Thomas Hemstege
Hagel, Kraut und Rüben - Haiku und ihre Vorbilder in der Natur
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Das einzige Problem der Kunst besteht darin,
ein Gleichgewicht zwischen Subjektiven und Objektiven zu erreichen. 
                                                 Piet Mondrian
Sie duften für den,
der sie vom Baume abbrach, 
die Pflaumenblüten.
      Chiyo-ni

Im Frühling des Jahres 1883 stolpert der französische Künstler Claude Monet, inzwischen 43 Jahre alt und auf dem sicheren Weg zu Ruhm, Ehre und Wohlstand, in der Normandie über den malerischen Ort Giverny und bleibt ihm bis zu seinem Tod verhaftet. Dort kauft sich der Maler, der sich seit seiner Jugend der bildlichen Darstellung von Natur verschrieben hat, bald ein Anwesen von 15.000 qm Fläche. Die ersten Maßnahmen des neuen Gemeindemitglieds entsetzen die Einheimischen. Der Naturliebhaber Monet läßt den alten Baumbestand fällen, den Bauerngarten roden, urige Begrenzungsmauern einreißen und ruht nicht eher, bis die gesamte Fläche brach und roh vor ihm liegt. Denn er hat einen genauen Plan: Er will seinen eigenen Garten schaffen, ganz nach seinen Vorstellungen, ganz nach seinen Absichten. Dieser Garten wird konzipiert wie ein dreidimensionales Skizzenbuch, die in Zukunft zu malenden Ölgemälde sollen hier zunächst als reale Vorbilder anschaulich werden. Die Verwirklichung dieses Projekts sollte jahrzehnte in Anspruch nehmen. Ein Gewächshaus wird gebaut und ein Gärtnerhaus, in dem ein fest angestellter Gärtner und zahlreiche Gehilfen einziehen. Saatgut, Zwiebeln und Knollen werden von weither bezogen, vieles auch selbst gezüchtet, denn damals gab es noch nicht den lukrativen Handelsmarkt für Hobbygärtner. Vor seinem inneren Auge sieht Monet Wasserflächen, auf denen sich Blüten spiegeln, also verhandelt er mit dem Ortsvorstand, bis dieser ihm erlaubt, Wasser aus dem Dorfbach auf sein Grundstück umzuleiten und zu einem riesigen Teich aufzustauen. Auf Farbholzschnitten hat Monet die geschwungenen Bauformen fernöstlicher Brücken kennengelernt, die will er malen, also läßt er sich seine berühmt gewordene japanische Brücke bauen, die sich wie die Faust aufs Auge in das nordfranzösische Landschaftsbild einfügt.

Die unzähligen Bilder, die Monet bis ins hohe Alter in diesem Gartengelände malte, sind inzwischen zu Ikonen der Kunst des 20. Jhr. geworden und ebenso bekannt wie die Mona Lisa. Interessant ist die Arbeitsweise des Künstlers. Im ersten Schritt zerstört er brachial ausgerechnet an dem Ort, an dem er sich von der Landschaft außerordentlich angesprochen fühlt, die gewachsene Kulturlandschaft. Anschließend ersetzt er diese durch eine Kunstlandschaft, die völlig seiner Willkür unterworfen ist und deren Erscheinungsbild sich einzig daran ausrichtet, welche Motive der Künstler in Öl zu malen beabsichtigt. Im dritten Schritt nimmt sich Monet die nach seinen Vorstellungen zusammengebastelte Kunstwelt als Vorbild, um im zweidimensionalen Gemälde überzeugend das Wesen der Natur darstellen zu können. Daß ihm das gelungen ist, erfahren im letzten Schritt die Betrachter bis heute, wenn sie sich tief beeindruckt Monets Originale anschauen.

Ich habe großen Respekt vor diesem ungemein fleißigen Maler, der tatkräftig seine Ideen realisierte und dem es gelang, neue wissenschaftliche Erkenntnisse und künstlerische Gestaltung in Einklang zu bringen. Da an dieser Stelle von der zweifelsohne vielfältigen Beziehung zwischen Kunst und Natur die Rede sein soll, drängt sich Monet mit seiner drastischen und konsequenten Herangehensweise geradezu als Beispiel auf. Die Haltung des aus kleinbürgerlichen Verhältnissen stammenden Monets, der in Paris ausgebildet wurde und ebendort schnell erfolgreich war, ist typisch für einen Stadtmenschen. Der ordnet sich nicht der Natur unter, sondern gestaltet diese nach seinem Willen, tut ihr gar Gewalt an und betrachtet sie analytisch in all ihren Erscheinungsformen.

