig bleiben sie jedoch der persönlichen Einschätzung überlassen.
Ich wähle als Beispiel ein Ihnen sicherlich bekanntes Gedicht von Basho aus, um dieses Problem, vor dem auch jeder japanische Leser steht, deutlich zu machen. (Für alle, die gerne Silben zählen: Basho setzte hier 5 - 9 - 5 Silben ein.) Zunächst die Übersetzung von Paul Lüth:
 
Auf blattlosem Zweige
hockt eine einsame Krähe.
Müde geht der Tag zur Neige.
Basho
Dieses eingängige Bild voller Herbsteinsamkeit steht jedem von uns sofort vor Augen, ist beinahe zum Urbild unseres Haikuverständnisses geworden und hat in der westlichen Rezeption japanischer Haiku lange Tradition. Doch ganz abgesehen davon, daß das Wort „einsam" im Original überhaupt nicht vorkommt, es weist nichts in diesem Gedicht darauf hin, daß die Einzahl der Hauptworte zu wählen ist. Ganz im Gegenteil: Aller Beobachtung nach suchen Krähen abends in kleinen Gruppen ihre Schlafbäume auf. So kann ich dieses uns so lieb gewordene Bild durchaus anders darstellen:
 
Auf kahlen Asten
ließen sich Krähen nieder
Es dämmert der Herbst
Basho
(Die letzte Zeile berücksichtigt, daß das Kigo „aki no kure" die Doppelbedeutung von „Dämmerung im Herbst" und der „Der Herbst geht zu Ende" hat.)
Doch zurück zur Synästhesie. Bot mir das erste Bild die Möglichkeit, mit dem einsamen gefiederten Burschen da oben Mitleid zu haben, mit ihm zu frieren, mit ihm Sehnsüchte zu teilen und die Angst, nachts im Schlafe vom Baum zu fallen, habe ich beim zweiten Bild eine unruhige Bande zeternder Schwarzvögel vor Augen, die sich die besten Plätze im Geäst streitig machen, und die es selbst unter immer schwerer werdenden Lebensbedingungen nicht schaffen, harmonisch miteinander zu leben.
Unabhängig davon aber, ob eine Krähe oder ein Vogelschwarm, ob ein Zweig oder Äste - und beide Fassungen stehen gleichberechtigt nebeneinander! -, der Standort des Betrachters ist in keinem der beiden Fälle näher bestimmt. Sitze ich beim Tee in der warmen Stube und blicke durchs Fenster auf die kahlen Zweige oder bibbernd auf einer Bank im Park, ohne zu wissen, wo ich die Nacht verbringen werde? Die Befindlichkeit in die sich der Leser versetzt, um ein Haiku auf sich wirken zu lassen, bestimmt im höchsten Maße die Art seiner Sinnesreizungen. Doch abgesehen von in Prosatexten eingebundenen Gedichten, geben Haiku in der Regel keine Hinweise darauf, von wo aus ein Bild, eine Szene gesehen wird. Jeder Leser muß sich selber einen Punkt suchen, von dem aus er das Gedicht betrachtet. Da viele Dinge im Haiku zwar an-, aber nicht ausgesprochen werden, fällt es oft schwer, einen Gegenstand zur Standortbestimmung zu finden. Wie ein ostasiatisches Tuschbild kennt das Haiku keine Perspektive, keinen festgelegten Raum. Das ist es gerade, was die Übersetzer oftmals so hilflos macht, das führt dazu, daß man sich manchmal beim Vergleich zweier Übersetzungen fragt, ob beide dieselbe Urfassung zum Vorbild hatten. Hatten sie, aber diese wurde von zwei verschiedenen Augenpaaren gesehen, aus zwei unterschiedlichen Perspektiven.
Im Zusammenhang mit deutschen Übersetzungen möchte ich kurz auf eine Kleinigkeit hinweisen. Häufig stehen in diesen Übertragungen ohne durch das Original vorgegeben zu sein, knappe Befehle wie: „Die Nachtigall, horch!" oder „Sieh die Fledermaus!" Das geht nun völlig am Geist des japanischen Haiku vorbei! Nur ganz gezielt, dann eher ironisch, wird im Haiku der Imperativ eingesetzt. Wenn überhaupt, und da sind wir beim Thema, stünde im Haiku: „ Der Schmetterling, riech!" oder „Der Blütenduft, schau!".
 
