Lia Frank
Haiku, Senryu oder Aphorismus
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Wir wollen hier eine Frage erörtern, die wohl nicht nur mir zu denken gibt. Es handelt sich um die Unterscheidung von Haiku, Senryu und eines Aphorismus. Die Besonderheiten eines Haiku, Senryu und Aphorismus scheinen des öfteren nicht genau erkannt und wahrgenommen zu werden. Davon zeugen so manche Veröffentlichungen in unseren Zeitschriften und Sammelbänden. Immer wieder begegnet man einem Dreizeiler, der als Haiku oder Senryu eingestuft ist, jedoch lediglich seiner Form nach als solcher erscheint, wiewohl er seiner Aussage nach einen Aphorismus darstellt.
Um die hier angesprochenen dichterischen Kurzformen einer vergleichenden Analyse unterziehen zu können, wollen wir uns deren Merkmale vor Augen führen.
Das Haiku. Das siebzehnsilbige japanische Kurzgedicht kann man als Poesie der "persönlichen Wahrnehmung" bezeichnen. Diese Wahrnehmung soll naturbezogen sein. Der Leser, bei dem ebenfalls Naturverständnis vorausgesetzt wird, ist im Stande, das Erlebnis des Dichters nachzuvollziehen. Mit dem Haiku haben wir uns wiederholt und ausführlich auseinandergesetzt und wollen es hier bei dieser kurzen Charakteristik belassen.
Das Senryu gleicht seiner metrischen Form nach dem Haiku. Im Gegensatz zum Haiku wird das Senryu jedoch nicht ganz so leicht zu definieren sein. Dabei gibt es natürlich seit langem gängige Definitionen des Senryu. Diese sind unkompliziert, und das ist wohl ihr einziger Vorteil.
So wurden in den Anfängen der Rezeption des Haiku in Europa die Merkmale des Senryu auf zwei beschränkt:
 
1. Das Senryu hat keinen Naturbezug und
2. Das Senryu ist ein humorvoller Haiku-Vers. 
 
Hier wird ein Senryu als Beispiel aufgeführt, das jedoch im Gegensatz zu den oben aufgeführten Regeln ein Jahreszeitenwort enthält:
 
Ah, sie zanken sich!
Hinter ihnen auf dem Weg
liegt ein Blütenzweig... 
(anonym; übers. von G. Coudenhove-Kalergi!)
 
Dessen ungeachtet ist das Kernerlebnis hier in keiner Weise eine Naturempfindung und das kigo, der Blütenzweig, erfüllt eine völlig andere Funktion als im Haiku. Der Blütenzweig ist eine Metapher, die etwas besonders Begehrenswertes symbolisiert - einen Blütenzweig eben - den man in der Hitze des Streites achtlos fallen ließ! Der eigentliche Gegenstand dieses Dreizeilers ist einzig und allein die menschliche Beziehung der beiden, ihr Zorn, in dem alles andere, das mit dem frischen Blütenzweig symbolisiert wird, seinen Wert verliert! Dennoch wirkt der Blütenzweig als Metapher in dem Senryu keineswegs störend, sondern eher belebend.
 
Und nun zum zweiten Merkmal des Senryu - dem Humor, der für diese Art der Dreizeiler als unabdingbar betrachtet wird.
 
Immer wieder schaut
er dem Mädchen ins Gesicht,
der verliebte Kerl! 
(anonym; übers. von G. Coudenhove-Kalergi)
 
Dennoch finden wir bereits bei Issa und auch bei Bashô Dreizeiler, die als Senryu gelten dürfen und deren Aussage von Trauer und Vergänglichkeit geprägt ist:
 
Auch wohlwollend betrachtet:
Das Gesicht im Spiegel
zeigt kalte Züge 
(Issa; übers. von D. Krusche)
 
Den europäischen Dichtern wurden die Senryu als eigenständige, dem Haiku verwandte lyrische Versformen erst durch den Übersetzer Gerolf
Coudenhove-Kalergi bekannt gemacht, der die fundamentalen Arbeiten Blyths und auch japanische Texte zum Thema Senryu übersetzte,
welche hier nachfolgend frei zitiert werden.
Gegenstand des Haiku sind die Natur und der Mensch als ein Teil der Natur, wie der Bauer auf dem Felde. Ganz anders ist es im Senryu - sein Thema ist der Mensch und nur der Mensch; und zwar der nicht mehr als Teil der Natur empfundene Stadtmensch in allen Aspekten seines Daseins.
 