Zwei Jahrzehnte zuvor war ein Kollege von Monet, ebenfalls Franzose, der Natur anders begegnet. Über die Arbeitsweise dieses Malers ist ein kurzer Bericht von Guy de Maupassant überliefert: "In einem großen leeren Raum drückte ein gigantischer, schmutziger und schmieriger Mann mit einem Küchenmesser Kleckse weißer Farbe auf eine große leere Leinwand. Von Zeit zu Zeit trat er ans Fenster, preßte sein Gesicht gegen die Scheiben und sah in den Sturm hinaus. Das Meer kam so nah, als wolle es gegen das Haus schlagen, das in Schaum und Lärm getaucht war. Das schmutzige Wasser schlug an die Fensterscheiben wie Hagel und triefte an den Wänden herunter..." Der Künstler, der in dieser Arbeitssituation eine Serie Meeresbilder von bis dahin unbekannter Intensität schuf, hieß Gustave Courbet. Tage zuvor hatte er versucht, mitten im Sturm stehend zu malen, aber der Wind hatte immer wieder seine Staffelei weggerissen und der Regen seine Pigmente von der Leinwand gewaschen. Aus einer Bauernfamilie stammend brachte sich der Realist Zeichen­ und Maltechniken überwiegend selber bei, hatte zeitlebens sein Atelier in seinem Heimatort Ornans und enorme Schwierigkeiten, im großstädtischen Paris ausgestellt zu werden. Nicht zuletzt auch deshalb, weil er rückhaltlos eine sozialistische Überzeugung vertrat, die ihn schließlich für sechs Monate ins Gefängnis brachte. Es überrascht nicht, daß diese dunklen, grob gemalten Meeresbilder, in denen die Natur dem Betrachter als vom Menschen unkontrollierbare elementare Kraft entgegenstürmt, dem breiten Publikum nicht so bekannt sind wie die hellen, sonnendurchfluteten, künstlich arrangierten Gartenbilder des Impressionisten Monets. Ein anderes Bild Courbets, nämlich "Der Ursprung der Welt", erregte allerdings noch vor wenigen Jahren, 130 Jahre nach seiner Entstehung, die Gemüter, als es erstmals öffentlich ausgestellt werden sollte, denn es zeigt den Unterleib einer Frau mit weit auseinandergespreizten Beinen. Beide Gemälde, "Die Woge" und "Der Ursprung der Welt", hängen mittlerweile nebeneinander im Pariser Musee d'Orsay.

Ich möchte noch eine dritte Möglichkeit vorstellen, wie Künstler der Natur gegenüber­treten können. Der Maler und Dichter Henri Michaux, wiederum ein Franzose, schrieb 1959 folgende Zeilen, die dem längeren Gedicht "Frieden in den Brandung­en" (Übersetzung K. Leonhard) entnommen sind:

Fontänen
der Puls des Fensters erwacht
der leuchtende Puls der Morgenfrühe 
blendend
blendend
Schießstand im Kopf
schweigendes Trommelfeuer der Photonen
weiße Blitze
verlängerte Blitze
pausenlose Blitze
Schauer
unermeßliches Umgebensein
Böen
violette Böen
Böen über den Vögeln
 
 

Michaux versuchte, die gegebene Distanz zwischen Mensch und Natur zu überbrücken, indem er sich diese im wahren Sinne des Wortes einverleibte, in Form von natürlichen Stoffen nämlich, die die alltägliche Sinnlichkeit verändern. In bewußt geplanten (immerhin im Alter von 60 Jahren!) Versuchsserien spürte er den geheimnisvollen Beziehungen zwischen Kunst und Drogen nach, wobei er sich vor allem auf Meskalin konzentrierte, einer Droge, die aus einer bestimmten Kakteenart gewonnen wird. Viele Konsumenten besonders von halluzinogenen Drogen berichten von einer deutlich veränderten Wahrnehmung der Natur, wenn der Rausch im Freien erlebt wird, gerade das Farb- und Geruchsempfinden werde manchmal fast bis zur Unerträglichkeit intensiviert. In Innenräumen erlebte Rauschzustände führen oft zu Halluzinationen, die von vegetativen, organischen Strukturen geprägt sind. Das Erleben des Berauschten kann sogar dazu führen, daß er seinen eigenen Körper distanziert als ein völlig fremdes Stück Natur betrachtet, das sich wachsend oder vergehend verformt. Diese künstlich provozierten, im Inneren durchlebten Naturmuster und Naturerfahrungen sind ebenso gültige Vorbilder für künstlerische Darstellungen der Natur wie Monets Seerosen oder Courbets Wogen.

Im Morgendämmer
hält sogar der Mond inne,
wenn die Kirsche blüht.
Chiyo-ni

 

Doch kommen wir von der malenden Künstlern zu den dichtenden.

Die gemeine Antwort auf die Frage, was denn wohl ein Haiku sei, lautet bei uns: Das kürzeste Gedicht der Welt. Wenn ich diese Definition höre, läuft es mir persönlich stets kalt den Rücken herunter, denn ein quantitativer Superlativ kann niemals eine künstlerische Ausdrucksform erfassen, es sei denn, man erstrebt einen Eintrag im "Guiness Buch der Rekorde". Als zweite Bestimmung folgt dann meist: Bei einem Haiku handelt es sich um ein Naturgedicht. Diese Aussage wird in der Regel von niemanden bezweifelt. Was aber bedeutet eigentlich im 3. Jahrtausend unserer Zeitrechnung Naturlyrik? Was ist einem japanischen, was einem deutschen Haikudichter Natur? Wo, wie und wann erlebt er diese, und vor allem, wie setzt er natürliche Vorbilder ein, um seine künstlerischen Vorstellungen zum Ausdruck zu bringen? Ober die Beziehungen zwischen Mensch und Natur nachzudenken, ist seit alters in allen Kulturen sowohl Pflicht als auch Kür von Theologen, Philosophen, Naturwissenschaftlern und Künstlern. Ich denke, gerade wir als "Naturlyriker" sollten ihnen gleichtun.

