Das
Wissen um die Unabänderlichkeit des Todes ist in den meisten Kulturen ein Teil des Lebens. Bei den Japanern, denen man nachsagt, dass der Tod für sie eine besondere Anziehungskraft besitzt,
hat dies zu der jahrhundertealten Tradition des jisei geführt. Wenn ein Dichter den Tod nahen fühlte, regelte er nicht nur seine weltlichen
Angelegenheiten, sondern verfasste ein Abschiedsgedicht in Tanka- oder Haiku-Form, das geprägt war von Religion, Kultur und der Haltung dem Tod gegenüber – eine Art literarisches Vermächtnis.
Diese
Tradition, von Zen-Mönchen, Samurai und dem japanischen Adel begonnen und bis heute erhalten, hat sich in der westlichen Welt nie wirklich durchgesetzt, was wohl an der Verschiedenheit der
Kulturen und ihrer Einstellung zum Tod liegt. Nur in den USA werden Sterbegedichte häufiger geschrieben. Deshalb möchte ich zum Abschluss meiner Serie über amerikanische Haiku eine (natürlich
subjektive) Auswahl dieser Gedichte vorstellen und sie mit japanischen jisei vergleichen.
Zu
den amerikanischen death poems muss man allerdings sagen, dass die Mehrzahl wohl nicht kurz vor dem Ableben geschrieben wurde. Aber auch in Japan verfassten viele Dichter ihre für den Nachruhm wichtigen jisei
oft schon im Laufe des Lebens, um auch bei einem plötzlichen Tod ein würdiges Abschiedsgedicht zu hinterlassen. Hier wie dort spielt sicher auch der literarische Ehrgeiz eine Rolle. »Mitten
im Leben sind wir vom Tod umfangen« (Luther) – jedes Haiku sollte eigentlich ein jisei sein. Basho weigerte sich mit dieser Begründung, ein besonderes Sterbegedicht zu verfassen.
Was
veranlasst gerade Amerikaner, sich mit Sterbegedichten zu befassen? Das kann man nur vermuten. Vielleicht liegt es daran, dass sich in den USA nach dem zweiten Weltkrieg eine Begeisterung für
japanische Kultur und den Zenbuddhismus entwickelte, vorbereitet durch die verwandte Denkungsart der »Transzendentalisten« (besonders Whitman, Emerson und Thoreau) und beein-flusst durch führende
amerikanische Dichter wie Ezra Pound. So verbreitete sich das Haiku sehr schnell und früher als in anderen Ländern der westlichen Welt.
Hier
ein besonders stimmungsvolles Gedicht, das hinter Bildern aus dem Alltag die letzten Stunden eines Lebens andeutet:
last
callletzter Anruf
/ Aufruf
my
empty glassmein leeres Glas
full
of moonlightvoller Mondlicht
William
Cullen Jr.
Schon
die Mehrdeutigkeit der ersten Zeile überzeugt: »last call« kann ein letzter Telefonanruf sein oder auch der Aufruf eines Barkeepers, noch vor dem Schließen des Lokals eine Bestellung
aufzugeben. Sogar an den letzten Aufruf bei einer Flugreise könnte man denken. »call« kann aber auch Ruf oder Schrei eines Tieres bedeuten, und das erinnert an den Bergkuckuck (hototogisu),
der in japanischen jisei den Tod ankündigt. Das leere Glas, bis »zur Neige« geleert, ist genau so anspielungsreich wie der Mond, der es jetzt füllt
(der Mond ist in japanischen Sterbegedichten das Bindeglied zu der anderen Welt, in der die Gestirne nie untergehen). »Fort mit dem Pinsel / ab jetzt spreche ich direkt / mit dem vollen Mond«
dichtete Koha in seiner Sterbestunde. Diese Stimmung kommt auch in William Cullens Haiku zum Ausdruck: ein Mensch, der mit dem Leben abgeschlossen hat und jetzt allein mit dem Mond ist.
