In der Januar-Monatswertung bei
Haiku-heute.de fiel mir ein Haiku auf, das sofort Assoziationen in mir
weckte:
der runde Tisch
die Kinder verschütten
keinen Kakao mehr
Andreas
Marquardt
Es erinnerte mich an Franz Werfels schönes
Gedicht »Elternlied«, das so beginnt:
Kinder laufen fort.
Lang her kann’s noch gar nicht sein,
kamen sie zur Tür herein,
saßen zwistiglich vereint
alle um den Tisch.
Kinder laufen fort.
Und es ist schon lange her.
Schlechtes Zeugnis kommt nicht mehr,
Stunden Ärgers, Stunden schwer:
Scharlach, Diphterie!
und endet:
…Und die Uhr geht Schritt für Schritt
um den leeren Tisch.
Wie schön, dachte ich, dass ein Haiku
all’ diese Erinnerungen in drei Zeilen heraufbeschwören kann! Doch
als ich diese drei Zeilen nochmals las, fiel mir auf, dass sie
keineswegs klar und eindeutig sind. Da stehen zwei Aussagen ziemlich
zusammenhanglos nebeneinander. »der runde Tisch«: wird er
betrachtet, oder sitzt jemand daran? Aus der zweiten Aussage ist nicht
ersichtlich, ob die Kinder schon aus dem Haus sind oder vielleicht
inzwischen zu Teenagern herangewachsen sind und die Eltern wehmütig
auf die Zeit zurückblicken, als es nur so kleine Probleme wie verschütteten
Kakao gab. Die Diskussion im Internet ergab dann auch, dass einige
diesen Text überhaupt nicht verstanden, andere die Situation
unterschiedlich beurteilten.
Hier fehlt es an der Klarheit der
Sprache. Statt »der runde Tisch« würde ich sagen: »am runden Tisch«,
das würde den Bezug zu den Personen herstellen. Wenn der Autor ausdrücken
wollte, dass die Kinder inzwischen herangewachsen sind (ich neige
inzwischen mehr zu dieser Ansicht), könnte er sagen:
am
runden Tisch
kein Kakao
wird mehr verschüttet
– wobei auch zum Ausdruck kommt,
dass jetzt andere Probleme anstehen. Falls aber die Wehmut und
Einsamkeit des zurückbleibenden Elternpaares das Anliegen des Autors
waren – wie in Franz Werfels Gedicht –, so würde ich es etwa so
formulieren:
am
runden Tisch
kein Kind
das Kakao verschüttet
Ein Haiku sollte offen sein, damit es
eigene Gedanken und Erlebnisse im Leser wachrufen kann. Oft ist es
mehrdeutig; das kann sehr interessant sein, ist aber dann vom Autor
meist bewusst so angelegt. In diesem Haiku wird besonders deutlich,
dass »der Sinn eines Textes nicht als etwas Objektives zu betrachten
ist, er entfaltet sich vor dem Erfahrungshintergrund des Lesers«
(Paul Ricoeur). Vielleicht erschließt sich nur Eltern, die die
Probleme des Heranwachsens der Kinder kennen, der Sinn dieses
Gedichtes ganz. Dennoch: Wenn der Autor verstanden werden will,
sollten Bild und Sprache klar sein, um Irritationen zu vermeiden.
Es ist der Reiz des Haiku, dass mit
wenigen Worten viel gesagt werden kann, aber diese wenigen Worte
erfordern Sprachgefühl und das genaue Abwägen eines jeden Wortes.
(Zuerst veröffentlich auf der
Internet-Seite »Haiku-heute.de« am 18.2. 2004 )