Die einfache Umschreibung des Wortes "Natur" lautet: der Teil unserer Welt, der ohne das Zutun des Menschen entstand und nicht durch menschliche Eingriffe verän­dert wurde. Es ist offenbar, daß es nach dieser Definition heute im 21. Jahrhundert nur wenig, wenn überhaupt noch Natur gibt.

Werfen wir zunächst einen Blick auf das, was sich die klassischen japanischen Dichterinnen und Dichter als Vorlage für ihre Naturgedichte auswählten.

Beim Blättern in den alten Katalogen mit japanischen Jahreszeitenwörter (Kigo) wird deutlich, wie die japanischen Dichter Erscheinungsformen der Natur gliederten. Nämlich einmal in die unbelebten Dinge wie Jahreszeit und Wetter, dann in die belebten wie Mensch, Tier und Pflanze. Doch wo erlebten die Tankadichter im 10., 12. oder 15. Jahrhundert diese Natur? Doch fast ausschließlich nur in dem eng begrenzten Enklave der urbanen Hauptstadt Kyoto, besonders die Frauen, die in den höfischen Palästen und deren Dependancen eingesperrt waren. All die Naturdinge, die nicht selbständig ihren Standort wechseln konnten, also Kirschbäume, Chrysanthemen, Rosen und Morgenwinden, konnten sie nur in ihrer nächsten Umgebung erleben, also in Haus, Hof und Garten. Diese Bäume und Blumen waren jedoch keineswegs Wildwuchs, sondern sorgsam ausgewählte und bearbeitete Objekte einer nach ästhetischen Gesichtspunkten konstruierten Gartenanlage. Täglich wachten Gartenbaumeister und Gärtner darüber, daß diese Anlage dem Betrachter die richtige Stimmung in Übereinkunft mit dem Mondkalender vermittelte. Und wer im frühen Herbstnebel entzückt ein taubenetztes, rot leuchtendes Ahornblatt auf dunkelgrün bemoosten Steinen liegen sah, konnte nicht sicher sei, ob es vom Morgenwind abgepflückt wurde oder der Gärtner es dort seinem Arbeitsauftrag gemäß artig deponiert hatte. Naturdinge, die sich selber bewegen konnten, ermöglichten den Adeligen im Garten neckische Spiele wie zum Beispiel Glühwürmchenfangen oder störten des Nachts den blaublütigen Schlaf mittels heftiger Moskitostiche. Manch belebte Natur zog es aber auch vor, sich der Hauptstadt gänzlich fernzuhalten, so dass beispielsweise Bären und Wölfe von Tankadichtern selten besungen wurden.

Die Berge rund um die Stadt lagen zwar greifbar nahe, wurden allerdings nur in Aus­nahmefällen und unter großen Sicherheitsvorkehrungen aufgesucht. Diese Ausflüge wurden vorbereitet, als ginge es darum, einen neuen Kontinent zu entdecken. So ist es nicht verwunderlich, daß gerade Zugvögel, hier vor allem die Wildgans, die besondere Aufmerksamkeit der Dichter auf sich zogen, waren jene doch Zeichen einer grenzenlosen Mobilität zwischen bewohnten und vom Menschen noch nicht erreichten Orten.

Wohin man auch blickt: 
Schachtelhalme bedecken 
die Tempelruine.
Chiyo-ni

Wehe aber, wenn die Naturdichter die gewohnte Kunstnatur der Hauptstadt verlassen und beispielsweise als Verbannte in entlegene Provinzen reisen mußten. Dort gab es "ringsherum überhaupt nichts Reizvolles" mehr in der Natur, die Bäume der Wälder werden "furchterregend", Berge wirken "gräßlich und abstoßend", überhaupt ­ die ganze Neigung zur Dichtkunst ging verlustig. Dabei waren die Provinzen keineswegs unbewohnt und menschenverlassen, doch die Natur dort war nicht zivilisiert, sondern entweder bäurisch pragmatisch und nützlich kultiviert oder eben tatsächlich Wildnis. Und Natur, die nicht ästhetisch aufbereitet war, wurde als .ungeheuer öde" empfunden und lud keineswegs dazu ein, besungen zu werden. Und so blieb den Tanka-Dichtern im Exil nur, sehnsuchtsvoll aus der Erinnerung heraus, der städtisch geprägten Natur nachzuweinen.