Ein Bild ist ein Bild
 
„Dichterlandschaften" benannte G. S. Dombrady seine Anthologie über den Haikudichter Buson, und in diesem Buch findet man neben „Sommer" und „Mond" eine interessante Kapitelüberschrift: „Bildhaftes". Dort steht: „Auch bei Basho und Issa ergibt vielfach ein Vers ein Bild", und etwas weiter: „Ein Bild ist ein Bild, ob in Worten oder visuell sichtbar." Nanu, läßt sich durch diese Tautologie die Frage nach der Funktion von Bildern in der Lyrik klären? Sollten tausende von Literaturwissenschaftlern völlig überflüssiger Weise über den Unterschied zwischen poetischen Sprachbildern und gepinselten Gemälden nachgedacht haben, über Vergleich, Symbol, Metapher, Allegorie und Emblem? Eine eindeutige Bestimmung dieser Termini ist bereits innerhalb der europäischen Sprachen äußerst schwierig, wird aber fast unmöglich, wenn man poetologische Fachausdrücke der Chinesen, Japaner und Koreaner in die Auswahl einbezieht. Ich glaube, Ruth Cremerius spricht in ihrer umfangreichen Arbeit über den chinesischen Dichter Xu Zhimo vielen aus dem Herzen, die sich dieser Aufgabe stellten. Sie beginnt ihr Kapitel mit der Überschrift „Bild" so: „Man mag den Segen von sprachlichen Bildern spüren oder nicht, das Fluchen überkommt einen gewiß, sobald man sich mit den notwendigen Begriffsbestimmungen befaßt."
Damit ich vor Ihnen nicht ins Fluchen gerate, wage ich mich auch nicht an eine genaue Definition vom Bild im Haiku, möchte aber einen Moment bei diesem Aspekt verweilen. Sie werden bereits gemerkt haben, daß ich häufig Begriffe der Kunstwissenschaft auf Haiku angewandt habe. Ich habe von der Plastizität eines Haiku gesprochen, von ungemalten Worten und Perspektive. Das gründet zum einen natürlich darin, daß ich als Maler die Welt in erster Linie visuell begreife, zum anderen sicherlich auch in der Natur der Haiku, deren Bildhaftigkeit gerade im Zusammenhang mit Synästhesie ins Auge springt.
Wie verwirrend der unscheinbare Begriff „Bild" ist, zeigt sich an einer auffälligen Erscheinung: Schreiben Literaturwissenschaftler über ein sprachliches Bild, fordern sie, es müsse richtig gesehen werden. Umgekehrt bemühen sich Kunstwissenschaftler darum, ein Gemälde richtig zu lesen. So zum Beispiel Hans Peter Duerr in seinem Buch „Nacktheit und Scham", in dem er mehrmals mit Nachdruck sagt, daß man ein gemaltes Bild als ein Zeichen aufzufassen habe, das gelesen, nicht betrachtet werden müsse.
Chinesische Schriftzeichen zeichnen nicht die Laute der Sprache nach, sondern besitzen einen bildhaften Ausdruck. Man kann daher sagen: Im Haiku wirken die chinesischen Schriftzeichen als einzelne visuelle Bilder im sprachlichen Bild des Gedichtes. Bei der schriftlichen Fixierung eines Haiku überlegen die japanischen Dichter sehr genau, ob sie ein Wort mittels der lautlichen Silbenschrift oder der bildlichen Zeichenschrift darstellen, ob man also zum Beispiel beim Lesen des Wortes „Nachtigall" sein Piktogramm oder eben nur dessen Lautung vor Augen hat, der Leser die Nachtigall also sieht, oder ob er sie hört.
Es herrscht allgemeine Übereinstimmung darüber, daß der optische Sinn für menschliche Wesen der wichtigste ist. Daher ist es nicht überraschend, daß für die Beschreibung aller Künste visuell geprägte Begriffe zur Anwendung kommen, sprechen wir doch sogar bei Musikstücken von „Klangbildern". Zum Abschluß möchte ich deshalb beim Gesichtssinn bleiben und ein ausgesprochen seltsames Phänomen ansprechen, das der japanischen Gesellschaft eigen ist. Japaner sind nämlich in einer für uns unvorstellbaren Weise in der Lage, Dinge, die sie sehen, nicht zu sehen.
