Ruth Franke
Amerikanische Haiku – George Swede
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Wer sich für das nordamerikanische Haiku interessiert, kann an dem kanadischen Autor George Swede nicht vorbeigehen. Sein umfangreiches Werk, das allein über 30 Haiku-Bücher umfasst und mit zahllosen Preisen bedacht wurde, ist in der ganzen Welt bekannt. Neben anderer Lyrik veröffentlicht er Essays und Fachliteratur auf dem Gebiet der Psychologie und ist in vielen Magazinen und Internet-Portalen vertreten. Seine Beschäftigung mit Lyrik hat ihm neue Perspektiven bei seinen Studien über die Psychologie der Kreativität vermittelt.
George Swede wurde 1940 in Riga geboren und lebt seit 1967 in Toronto, wo er den Lehrstuhl der Fachrichtung Psychologie am Ryerson Polytechnikum innehat. Er war Mitbegründer von Haiku Canada (1977) und hat die Entwicklung und Anerkennung dieser Lyrikform in seinem Lande ebenso gefördert wie die internationale Gemeinschaft der Haiku-Dichter.
In seinen Haiku, von denen viele in Nordamerika als Senryu angesehen werden, verwendet er – ähnlich wie Dee Evetts – Elemente aus der Natur, um menschliche Eigenschaften und Situationen, oft humorvoll, darzustellen. Nur selten finden sich reine Natur-Motive. Dabei arbeitet er mit Verben und Adjektiven, schreibt häufig in der Ich-Form und zeichnet klare, einprägsame Bilder, die im Leser sofort Assoziationen wecken. Sein Stil ist unkonventionell in Form und Inhalt und eröffnet neue Perspektiven. Naturbeobachtungen und menschliches Erleben werden einander gegenüber gestellt oder miteinander verglichen, wie im Titelgedicht von »Almost Unseen«, seinem bekannten Auswahlband:
 
almost unseen                                   kaum zu sehen
among the tangled driftwood               zwischen verschlungenem Treibholz
naked lovers                                     ein nacktes Liebespaar
 
Hier wird die Einheit mit der Natur dargestellt und im Leser werden zahlreiche Sinneseindrücke und Erinnerungen an eigene Erlebnisse geweckt. Der Autor versteht es, Dinge im alltäglichen Leben aufzuspüren, die sonst »kaum zu sehen« sind.
Seinem Beruf entsprechend, finden sich auch viele psychologische Themen, in denen er die (meist deprimierende) Realität menschlicher Erfahrungen, oft recht kontrastreich, schildert:
 
after the search for meaning bills in the mail
        nach der Sinnsuche Rechnungen in der Post
 
in one corner                                      in einem Augenwinkel
of the mental patient’s eye                   des psychisch Kranken
I exist                                               existiere ich
 
after the abortion                                nach der Abtreibung
she weeds                                          jätet sie
the garden                                         den Garten
 
Interessant sind die zahlreichen Haiku über den menschlichen Schatten, der als eine Art Doppelgänger oder inneres Ich ein Eigenleben zu entwickeln scheint, mit einem Instinkt für problematische Situationen. In dem bekannten Gedicht
 
passport check                                   Passkontrolle
my shadow waits                                mein Schatten wartet
across the border                                jenseits der Grenze
 
spürt man förmlich die Ungeduld des Wartenden diesseits der Grenze, während in
 
mental hospital                                    Nervenklinik
my shadow stays                                 mein Schatten bleibt
outside                                              draußen
 
die innere Unsicherheit, vielleicht Angst vor dem Betreten der Psychiatrie, durch den Schatten ausgedrückt wird. – Auch der Humor ist spürbar, wenn er am ersten warmen Frühlingstag seinen Schatten wie einen Hund spazieren führt: »first warm spring day / I take my shadow / for a walk.« Ein häufiges Motiv, doch aus einer neuen Perspektive gezeigt.
Auch dem beliebten Thema des Ehestreits weiß Swede eine neue Variante hinzuzufügen:
 
at the height                                         auf dem Höhepunkt
of the argument the old couple                 des Streites gießt das alte Paar
pour each other tea                                einander Tee ein
 
Nach dem Schmunzeln erkennt man hinter dem Ritual des Tee-Einschenkens die innere Verbundenheit des Paares.
Über manche Gedichte, die vordergründig ein klares Bild vermitteln, kann man lange nachdenken; sie haben einen philosophischen Hintergrund oder zeigen die Zwiespältigkeit der menschlichen Natur.
 
under the dirty,                                   unter der schmutzigen,
one-eyed hen a perfect                        einäugigen Henne ein perfektes
white egg                                           weißes Ei
 
alone at last                                       endlich allein
I wonder where                                   ich frage mich wo
everyone is                                        alle sind
 
at the edge of the precipice I become logical
       am Rande des Abgrunds werde ich vernünftig
 
Der zuletzt genannte Einzeiler, der für viele die Grenzen eines Haiku überschreiten mag, ist bei Herausgebern sehr beliebt und wird in vielen Anthologien zitiert.
Es ist George Swede gelungen, in Workshops an seiner Hochschule und in vielen Ländern der Erde die Begeisterung für Haiku zu wecken und zu schulen. »In den Händen eines Meisters kann Haiku die konzentrierte Essenz reiner Poesie sein«,1 schreibt er und stellt fest, dass zeitgenössische Dichter sich zunehmend für diese Lyrikform interessieren. Nicht zuletzt hat der kanadische Autor mit seinem vielseitigen Werk die Anerkennung des Haiku als Teil der Literatur ein Stück vorangebracht (»Almost Unseen« z. B. ist Lehrbuch an Universitäten. Schon Shelley nahm an: »Dichter aller Zeitalter trugen zu einem großen Gedicht bei, das sich ständig weiter entwickelt.«2
 
each haiku                                          jedes Haiku
another piece in                                  ein weiteres Teil in
the endless jigsaw                               dem endlosen Puzzle
 
 
Zitiert mit freundlicher Genehmigung des Autors – Übersetzung Ruth Franke.
 
Literatur:
Almost Unseen, Brooks Books, Decatur, IL 2002, ISBN 0-913719-99-4
Amanda Hill: An Interview-Essay On George Swede
Jessica May: The Psychology Of George Swede’s Haiku
www.millikin.edu/haiku/writerprofiles/
http://home.ican.net/~gswede/
 
 
1  Georg Swede: A History of English Haiku, Haiku Canada Newsletter, vol. 10, No. 2 & No. 3, 1997. http://pages.infinit.net/haiku/histnortham.html
2   Harold Bloom in The Anxiety of Influence, zitiert von David Cobb in Forefathers.
 
 
© Ruth Franke; Sommergras 71/2005