Diese Sicht auf die Natur übertrug sich von der höfischen Tanka-Dichtung ungebrochen auf die sich aus ihr entwickelnde Haiku-Dichtung. Das Haiku brachte zwei wesentliche Neuerungen: Zum einen wurden die poetologischen Regeln unkomplizierter und die Kunstsprache immer mehr der Umgangssprache angepaßt, so dass im 17. oder 19. Jhr. ein Dichter nicht mehr notwendig mit dem klassischen Chinesisch vertraut sein mußte. Zum anderen war es nicht mehr ausschließlich die adelige Oberschicht des Kaiserhofes, die sich der Dichtkunst widmete, sondern vor allem die bürgerliche und klerikale der großen Städte: Schnapsverkäufer, Volksschullehrer, Tempelbewohner, Bordellbesitzer und Verleger. Die Natur jedoch, die die Dichter umgab und anregte, blieb weiterhin städtisch, entweder in der alten Kaiserstadt Kyoto beheimatet oder in der neuen Edo. Die einsame Flußweide rauschte im Handwerkerviertel, in dem alten Teich spiegelte sich der Feierabendverkehr und wer einen Platz unter den berühmten Kirschblüten ergattern wollte, mußte im Park um diesen kämpfen, wie heute Urlauber um eine freie Stelle am Mittelmeerstrand. Auch der Haiku-Dichter fand seine Gedanken und Gefühle nur in kultivierten Pflanzen und Tieren widergespiegelt, je wilder, je weniger von Menschhand gezähmt, wurde ihm die Natur suspekt.

Das Idealbild des Haikudichters als Wanderer (tabihito) bestätigt dies sehr anschaulich. Denn gerade, weil er freiwillig die urbane Welt verließ und die scheinbar unberührte Wildnis der bäuerlichen Kulturlandschaft betrat, konnte er durch die Beschreibung der Ödnis kontrastierend die zivilisierte Natur lobpreisen. Wehmut überfiel den Wanderer, wenn er auf eine verlassene, verwilderte Wohnstätte traf, denn keine gestaltende Gärtnerhand ordnete mehr die Blätter des Gartens. Doch auch wenn der wandernde Dichter liebevoll das kleine Hirtentäschelkraut am Straßenrand zu besingen vermochte, von der menschenleeren Heide konnte er sich nur mit Grauen abwenden. Nein, ringsherum ließ sich wahrlich kein reizvolles Naturding erkennen!

Auch der hoch verehrte Basho verbrachte den größten Teil seines Lebens in der urbanen Metropole Edo und die Reisen in seinen letzten Lebensjahren glichen eher einer nationalen Tournee eines bewunderten Stars als einer einsamen Wanderung. Von Ort zu Ort begleiteten ihn Schüler und Verehrer und er verbrachte die Nächte wohlumsorgt bei Funktionären oder bei wohlhabenden Mäzenen. Der entscheidende künstlerische Schritt Bashos sollte allerdings für das Haiku wegweisend sein: Im Gegensatz zu den höfischen Tankadichtern, die in der Regel nur heimische oder chinesische Lyrik zitierten und variierten, begab sich Basho tatsächlich an die Orte, die er in seinen Gedichten thematisierte.

So gesehen stehen uns zwei Gruppen von japanischen Haiku vor Augen: Einerseits die Gedichte, die sich auf Naturdinge beziehen, die sich vom Menschen fügen und formen lassen, und diese wurzeln in der Regel im urbanen Umfeld. Andererseits die Haiku, die sich auf Dinge beziehen, die der Mensch naturgemäß nicht handhaben kann: Sonne, Mond und Sterne, Winter und Sommer, Sturm und Dürre. Hier verlassen die Dinge der Dichter die menschlichen Welt und wirken von einer Ebene aus, die sich dem menschlichen Einfluß entzieht. (Das sich dies in unserer Zeit tiefgreifend geändert hat, soll nicht ungesagt bleiben.)
Tag um Tag
vergaß ich selbstvergessen. 
Ein Reh im Frühling.
Chiyo-ni

 