Als ich vor zwanzig Jahren das erste Mal nach Japan kam, hat mich diese Fähigkeit zunächst völlig verwirrt, später habe ich sie sehr schätzen gelernt. Als deutliches Beispiel führe ich die schwarz gekleideten Puppenspieler des Bunraku-Theaters an. Obwohl zwei oder drei Menschen hinter der vergleichsweise kleinen Puppe heftig agieren, werden die Spieler von den Theaterbesuchern ausgeblendet. Um die Puppen lebendig werden zu lassen, muß man die Menschen aus Fleisch und Blut hinter ihnen übersehen, sie zu einem Nichts, sie unsichtbar machen. Erst dann wird die künstliche Welt der Puppen Wirklichkeit.
Einem japanischen Freund und mir begegnete einmal in der U-Bahn ein Exhibitionist. Als ich nachher mit dem Freund über dieses Ereignis sprechen wollte, war das nicht möglich, denn er hatte das Schauspiel zwar gesehen, aber nicht wahrgenommen, konnte also auch nicht darüber sprechen. Er hatte den Zeigefreudigen „wie Luft behandelt".
Wie wir unseren Gesichtssinn einsetzten, was wir sehen und was nicht, wie wir ein Bild lesen oder anschauen ist kulturell geprägt. Wir sagen unseren Kindern: „Man zeigt nicht mit nackten Fingern auf angezogene Leute", die Sensibilität für derartig aggressive Handlungen ist bei Japanern um vieles größer als bei uns. Bereits ein längeres Anstarren wird als verletzender Eingriff in die Intimsphäre aufgefaßt. Einen Blick, der nicht wahrnimmt, was er sieht, und der so die Scham des anderen nicht angreift, nennt Duerr den „indirekten Blick". In dem Kapitel „Nacktheit in Japan" schreibt er dazu: „Im Badehaus glitten die Augen desjenigen, der schaute, über die anderen hinweg oder durch sie hindurch, er ,sah`, aber er nahm nicht zur Kenntnis."
Ein Mensch, der von Kindheit an lernt, nicht nur mit wissenschaftlicher Neugierde genau zu beobachten, sondern gleichzeitig auch nicht zu registrieren, was er sieht, schult eine sehr differenzierte visuelle Wahrnehmung. In Hinsicht auf das künstlerische Prinzip des Nicht-Ausdrucks bedeutet das zugespitzt: Das, was für den Blick des Europäers die Kunst des intelligenten Weglassens, des Reduzierens ist, ist für den Japaner die Kunst, das Überflüssige erst gar nicht zu sehen, sondern bereits beim Sehvorgang unbewußt auszufiltern.
Ich denke, daß diese besondere Art des Schauens Grundlage der japanischen Haiku ist. Ob Krähen im Baum, eine Lotusblüte im Teich oder Berge am Horizont - ein Haiku starrt niemals das Motiv an, betrachtet es nicht ausdauernd, sondern wahrt die Intimität alles Gesehenen. Das Bild eines Haiku entsteht in einem Augenblick, wird aus den Augenwinkeln wahrgenommen, huscht flüchtig vorbei. Auf die Netzhaut geworfen, breitet es sich nach und nach aus, berührt die anderen Sinne und ergreift schließlich den ganzen Menschen.
An dieser Stelle finde ich persönlich eine mögliche Antwort auf die häufig gestellte Frage nach dem Unterschied zwischen Haiku und Senryu. Ob nun im japanischen oder deutschen Senryu, das Senryu bedient sich nicht des indirekten Blickes, sondern glotzt andere ungeniert an, überspringt ihre Schamgrenze und nimmt gerade das wahr, was man eigentlich nicht sehen sollte.
Zwei Gedichte möchte ich noch kurz vorstellen, das erste stammt von Issa, das folgende von Buson:
Gewitterschauer.
Da schwingt er sich nackt
auf ein nacktes Pferd
Issa
In öder Wildnis
hockt sich Hochwürden nieder
und muss mal kacken
Buson
Dieses Gedicht macht aus dem Betrachter keinen Spanner, der sich daran ergötzt, daß auch ein hochrangiger Mönch einmal müssen muß. Im Gegenteil, der Leser sieht in der einsamen Winterlandschaft bloß schemenhaft die Bewegung eines Menschen, die allerdings so typisch ist, daß es gar nicht eines näheren Hinschauens bedarf, um zu begreifen, was dieser Mensch gerade tut. Für mich beschreibt dieses Haiku eine Situation, die jeder von uns unmittelbar nachempfinden kann: Allein in einer menschenverlassenen Gegend, nicht eingebunden in die Zwänge, die uns die Gesellschaft Tag für Tag aufbürdet, einfach bloß Mensch zwischen Himmel und Erde ... Das ist ein kurzer Moment, in dem man sich im wahren Wortsinne endlich ungestört ein wenig erleichtern kann.
 
Herzlichen Dank für ihre Geduld.