Die
japanische Jenseitsvorstellung ist in erster Linie vom Buddhismus geprägt. Während der Zenbuddhismus, meist von einer Elite praktiziert, die Lösung des Lebensrätsels nicht außerhalb,
sondern nur im Menschen selbst sieht und die innere Erleuchtung schon in dieser Welt anstrebt, ist der Jodo-Buddhismus in Japan am meisten verbreitet. In seinem Mittelpunkt steht Amida, der
Buddha des immerwährenden Lichts, der alle Menschen erlösen will. Der gläubige Buddhist, der vor seinem Tod Amida Buddha anruft, wird im »Reinen Land« (jodo) wiedergeboren. In diesem
Paradies, das im Westen liegt, wird er selbst erleuchtet. Die Reise dorthin wird oft mit einer Bootsfahrt über einen Fluss verglichen, von der »Welt der Illusionen« zu der »Welt der
Wahrheit.« (Robun: »Ein schlafender Wasservogel / treibt auf dem Fluss / zwischen Leben und Tod«). Diese Vorstellung ist im westlichen Kulturkreis seit der
griechischen Mythologie bekannt, und so verwenden auch viele amerikanischen Sterbegedichte dieses Motiv:
shipping
oarsdie Ruder einholen
my
own wake rocks memein eigenes Kielwasser
into
shoreschaukelt mich ans Ufer
Jim
Kacian
Indian
summerNachsommer
a
spent salmonein erschöpfter Lachs
washes
ashoretreibt an Land
w.f.
owen
Das
letztere Gedicht schildert mit einem Bild aus der Natur die Kraftlosigkeit am Ende des Lebens. Ein ähnliches Gefühl vermitteln die folgenden Gedichte, die persönlich gehalten sind und dabei
Bilder aus dem modernen Leben verwenden:
this
trail so longso lang der Weg
my
flashlightmeine Taschenlampe
dimmingwird schwächer
Charles
Dickson
dead
batteries –leere Batterien
no
haiku tonight …kein Haiku heute nacht…
and
then, the moonund dann, der Mond
Earl
Johnson
Fallende
Blätter, auch Blütenblätter, symbolisieren die Vergänglichkeit und sind in beiden Kulturen ein Zeichen des zu Ende gehenden Lebens.
red
leafrotes Blatt
I
return itich gebe es
to
the shore winddem Küstenwind zurück
Ellen
Compton
falling
pine needlesfallende
Kiefernnadeln
the
tick of the clockdas Ticken der Uhr
George
Swede
Swedes
Haiku gibt uns noch ein weiteres Bild: das Ticken der Uhr als »Memento mori«, eine Erinnerung an das ständige Voranschreiten der Zeit.
»Tage
und Monate sind Reisende der Ewigkeit« Basho, »und die Reise selbst ist ein Nachhausekommen.« Auch in der westlichen Kultur wird der Tod vielfach als Heimkehr empfunden:
the
field‘s evening fog –Feld im Abendnebel –
quietly
the hound comesleise kommt der Hund
to
fetch me homemich
heimzuholen
Robert
Spiess
pointinger zeigt
my
way homemir den Heimweg
the
starfishder Seestern
Carlos
Colón
Bei
Carlos Colón ist noch eine andere Deutung möglich: Unsicherheit über den wahren Weg (der Seestern mit seinen vielen Armen).
Der
Wind des Herbstes, der die Blätter fortwirbelt (»kein Blatt bleibt / dort, wo es ist« und »wohin immer der Wind mich trägt«) ist in der japanischen Literatur ein häufiges Symbol des vorübergehenden
Lebens. Eine ähnliche Akzeptanz des Sterbenmüssens spricht aus diesem amerikanischen Haiku:
slowly
the old womanlangsam
öffnet
opens
the doordie alte Frau die Tür
to
join the windund schließt sich dem Wind an
Leatrice
Lifshitz
Glühwürmchen
spielen in der japanischen Lyrik eine große Rolle. Wenn ihr Licht erlischt, kann es auch als Zeichen für ein ausgelöschtes Leben gelten:
on
my fingerauf meinem Finger
the
firefly puts outlöscht
das Glühwürmchen
its
lightsein Licht
Roberta
Beary
Dieses
Haiku erinnert an ein jisei, das Kyorai, ein Schüler von Basho, nach dem Tod seiner Schwester Chine schrieb: »Traurig sehe ich / das Licht auf meiner
Hand schwinden / ein Glühwürmchen«.