Auf unserem Streifzug durch das verschlungene Dickicht, das Kunst und Natur miteinander verbindet, stoßen wir bei der japanischen Lyrik auf einen weiteren Aspekt, der im Vergleich zur europäischen Dichtkunst nicht unwesentlich ist. Fragen wir in munterer Runde bei uns jemanden: "Was ist für dich ein Gedicht?" wird die Antwort wahrscheinlich so lauten: "Etwas, was sich reimt." Die entsprechende Antwort in Japan lautet in der Regel: "Das hat irgendwas mit Natur zu tun." Es ist schon interessant, dass die eine Antwort einen formalen Gesichtspunkt herausgreift, die zweite dagegen einen inhaltlichen. Dieser inhaltliche Aspekt hat allerdings für die Dichtungskunst Japans eine schwerwiegende Bedeutung. Denn in der traditionellen japanischsprachigen Lyrik gibt es bis auf Volkslieder und unverbrämte Liebeslieder in der Frühzeit ausschließlich Gedichte mit einem eindeutigen und notwendigen Naturbezug. Das zwang jeden Dichter dazu, alles, was auch immer er auch formulieren wollte, durch die Dinge der Natur auszudrücken. Liebesschmerz, Todessehnsucht, Welterkenntnis, Glück und Leid, Wollust, Neid, göttliche Anrührung, Einsamkeit und trunkene Geselligkeit - für alles, wirklich alles, was einen lyrischen Menschen bewegen kann, mußte ein Ding aus der belebten oder unbelebten Natur als Transportmittel gefunden werden, um es in Sprache künstlerisch darstellen zu können. Die Bandbreite der europäischen lyrischen Gattungen, die sich ja nicht nur durch ihre Form, sondern auch durch ihre Inhalte klar voneinander abgrenzen, ist bekannt. Hier konnten die Dichter wählen zwischen analytischer, gefühlsbetonter oder erzählender Lyrik, zwischen Epigramm, Sonett, Ballade, Ode und sogar freien Rhythmen. Die entscheidende Schwierigkeit für einen japanischen Dichter war es daher nicht, sich in 31 oder 17 Silben kurz fassen zu müssen, sondern dazu gezwungen zu sein, sich notwendig in einem Naturbild entäußern zu müssen. Als Alternative bot sich dem japanischen Lyriker nur an, in einer ihm völlig unbekannten Sprache zu dichten: dem Chinesischen. Das änderte sich erst in der Neuzeit, nachdem die westliche Lyrik einem breiten Publikum bekannt wurde. So ist auch gut zu verstehen, warum viele Senryu in seiner Frühzeit anonym veröffentlicht wurden, denn sie galten bestenfalls als Minderlyrik, weil ihnen der Naturbezug fehlte. Da diese erste Bestimmung von Lyrik in Japan kulturell vorgegeben und selbstverständlich war, glaube ich kaum, dass sie viele Dichter in Verzweifelung gestürzt hat, sie hatte aber sicherlich eine großen Einfluß darauf, wie Natur gesehen und in sprachliche Bilder gefaßt wurde.

Weil das folgende Gedankenspiel so faszinierend ist, sei es kurz angesprochen: Stellen Sie sich vor, Ihr Lieblingsdichter, sei es nun Pindar oder Martial, Shakespeare oder Goethe, ja selbst ein Rilke noch, wäre dazu gezwungen gewesen, seine Ideen ausschließlich durch Mond und Kirschblüte, Kraut und Rüben, Katze und Grille lyrisch zu präsentieren...

Die enge Eingrenzung der japanischen Lyrik auf naturbezogene Motive führte meiner Meinung nach fast zwangsläufig in Japan zu der Entwicklung der ausserordentlich wichtigen literarischen Gattung Zuihitsu, zu Deutsch etwa "Vermischte Gedanken", in der mehr oder weniger klar gegliedert in kurzen Abschnitten Erfahrungen, Gedanken, Wahrnehmungen, Zitate und Gedichte aneinandergereiht werden. Ausserdem ist sie ein wesentlicher Grund dafür, warum es mittlerweile japanische Tanka und Haiku wie Sand am Meer gibt.

Ich möchte nun einen Punkt ansprechen, der in der westlichen Rezeption des japanischen Haiku kaum und wenn, viel zu gering, berücksichtigt wird. Im ersten Moment wird es Sie wahrscheinlich überraschen, aber: Bei dem japanischen Haiku handelt es sich zunächst keineswegs um Naturlyrik. Diese Behauptung scheint nach Erklärung zu verlangen. Japanische Gedichte beschäftigen sich mit den vier Jahreszeiten, sind also "Jahreszeitenlyrik". Wenn wir die temporale Eingrenzung fortlassen, können wir deutlich formulieren: Das Haiku ist ein "Zeitgedicht", inhaltlich setzt sich das japanische Haiku mit der Zeit, mit Zeitabläufen, mit Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft auseinander. Und dieses Werden und Vergehen innerhalb kleiner oder großer Zeiträume macht der Dichter durch die Beschreibung der belebten und unbelebten Natur anschaulich.

Vor diesem Hintergrund wird ein Mißverständnis faßbar, daß bei Gesprächen zwischen japanischen und westlichen Haikuliebhabern Gegenstand vieler, nie endender Diskussionen ist. Denn die japanische Seite fordert stets klipp und klar, daß man nur dann von einem Haiku sprechen könne, wenn das Gedicht ein klar definiertes Kigo ("Jahreszeitenwort") enthalte. Demzufolge müssten in allen Ländern von Alaska bis Patagonien ausführliche Listen angelegt werden, die eine bestimmte Pflanze oder ein bestimmtes Tier als Vertreter einer bestimmten Jahreszeit, einem bestimmten Monat, einer bestimmten Woche oder gar einem ganz bestimmten Tages zuordnet. Dieser Anspruch an nicht-japanische Haiku wird von der westlichen Seite gar nicht oder nur in Ansätzen verstanden und als völlig überzogen zurückgewiesen.

