Ruth Franke
Amerikanische Haiku Michael McClintock
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Zwanzig Jahre blieb Michael McClintock aus beruflichen Gründen der Haiku-Szene fern, doch als er 2001 seine Stellung als Direktor der öffentlichen Bibliothek in Los Angeles aufgab, widmete er sich dem Haiku und seinen verwandten Formen wieder ganz und gewann in kurzer Zeit mit seinen Kurzgedichten, Haibun, Essays und Buchkritiken weltweites Ansehen.  - Während seines Studiums in Los Angeles (englische und amerikanische Literatur, Asienwissenschaften und Informatik) gab er in den siebziger Jahren verschiedene Haiku-Zeitschriften heraus. Seine frühen Haiku waren richtungweisend und beeinflussten auch Marlene Mountain, die sein berühmtes Gedicht
 
a poppy ...                                      eine Mohnblume ...
a field with poppies!                          ein ganzes Mohnfeld!
the hills blowing with poppies!             die Hügel wogend mit Mohn!
 
mit Bildern von Monet und Cezanne verglich. Neben der Freude an der Natur sah er diese schon damals nicht im idealisierten Licht, sondern zeigte auch die hässlichen Seiten:
 
dead cat ...                                       tote Katze ...
open-mouthed                                   das Maul geöffnet
to the pouring rain                             zum strömenden Regen
 
Seine frühen Bücher sind alle vergriffen, doch seine Gedichte sind in vielen Anthologien und Zeitschriften enthalten. 2003 gab er zusammen mit Pamela Miller Ness und Jim Kacian "The Tanka Anthology" heraus. 2005 erschien eine Sammlung von 60 Kurzgedichten, vorwiegend Tanka: "Letters in Time".

Was zuerst bei seinen Haiku auffŠllt, sind die eindrucksvollen Bilder, die alle Sinne ansprechen und sofort vor Augen stehen:

 
sea mist                                            Seenebel
the scent of the night                          der Duft der Nacht
it spent in the pines                            die er in den Kiefern verbrachte
 
the moon                                           der Mond
has found it for me                             hat ihn für mich gefunden
a mountain path                                den Bergpfad
 
letting sand fall                                  aus meiner Hand
from my hand                                   Sand rinnen lassen
countless suns                                  unzählige Sonnen
 
idle summer day                               müßiger Sommertag
sucking meat                                   ich sauge das Fleisch
from a fig                                       aus einer Feige
 
In der "Körperlichkeit" des letzteren Haiku, dem Genuss und der Einheit von Subjekt und Objekt, sieht Lee Gurga ein Beispiel für "materiality" (eine von Blyth's 13 Charakteristika für einen Haiku-empfänglichen Geist).
Eines seiner sinnlichen Haiku mit erotischem Hintergrund legt den Vergleich mit einem minimalistischen Tanka ähnlichen Inhalts nahe:
letting my tongue                                ich lasse meine Zunge
deeper into the cool                            tiefer in die kühle
ripe tomato                                       reife Tomate
 
biting                                               hineinbeißen
into the peach                                   in den Pfirsich
it seemed                                         er schien
it did                                               wirklich
kiss me                                            mich zu küssen
 
Im Haiku wird es nur angedeutet, im Tanka dagegen ist das Gefühl des Autors ausgesprochen.
Ohne die Natur zu vernachlässigen, möchte er zunehmend seine Themen im zeitgenössischen städtischen Leben ansiedeln:
 
traveling, too,                                   sie reisen auch
on a seat by the window                     auf einem Platz am Fenster
green melons                                    grüne Melonen
 
a neatened desk                                ein aufgeräumter Schreibtisch
my days here                                    meine Tage hier
all but vanished                                 fast entschwunden
 
visiting graves ...                              Gräberbesuch ...
we flicker as we walk                         wir flackern beim Gehen
down shadowed rows                         durch beschattete Reihen
 
Aus seinen neueren Natur-Haiku spricht die Sehnsucht nach etwas, das wir nicht wirklich besitzen; Themen wie Trauer, Verlust und Vergänglichkeit, Einsamkeit werden deutlich. - Wenn Marlene Mountain sein 1971 entstandenes Mohn-Haiku mit Bildern impressionistischer Maler verglich, so könnte man einige von McClintocks späteren Haiku und Tanka mit den weniger düsteren Bildern von Caspar David Friedrich vergleichen - den gewaltigen Landschaften mit ihrer Färbung und Stimmung im Wechsel der Jahreszeiten, inmitten der einsame Mensch vor der Unendlichkeit von Wasser und Himmel.
 
foaming                                            schäumend
the tide pools                                    die Gezeiten-Becken
this lonely world                                 diese einsame Welt
 
each there                                        
for the other -                                   füreinander da -
moon and pine                                  Mond und Kiefer
 
that lonely thing                                 wie einsam
silent lightning                                   dieser lautlose Blitz
on the prairie                                    über der Prärie
 
Auch dabei vermittelt er synästhetische Sinneseindrücke, wie in einem Gedicht, das 2005 einen zweiten Preis beim Kusamakura-Wettbewerb bekam:
 
abandoned years ago                       vor Jahren dem Schilf
to reeds, a cemetery                       überlassen, ein Friedhof
with clear-toned winds                     mit hell klingenden Winden
 