Das Senryu entstand Ende des 18. Jahrhunderts, als das städtische Bürgertum in den Großstädten Edo (Tokyo) und Osaka, zu wirtschaftlicher und kultureller Bedeutung gelangte... Wahrscheinlich wurden auch früher schon Kurzgedichte dieser Art verfaßt, im Gegensatz zu der hochästhetisierenden klassischen Haiku-Dichtung. Allerdings wurden diese Siebzehnsilber nie aufgezeichnet und blieben stets anonym.
 
Erst ein gewisser Karai Hachiemon kam auf den Gedanken, solche siebzehnsilbigen Kurzgedichte zu sammeln und sie unter dem kollektiven Künstlernamen Senryu herauszugeben. Die einzelnen Verse hießen von da ab auch Senryu und blieben weiterhin anonym. 
Senryu bedeutet 'Flussweide' und steht symbolisch für einen Baum am Wasser in dessen Zweigen und Wurzeln alles Angeschwemmte hängen bleibt! Die Senryu wurden systematisch von Mittelsmännern, die zumeist Teehausbesitzer, Barbiere, Geldwechsler und Händler waren, gesammelt und von Herausgebern ausgewählt. In den Jahren von 1765 bis 1789 sind die ersten 14 Senryu-Bände erschienen. Die Nachkommen des ersten Senryu-Dichters und -Sammlers Karai Hachiemon setzten sein Werk fort und gaben zur Mitte des 19. Jahrhunderts fortlaufend weitere Bände heraus.
Erst nach 1837, dem Jahr des Erscheinens des letzten anonymen Senryu-Bandes, hörte die Anonymität auf. Im 19. und 20. Jahrhundert wurden Senryu bereits mit dem Namen des Verfassers gekennzeichnet, und darunter fand man auch die Namen bekannter Haiku-Dichter. Dessen ungeachtet blieben die Senryu, im Unterschied zu den Haiku, Erzeugnisse nicht von Literaten für Literaten, sondern Verse des Volkes für das Volk. Sie wurden daher von den Literaturkennern niemals zur Literatur gezählt.
 
Thema des Senryu ist, wie schon erwähnt, der Mensch in all seinen Lebensaspekten und nicht etwa, wie er sein sollte, sondern eben wie er wirklich ist! Das Senryu hat keinerlei weltverbessernde Tendenz zum Unterschied von den satirischen Epigrammen anderer Kulturkreise. Das Senryu stellt den japanischen Menschen wahrhaftig und unbestechlich dar, jedoch ohne Zynismus und Wehleidigkeit. Senryu sind ein Spiegel japanischer Lebensweisheit, Lebenserfahrung, die durch Scharfblick und in ehrlicher Auseinandersetzung mit den menschlichen Schwächen gewonnen wurden. Die Einstellung des Senryu-Dichters ist immer von einem teilnehmenden bis schonungslosen Humor gekennzeichnet, dem aber kein Pessimismus anhaftet.
Soweit die Ausführungen Coudenhove-Kalerqjs.
 
Dem möchte ich nun hinzufügen, daß wir unter allen Aspekten des menschlichen Lebens alle Arten sozialer Bindungen verstehen wie Familie, Freundeskreis, Staat und Politik, Gewerbe und Beruf, und selbstverständlich alle menschlichen Angelegenheiten: Liebe, Krankheit, Tod. All dies wird ungekünstelt dargestellt und, nicht zu vergessen, auch mit Humor!
 