Wenn man das Haiku als reines Naturgedicht betrachtet, scheint diese enge, regelhaft vorgeschriebene Verknüpfung von Naturding und Zeitpunkt bzw. Zeitraum überflüssig und unbegründet sein. Der Kulturfolger Spatz ist schließlich das ganze Jahr über in der Stadt zu beobachten, nicht nur im Frühling, das Gänseblümchen im Vorgarten blüht bei uns von April bis September, und die Eiche steht fest in der Erde verwurzelt Tag um Tag, Monat um Monat, Jahr um Jahr neben der Bushaltestelle und lädt immer wieder dazu ein, unabhängig von einer bestimmten Jahreszeit, im Gedicht besungen zu werden. Da das japanische Haiku seinem Wesen nach aber ein Zeitgedicht ist, muß es, vor allem auch aufgrund der vorgegebenen Kürze, notwendig mit kodifizierten Worten arbeiten, die ohne große Umstände dem Leser vermitteln, zu welchem Zeitpunkt er sich die im Gedicht geschilderte Situation vorstellen muß.

"Ebbe" beispielsweise ist ohne zeitliche Symbolzuweisung zusammen mit der Flut ein uraltes Bild vom ewigen Kommen und Gehen, vom unendlichen Rhythmus der Zeit, ohne dass der Mensch irgendwelche Einflußmöglichkeiten auf ihn hat. Die Vereinbarung der japanischen Haikudichter legt fest, daß "Ebbe" Kigo des 3. Monats des Mondkalenders ist, die Zeit also, wenn die Frühlingsspringfluten das Wirken der Gezeiten besonders deutlich werden lassen und sich die Ebbe weiter als sonst im Jahr bis zum Horizont zurückzieht. Wer sich nun beim Lesen des Stichworts "Ebbe" an seinen Sommerurlaub erinnert fühlt, an Sonnenschirm, Badehose und Speiseeisverkäufer denkt, ist schlichtweg nicht in der Lage, die Stimmung des japanischen Haiku korrekt nachzuvollziehen. "Ebbe" bedeutet hier zwar klarer Sonnenschein, aber auch Wolljacke, warme Hose, kühler Wind und erwachender Frühling.

Häufig übersteigern die japanischen Haikudichter dieses Spiel mit zeitlichen Symbolen sogar, indem sie eindeutig definierte Zeitzeichen in einen temporalen Zusammenhang stellen, der ihnen eigentlich wiederspricht. So wären wir wahrscheinlich froh, wenn uns Flöhe nur im 6. Monat beißen würden, wie es das Kigo "nomi" (Floh, Kigo des 6. Monats) vorzugeben scheint. Taucht nun ein Floh in einem Haiku auf, das dem 7. Monat (dem 1. Monat des Herbstes) zugeordnet ist, weiß der eingeweihte Leser gleich, dass sich die Atmosphäre des Sommers über Gebühr hinaus weit in den Herbst hineingezogen hat. Die Möglichkeit, Zeit derart fein abgestimmt und differenziert in nur 17 Silben beschreiben zu können, verdankt das japanische Haiku einzig dem festgelegten Kigo. Symbole setzen jedoch voraus, dass der Empfänger eines kodierten Zeichens erstens erkennt, dass es sich Oberhaupt um ein Symbol handelt, und zweitens welches seine zugeordnete Bedeutung ist. Im japanischen Haiku ist ein Floh eben nicht nur ein lästiger Quälgeist der Menschen, sondern gleichzeitig und ebenso gleichwertig Verweis auf einen bestimmten Zeitraum. Der Floh im japanischen Haiku hüpft also auf und ab und singt dabei abwechselnd: "Ich bin ein Floh." und "Ich bin der 6. Monat."

Der Mensch bewegt sich innerhalb der drei Dimensionen des Raumes ziemlich sicher und vertraut, denn sein Körper läßt ihn sinnlich wahrnehmen, was Höhe, Breite und Tiefe sind. Da uns aber ein Sinnesorgan fehlt, das uns unmittelbar Zeit erfahren läßt, bleibt uns diese mysteriös und abstrakt. Zeit, so wesentlich sie für uns ist, können wir nicht spüren, wir erleben einzig das Jetzt, die Gegenwart. Und wir schließen in der Rückschau auf Vergangenes auf das, was wohl demnächst sein wird, obwohl das Zukünftige immer ungewiß bleibt. Zeit ist die Abfolge von Jetzt und Jetzt und Jetzt, und mit dem nächsten Jetzt ist das vorherige unwiderruflich vorbei. Wie läßt sich ein derart merkwürdiges Geschehen lyrisch in einem Zeitgedicht anschaulich darstellen? Letztlich wohl nur dadurch, indem man die Abfolge: Gerade ­Jetzt - Gleich in Sequenzen formuliert. Im japanischen Haiku arbeiten die Dichter vor allem mit dem Kontrast zwischen Bewegung und Stillstand, um Zeitabläufe nachvollziehbar zu machen. Eben rief der Kuckuck von dort, jetzt tönt er hier, gestern hing das Blatt noch am Zweig, jetzt liegt es am Boden, beim letzten Blick aus dem Fenster war der Himmel noch blau, jetzt ziehen Wolken auf. Oft wird Zeit als Bewegung gerade auch dadurch thematisiert, dass ein natürlicher, gleichbleibender Ablauf wider alle Erfahrung als stillstehend vorgestellt wird.