Das
Bedauern, diese Welt und ihre Blütenpracht ein letztes Mal zu erleben, wird in vielen Gedichten deutlich. Japaner sorgen sich manchmal so sehr um ihre Blüten, dass sie ihnen noch nach dem Tod
nützen wollen. (Utsu: »Der Besitzer der Kirschblüten / wird zum Dünger / für seinen Baum«). In diesen amerikanischen death poems steht der
Abschied im Vordergrund:
daffodilsNarzissen
come
play with mekommt und spielt mit mir
spring
isFrühling ist
in
the gardenim Garten
and
I must leave soonund ich muss bald fort
Marc
Thompson
WatchingBeim Betrachten
the
pear tree blossomder Birnenblüte
a
new sorrow –ein neuer Kummer –
this
year it is my turndieses Jahr ist es an mir
to
leavezu scheiden
Cherie
Hunter Day
waiting
alonealleine
warten
one
by onenacheinander
the
flowers closeschließen sich die Blumen
Robert
Gibson
Aus
Robert Gibsons Haiku sprechen Einsamkeit und Verlust. Nicht nur Blumen und Weggefährten verschwinden, mit ihnen auch die Freude am Leben. Ein sabi-Text, der berührt.
Gedanken
über den eigenen Tod, die Vergänglichkeit des Lebens, dessen Spuren verwehen, sowie die Ungewissheit darüber, was danach kommt, sind in westlichen Kulturen häufiger zu finden als in Japan,
wo nicht der individuelle Tod und die Erlösung des Einzelnen im Vordergrund stehen, sondern der Mensch auch beim Sterben eingebunden ist in Familie und Religion. Das volle Vertrauen auf Amida
Buddha und die Wiedergeburt ermöglichen eine heitere Gelassenheit beim Sterben, genauso wie die Haltung der Zenbuddhisten, das Sterben als Realität zu akzeptieren. Der westliche Mensch hat es
da schwerer, sofern er nicht in seiner Religion verwurzelt ist.
lull
me, musewiege mich, Muse
into
the wavering beliefin dem unsicheren Glauben
that
my tankadass meine Tanka
will
walk memich führen werden
to
the end of the roadbis ans Ende des Weges
Sanford
Goldstein
When
i am goneWenn ich nicht mehr bin
you
can search the sandskönnt
ihr im Sand
to
find my name.nach meinem Namen suchen.
Do
it quickly,Macht es schnell,
say
the crabs.sagen die Krebse.
William
Ramsey
having
spent my lifemein Leben verbracht
in
the service of beauty:im Dienste der Schönheit:
now
human garbagenun menschlicher Müll
Lindley
Williams Hubbell
fork
in the roadStraßengabelung
both
branches beide Abzweigungen
closedgesperrt
Matthew
Louvière
Die
Ausweglosigkeit einer Situation, die im letzten Haiku geschildert wird, kann als Metapher für den Tod gelten.
Eine
interessante Variation der Frage nach den letzten Dingen, die auf Elementen der eigenen Kultur beruht, hat June Moreau gefunden:
What‘s
on the other sideWas ist auf der anderen Seite
of
the sky, coyote?des Himmels, Coyote?
Open
the white doorÖffne die weiße Tür
of
silencedes Schweigens
and
take me there …und bring mich dorthin …
June
Moreau
Der
Coyote wird in den Mythen der amerikanischen Indianer verehrt, weil er ihnen das Feuer gebracht hat. Er hilft außerdem dem Menschen, in die »andere Welt« zu gelangen. Roberta Beary greift in
ihrem Tanka
bird
callder Vogelruf
my
father would whistleden mein Vater immer pfiff
to
wake meum mich zu wecken
wakes
meweckt mich
to
a great emptinesszu einer großen Leere
Roberta
Beary
den
Begriff der Leere auf, der im Buddhismus die Essenz aller Dinge ist. Der Vogelruf erinnert an den vorausgegangenen Vater und gleichzeitig an den Bergkuckuck (oder Raben), der in vielen
japanischen Sterbegedichten zur letzten Reise ruft.