Eine wesentliche Rolle in seinem Werk spielen Erinnerung und Zeit. Er schreibt aus der Erinnerung heraus, die er als seine Muse bezeichnet. Das Gedicht ist für ihn ein Kunstwerk, aus erinnerter Erfahrung in Worte gefasst. In der Wahl von Inhalt und Sprache trifft der Autor subjektive Entscheidungen -  ein fundamentaler Aspekt seiner Theorie des subjektiven Realismus in Haiku und vor allem in Tanka. Noch vielschichtiger für unser Bewusstsein ist die Zeit, in der die Erinnerung wurzelt. Die Erinnerungen an die Vergangenheit sind immer mit uns und sind Gegenwart, indem sie den gegenwärtigen Moment beeinflussen und wandeln - ein weiterer Aspekt des subjektiven Realismus.
In den letzten Jahren hat sich Michael McClintock sehr für die Tanka-Dichtung engagiert. Er ist gegenwärtig Präsident der Tanka Society of America und schreibt die "Tanka-Café-Kolumne für "Ribbons", dem Journal dieser Gesellschaft. Außerdem betreut er die Tanka-Seiten von "Simply Haiku". - Was dieses Kurzgedicht für ihn so attraktiv macht, sind die vielfältigeren sprachlichen und inhaltlichen Ausdrucksmöglichkeiten gegenüber dem Haiku. Es spricht Gefühle aus und subjektive Gedanken, Einsichten und Reflexionen, die aus dem Gedicht eine größere künstlerische Einheit, ein ästhetisches Ganzes machen. Seine Tanka sind in freier Form geschrieben, oft sehr kurz, und die subjektive Stimme spricht teils aus dem ganzen Gedicht, teils verbindet sie die Objektivität beobachteter Bilder mit persönlichen Kommentaren.
 
an old photo                                       ein altes Foto
of my parents                                    meiner Eltern
young and happy -                              jung und glücklich -
of all the things I own                          von allem was ich besitze
that is the saddest                              ist dies das traurigste
 
In seiner neuen Sammlung "Letters of Time", die einige Haiku, aber vorwiegend Tanka enthält, ist das zentrale Thema die Liebe, die er in allen Stadien (Sehnsucht, Leidenschaft, Enttäuschung, Verlustangst und Erfüllung) in Gedichte fasst, die in ihrer Folge ein einziges Liebeslied bilden. Des Autors Gefühlsleben ist verbunden und im Einklang mit den Elementen der Natur und wurzelt in der Erkenntnis der Vergänglichkeit und Begrenztheit der Zeit.
Der lyrische Ton und die Stimmung berühren und erinnern manchmal an alte japanische Liebeslieder, während der "Tanka-Moment" seiner Reflexionen uns nachdenken lässt:
 
apart,                                             getrennt,
our love's a thrush                            ist unsere Liebe eine Drossel
we carry in a thought                        die wir in Gedanken tragen
light as air it sings                             leicht wie Luft singt sie
within the dark                                 in der Dunkelheit
 
between sun and shade                       zwischen Sonne und Schatten
a butterfly pauses                              rastet ein Schmetterling
like none I've seen -                           wie ich keinen sah -
who ever falls in love                          wer verliebt sich je
with someone they know?                    in jemanden den er kennt?
 
from my palm                                   aus meiner Hand
she takes the apple ...                        nimmt sie den Apfel ...
and it is understood                           und es ist klar
our time is not                                  unsere Zeit ist nicht
forever                                            für ewig
 
Eine absolut zentrale Rolle spielt für ihn das Haibun, dessen weiten Spielraum an Ausdrucksmöglichkeiten er schätzt. Er hält es für ein Mittel, um den Dialog mit der Welt zu erweitern, zu konzentrieren und dabei unser Verständnis der Welt und des eigenen Selbst zu vertiefen. Seine eigene Haiku-Prosa, vielfach ausgezeichnet, zeigt eine große Bandbreite an Themen (auch surreale), bei denen die kraftvolle, manchmal leidenschaftliche Sprache dem Inhalt angepasst ist. Oft benutzt er als Stilmittel eine "atemlose" Aneinanderreihung von Bildern, die auf ein überraschendes Ende hinsteuert.
"McClintock ist ein Meister des zeitgenössischen englischsprachigen Haiku" heißt es 1997 in "The Bedford Glossary of Critical and Literary Terms". Mit seinem vielseitigen und tiefgründigen Werk, in dem Michael McClintock immer neue Wege sucht, ist er eine Stimme, die weltweit gehört wird und von der man noch viel erwarten kann.
 
Zitiert mit freundlicher Genehmigung des Autors. - Übersetzungen: Ruth Franke.
Literatur:
Letters in Time, Hermitage West, ISBN 0-9770259-0X
The Tanka Anthology, Red Moon Press 2003
Anthology of Days, Backwoods Broadsides Chaplet Series No. 70, 2002
Dialogue with a Poet by Susumu Takiguchi, World Haiku Review, Vol. 2, No.2
An Interview with Michael McClintock by Janice Bostok, Stylus Poetry Journal 2002
Lee Gurga: Haiku: A Poet's Guide, Modern Haiku Press, Lincoln (Illinois) 2003
 
 
 
© Ruth Franke; Sommergras 72, März 2006