Den Vollmond beschaut. 
Wieder zurück im Hause, 
bleibt nichts zu sagen.
Chiyo-ni

Der wesentliche Unterschied zwischen einem japanischen und einem westlichen Haiku liegt in einer völlig verschiedenen Auffassung von Natur begründet und vor allem, diese als künstIerisches Ausdrucksmittel umzusetzen. Diesen Unterschied herauszuarbeiten, wäre Aufgabe einer ziemlich umfangreichen Arbeit, hier kann ich nur knapp Gedankenansätze vorstellen und die Aufmerksamkeit auf unterschiedliche Blickwinkel richten.

Um sich angemessen lyrisch entäußern zu können, macht sich der japanische Haikudichter äußerst geschickt die belebte und unbelebte Natur zu Nutze. Haben sich in seinem Innern Gedanken und Gefühle zu einer intensiv empfundenen Gestimmtheit vertieft, begibt er sich in Natur. Er hat sozusagen zunächst das Bild entworfen, dass für ihn anschließend in der und durch die Natur entstehen soll. Es beginnt nun ein interessantes Spiel, der eigentliche kreative Prozess des Wortkünstlers. Denn es gilt jetzt, die innere Gestimmtheit in der äußeren Natur widergespiegelt zu finden, ein Blatt, eine Wolke oder eine Lerche sollen für ihn das Bild schaffen, das seine Innenwelt darstellt. Damit dies ungezwungen möglich wird, bedarf es einer großen Empfindsamkeit im Naturerleben, und einer langen Übung darin, dort draußen nach etwas zu suchen, ohne etwas finden zu wollen. Erst in dieser unbestimmten Wechselwirkung zwischen menschlicher Gestimmtheit und geschauter, gefühlter, gerochener und gehörter Natur bildet sich nach und nach das Urbild heraus, aus dem ein Haiku werden kann. Wenn dieser gemeinsame Punkt von innerer Gestimmtheit und äußerer Erscheinung für den Künstler erfahrbar geworden ist, beginnt erst die eigentliche handwerkliche Arbeit des Dichters, dann muß er das Naturbild nach und nach präzise in Worte fassen, und dabei ständig korrektiv mit seinen Gedanken und Gefühlen in Bezug setzen.

Diese Art der künstlerischen Ausdrucksfindung ist ein äußerst komplexer und schwer zu beschreibender Vorgang, der von einer gewachsenen kulturellen Umgebung getragen wird. Dennoch möchte ich ihn europäisch logisch verkürzt so formulieren: Wenn der japanische Haikudichter weiß, was er aussagen will, sucht er sich ein Stück Natur aus, in dem sich seine Gedanken und Empfindungen widerspiegeln. Die Natur reagiert auf seine Vorstellung, indem sie ihm das erwartete Naturbild vorführt. Durch dieses kann der Dichter nun seine Innenwelt darstellen, keineswegs aber die Natur. Wie oben ausgeführt handelt es sich bei der belebten Natur in der Regel nicht um eine wilde, sondern vielmehr um vom Menschen gezähmte natürliche Umgebung. So aufgefaßt entsteht ein japanisches Haiku ähnlich wie die Seerosenbilder von Claude Monet.

Um den typisch westlichen Umgang mit Natur aufzuzeigen, zitiere ich ein kurzes Gedicht von Paul Ernst, das 1898 veröffentlicht wurde:

 

Ich liege im Fichtenwald,
Auf glatten Nadeln.
Heiß.
Harzduft.
Tote Stille.
 

Dies ist die erste, später überarbeitete Fassung eines Gedichts des deutschen Naturalisten, die der Dichter unter dem Eindruck ins Deutsche übersetzter chinesischer Lyrik verfaßte. Es ließen sich viele andere Beispiele für diese häufige Haltung anführen, wie ein europäischer Dichter der Natur gegenüber antritt. Dieser verläßt nämlich sein kleines Kämmerlein, wo er hart an Elegien und Aphorismen gearbeitet hat, um sich von der belebten und unbelebten Natur inspirieren zu lassen. Er begibt sich in die Natur um auf andere Gedanken zu kommen, um neue Motive zu finden, läßt diese dann auf sich wirken, horcht in sich hinein und beschreibt seine Empfindungen als Reaktion auf das Naturerleben. Der europäische Haikudichter geht davon aus, dass eine genaue Beschreibung der äußeren Naturerscheinung und die durch diese entstehende menschliche Empfindung zu einer präzisen künstlerischen Fassung eines Naturdings führt. Er thematisiert immer "Ich und die Natur", bleibt stets konkret der Natur verhaftet. Er sitzt im Gras und überlegt: "Was will mir die Grille, der Wind, die Linde jetzt wohl sagen?" Diese Auffassung ist verwandt mit der Arbeitsweise des Realisten Courbet, der, zwischen Bö und Gischt, das wahre Gesicht des Meeres zu maIen versuchte.