Ein
gewisser Humor, der im japanischen jisei bis zur Satire geht, ist in amerikanischen death poems eher selten zu
finden. Hier die Genugtuung, dem Tod noch immer ein Schnippchen geschlagen zu haben:
age
ninety-nineneunundneunzig Jahre
she
repeats herselfwiederholt sie sich
joyouslyvergnügt
Steven
Addiss
Mit
den Worten »Halt, nicht so schnell« (ein Ruf, der aus der Sprache der Sumo-Ringer stammt) erbat Shayo 1776 Aufschub vom Tod. Das folgende Haiku hat ein ähnliches Thema; ein Naturbild in
seiner farbigen Schönheit regt die Autorin zu einer irrationalen Hoffnung an:
crimson
maplespurpurroter Ahorn
maybe
deathvielleicht wird der Tod
won‘t
recognize memich nicht erkennen
Cherie
Hunter Day
Die
Hoffnung eines Dichters, dass etwas von ihm der Nachwelt erhalten bleibe, wird in einem Tanka auf skurrile und dennoch tiefsinnige Weise dargestellt:
floating
thereschwimmend dort
in
the pickle jarim Gurkenglas
my
writing handwird meine Schreibhand
will
survive me,mich überleben
and
maybe write of joyund vielleicht von Freude schreiben
William
Ramsey
Man
könnte den Wunsch herauslesen, dass der Autor in einem anderen Leben gern eine positivere Lebenseinstellung hätte.
Für
diesen kleinen Streifzug durch amerikanische death poems habe ich nur Gedichte ausgewählt, die jisei im
klassischen Sinne darstellen, also sich mit dem eigenen Tod auseinandersetzen. Es gibt natürlich, wie generell in westlichen Ländern, eine Vielzahl von »Pseudo«-jisei,
die sich mit dem Tod anderer Personen und der Trauer oder, angelehnt an abendländische Lyrik, mit dem Sterben allgemein befassen. Hierzu gehören auch die Gedächtnis-Haiku, die oft einem
Sterbegedicht sehr nahe kommen:
once
againwieder einmal
geese
heading southfliegen Gänse nach Süden
some
never to returnmanche kehren nie zurück
Steve
Sanfield
Ziehende
Vögel sind in Japan stets eine Metapher für Verlust und Tod gewesen (Choshi: »auf seinem Weg / westwärts ins Paradies – / ein ziehender Vogel«).
Zum
Abschluss eine Sequenz, die das Ende eines Lebensweges in klaren, eindrucksvollen Bildern schildert:
OnlyNur noch
autumnHerbst
the
path along the riverder Pfad am Fluss entlang
grows
narrowwird schmal
home
from my travelsvon meinen Reisen daheim
my
dark housegrüßt mich
greets
memein dunkles Haus
for
the last timezum
letzten Mal
looking
at the mountainbetrachte ich den Berg
that
is only a hillder nur noch ein Hügel ist
by
her sick bedan ihrem Krankenbett
sprig
of pussywillowein Weidenkätzchenzweig
in
a stone vasein einer Steingutvase
autumn
grassdas Herbstgras
wavingwinkt
with
one shadowmit einem Schatten
Leatrice
Lifshitz
Karen
Klein schreibt dazu in Frogpond Nr. 3/2003: … »Ich empfinde das tiefe Bewusstsein des Sterbenmüssens und den Ernst, die Schönheit und Schlichtheit,
mit der sie dies ausdrückt. Von dem schmaler werdenden Pfad zu dem dunklen Haus bis zur Steingutvase ist die Schwere zu spüren, aber auch ihr gut beobachtendes Auge, wenn das Gras mit einem
Schatten winkt, als wenn es die Welt wäre, die ihr Lebewohl zuwinkt«.
Der
Titel deutet es schon an: der Berg ist nur noch ein Hügel, angesichts des Todes wird vieles klein und unwichtig. Es zählen jetzt die einfachen Dinge, die Erleichterung und Freude bringen.
Keine Angst vor dem Sterben, sondern Gelassenheit spricht aus diesen Zeilen und die Gewissheit, von der lange getragenen Last einer schweren Krankheit bald erlöst zu werden.
Alle
Übersetzungen von Ruth Franke.
Ein
besonderer Dank an Jim Kacian für seine Interesse an dieser Serie und seine ständige Bereitschaft zur Unterstützung.
Literatur:
Thomas
Hemstege: Haiku im Angesicht des Todes. Frankfurt a.M.: minimart-Verlag, 1999.
Yoel
Hoffmann: Japanese Death Poems. Rutland, Vt. & Tokio: Charles E. Tuttle Publishing Co.,
1986. ISBN 0-8048-3179-3; (die deutsche Ausgabe »Die Kunst des letzten Augenblicks« ist leider vergriffen).