Eine neue Magd - 
heute hängt der Besen ganz 
anderswo als sonst! 
Yayu 
 
                                  
Als ich auf den Kamm
meiner toten Gattin trat
traf's mich tief ins Herz
Buson
Ach, sie hassen mich! 
Diese Nachbarn spülen laut 
ihre Pfannen aus!
Buson 
 
 
Meiner Füsse Staub
abzuwaschen wag ich nicht -
Allzu klarer Quell
Fahaku
(Übers. v. G. Coudenhove-Kalergi)

 

Allerdings sei darauf hingewiesen, daß die Grenzen zwischen Haiku und Senryu fließend sind, daß hiermit marginale, an der Grenze zwischen Haiku und Senryu liegende Dreizeiler vorkommen, und daß es auch Senryu gibt, die mehr als Sinnspruch oder Aphorismus anmuten. Darüber ließe sich demzufolge diskutieren. Das Diskutieren ist jedoch eine durchaus positive Tätigkeit, denn dabei kommt des öfteren eine wertvolle Erkenntnis zutage. Und damit wären wir bei der dritten Form der kurzen dichterischen Aussage angelangt, bei dem Aphorismus oder Sinnspruch.
 
Der Aphorismus wird als Gedankensplitter, als geistreich funkelnder überraschender Sinnspruch definiert. Um diese Definition noch greifbarer zu machen, wollen wir auch dem Begriff  'Sinnspruch' nachgehen: Der Sinnspruch ist ein allgemeingültiger, eine Lebensweisheit oder Lebensregel enthaltender Spruch, meist in Versform. Um sich die wesentlichen Unterschiede von einem Haiku, Senryu und Aphorismus klar zu machen, führe ich einen Aphorismus an, um ihn darauf in ein Senryu umzuwandeln. Der Aphorismus lautet:
 
Alle Schulden begleichen, namentlich im Alter!
 
Wollen wir nun versuchen, die gleiche Aussage als Senryu zum Ausdruck zu bringen:
 
Begleiche letzte
Schulden: Schicke Bücher ab, 
längst versprochen ...
 
Um die Gültigkeit unseres Vorgehens zu überprüfen, wollen wir nun die Umwandlung eines Haiku in einen Sinnspruch, einen Aphorismus vornehmen:
 
Noch edler scheinst du, 
rote Chrysantheme, -
jetzt in Demut ergraut ...
 
Um dieses Haiku in einen Sinnspruch umzuformen, wäre notwendig, die allgemeingültige, über das Haiku hinausweisende und mit dem Haiku vergleichbare Lebenserfahrung deutlich und unumwunden zum Ausdruck zu bringen. So könnte es heißen:
 
Rote Chrysanthemen ergrauen in Demut, gleich schönen Frauen ...
 
Worin besteht ganz konkret der Unterschied der beiden Aussagen? In dem Chrysanthemen-Haiku liegt ein ganz persönliches Erlebnis vor, - es ist die Wahrnehmung einer bestimmten roten Chrysantheme, der Eigenart ihres Dahinwelkens. Gewiß ist auch dies eine Lebenserfahrung, die vergleichbaren Vorgängen des menschlichen Lebens entspricht. Nur werden im Haiku eben keine derartigen Vergleiche angestellt. Die persönliche Erfahrung des Dichters erhebt hier keinerlei Anspruch auf eine allgemeingültige Weisheit! Ihm ist es einzig und allein um die eine rote Chrysantheme zu tun, welche der Dichter in ihrem Dahinwelken noch reizvoller, rührender findet. Alle anderen Erwägungen, falls sich solche beim Leser einstellen sollten, sind des Lesers ureigenstes Recht, - sein Recht der Verallgemeinerung!
Nun handelt es sich ja bei Sinnsprüchen um Lebenserfahrungen. Doch sind es hier Erfahrungen völlig anderer Art, nämlich kollektive Erfahrungen, die viele Menschen bereits gemacht haben. Gerade durch seine eigene Erfahrung wird der Leser von dem Aphorismus angesprochen. Freilich teilt diese Erfahrung auch der Autor selbst mit dem Leser. Doch hat er, im Unterschied zu den Lesern, diese Erfahrung verallgemeinert und mit einem treffenden Vergleich versinnbildlicht. Der Leser kann sie nun mit den eigenen Erfahrungen vergleichen, sie akzeptieren oder auch ablehnen ... Die Verallgemeinerung selbst wird ihm jedoch nicht überlassen, diese wird vom Autor des Aphorismus vollzogen und dargeboten.
Wollen wir nun den nachstehenden Dreizeiler untersuchen, um festzustellen, ob sein Anspruch, als Senryu zu gelten, auch zu Recht besteht:
 