An dieser Stelle läßt sich auch gut der Unterschied zwischen einem japanischen Haiku und einem Senryu verdeutlichen. Denn nur das Senryu ist tatsächlich eine Beschreibung der natürlichen Außenwelt, ohne Bezug auf die Zeit, ohne tiefe Natursymbolik, ohne gesetzte Gestimmtheit. Ein Senryu sagt einfach: Schaut, das habe ich ihn der profanen Welt angeschaut und miterlebt, ach, ist das nicht merkwürdig!

Sobald er herabfällt,
wird er einfach nur Wasser. 
Roter Tautropfen.
Chiyo-ni
 

Den folgenden Aspekt führe ich besonders in Hinsicht auf die westliche Haikudichtung auf:

Eine immer wieder genannte Regel, die angeblich ein gutes Haiku ausmachen soll, und die vor allem im Westen unablässig heruntergebetet - und ein besseres Wort gibt es nicht dafür -, lautet: Ein Haiku muß durch eine tatsächliche Naturerfahrung initiiert, muß erst sinnlich erlebt worden sein, um dann in 17 Silben gefaßt als Gedicht bestehen zu können. Diese Forderung ist nicht nur dumm, sondern auch gefährlich. Denn einerseits legt sie den Gedanken nahe, ein Mensch hätte ein bedeutungsvolles Naturerlebnis, wenn er bloß im Park die Tauben füttern geht, anderseits verleugnet sie das wichtigste Element künstlerischen Schaffens, nämlich die Vorstellungskraft. Wenn wir uns die Millionen bis heute auf dieser Welt geschriebenen Haiku anschauen und ehrlich untersuchen, wie viele von ihnen wirklich auf Grund eines spontanen, tief erfahrenen Naturerleben geschrieben wurden, wie viele mögen das wohl sein? Wenn irgendwo auf der Erde eine Gruppe Haijin zusammensitzt und die gemeinsame Aufgabe lautet "Ginster auf der Heide", haben da alle irgendwann einmal tief angerührt eine Affäre mit einem Ginsterbusch gehabt? Wenn sechs Leute zusammenhocken und ein Renga aneinanderflechten, das in der nächsten Strophe quasi danach schreit, mit einem "Chamäleon" weitergeführt zu werden, hat dann einer von ihnen jemals die klebrige Zunge dieses Reptils auf seiner Haut gespürt? Sicher ist wohl, dass der große Basho irgendwann einmal an einem Weiher spazierenging, möglicherweise gab es aber in diesem keinen einzigen Frosch und Basho stellte sich nur vor: Was wäre, wenn?

Wohlverstanden bitte: Achtsame Aufmerksamkeit den Naturdingen gegenüber ist auch nach meinem Verständnis Grundlage für das Schaffen von Kunst, die diese zum Thema macht. Die Forderung allerdings, jedes gute Haiku müsse ursächlich in einer real erfahrenen Situation gründen, strebt eine Mystifizierung des Haikudichters und seiner Produktion an, die ihrem künstlerischen Potential zuwiderläuft. Ein gutes Haiku, das tief empfunden aus reiner Vorstellungskraft ohne direkte Berührung zur Natur entsteht, ist ebenso gut wie ein gutes Haiku, das in Wind und Wetter seinen Ausdruck fand. Und gerade im 21. Jahrhundert scheint mir die Form, wie sich Michaux mit Natur auseinandergesetzt hat, eine weitere Möglichkeit auch gerade für das Haiku zu sein, nämlich durch eine konzentrierte Verinnerlichung. So sehr mich persönlich beispielsweise die blauvioletten Blüten der Petunien in meinem Blumenkasten erfreuen, ich vermag in dieser Ware, die ich mit einem Strichcode versehen im WalMart an der Feldstrasse gekauft habe, kein Stück Natur erkennen, das Grund für ein tiefes Haiku bilden könnte. Die aus diesem Erkennen, dann allerdings unabhängig von den tatsächlichen Pflanzen, entstehenden Gedanken und Empfindungen sehr wohl.

Klapprige Wortgefüge, falsche Bilder, unstimmige Laute, inhaltslose, liebliche und kitschige Naturbeschreibungen werden wohl immer zu einer 17-Silben-Form zurechtgedrechselt werden. Wenn wir allerdings das deutschsprachige Haiku als eine einzigartige Kunstform begreifen wollen, sollten wir wohl viel weniger formal über Silbenzahl und Zeichensetzung diskutieren, als vielmehr inhaltlich darüber, in welchem Sinne das Haiku eigentlich im digitalen 21. Jahrhundert belebte und unbelebte Natur thematisiert.

Abschliessen möchte ich heute mit einem Bild von Hartwig Hossenfelder:

Vom Urlaub zurück.
Auf dem Zimmerteppich liegt 
ein toter Falter.