Ach, sei ohne Furcht -
wir wissen uns geborgen
als Teil der Schöpfung ...
 
 
Empfinden wir den aufgeführten Dreizeiler als Senryu? Was spricht dagegen? Meines Erachtens dreierlei:
 
1. Die Lehrhaftigkeit, was besagt, daß der Autor seine Erfahrung als Lebensprinzip darbietet: „Sei ohne Furcht"; 
2. Die Verallgemeinerung einer kollektiven Erfahrung: „Wir wissen..."; 
3. Die fehlende Darstellung eines persönlichen Erlebnisses. So bleibt es in diesem Falle bei einer philosophischen Sentenz, einem Aphorismus oder Sinnspruch. Doch können wir versuchen, die Idee, die diesem Sinnspruch zugrunde liegt, als Senryu zu gestalten! Dazu müßten wir vor allem auf die Lehrhaftigkeit und die Verallgemeinerung verzichten. Dann müßten wir uns um ein Bild bemühen, das ein persönliches Schlüsselerlebnis versinnbildlicht und die Idee von der Geborgenheit in der Schöpfung trägt !
 
Löwenzahnpollen !
Geborgenheit finden in
der Schöpfung, gleich euch ...
 
Bei unserer Transformierung ist aus dem Dreizeiler, der ein vermeintliches Senryu war, ein vollgültiges Haiku geworden. Die Wahrnehmung der Löwenzahnpollen steht dafür. Die Idee der Geborgenheit in der Schöpfung wird durch die Löwenzahnpollen versinnbildlicht, die sich getrost der Naturgewalt überlassen. Um die Unterscheidungsmerkmale von Haiku, Senryu und Aphorismus praktisch anzuwenden, wird hier eine kleine Auswahl von Dreizeilern geboten. 
 
Versuchen wir; diese einzuordnen: Haiku, Senryu oder Aphorismus ?
 
Gelbe Lilien 
verglühen im Abendlicht - 
dunkel bleibt der Krug 
 
     
Wege nach oben
sind rauh, mühsam zu erzwingen
und selten Genuß
Wüßten wir wirklich 
etwas, wenn wir den Nebel 
durchschauen könnten? 
 
     
Ging zum Hütekauf
verlor das Geld unterwegs
Und zuletzt den Kopf!
Insel im Regen, 
in den Ohren rauscht das Meer,- 
im Kopf der Rum 
 
     
Kleiner Fausthandschuh -
Verloren liegt er im Schnee, 
ganz steif vor Kälte
Rebellion heißt 
Aufschrei gegen die Trägheit 
der schlechten Ordnung
 
Literaturnachweis:
R.H. Blyth: Senryu, Japanese Satirical Verses. The Hokuseido Press. Tokyo 1949. 
Ders.: Oriental Humor. ebd.1959. Ders. Japanese Life and Character in Senryu ebd. 1960. 
SENRYU. Japanische Lebensweisheiten, Heiterkeit und Besinnlichkeit im Gedicht. 
Aus dem Jap. von G. Coudenhove-Kalergi. Die Waage, Zürich. 1966.
Japanische Jahreszeiten. Übertr. v. G. Coudenhove. Manesse. 1963.
Haiku, Japanische Dreizeiler. Ausgw, und aus dem Urtext übers. von Jan Ulenbrook. Reclam. 1995.
Auf einen Atemzug. Klassische Haiku. Hersg. von Dietrich Krusche. Die Taschenbibliothek. München. 1994.