Mario Fitterer
Wie kommt der Traum ins Haiku? Ban'ya Natsuishi über Träume im Haiku (1)
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                                                        Ich schloß alles zu
                                                        wollte schlafen. Doch der Traum
                                                        rief mich beim Namen.
                                                                                            Imma von Bodmershof
 
Minami no taigyo no yume ni hairite sakebitashi
Entering a dream                         Als ich in den Traum
of that Great Fish of the South,      eines großen Fisches im Süden getreten,
wanting to cry out                       hätte ich aufschreien mögen
Ban’ya Natsuishi
 
Dietrich Krusche nennt das sonst kaum zitierte Haiku von Imma von Bodmershof, das »die äußere und die innere Szenerie in eins gehen« lasse, als Beispiel für die »Identitätssuche« modernen Bewußtseins und die Rolle, welche der Traum dabei spiele. (2)
Von Symbolen und archaischen Ur-Bildern im Haiku spricht Sabine Sommerkamp und sagt im Hinblick auf »die Eingängigkeit des Haiku« und seine Universalität:
Die »in abgewandelter Form immer wieder auftretenden naturbezogenen Symbole, die sich über Jahrhunderte hinweg im Bewußtsein der japanischen Bevölkerung als ›Gemeinsprache‹ vererbt haben«, seien »im weitesten Sinne sogenannte ›archaische Ur-Bilder‹«. Das Haiku wirke, »mit C.G. Jung gesprochen«, »wie ›eine Antwort der Natur, der es gelungen ist, ihre Reaktion dem Bewußtsein unmittelbar zuzuführen‹«. Das Haiku müsse, um ganz verstanden zu werden, deshalb vom westlichen Leser nicht studiert werden, sondern sei ein »Dreizeiler, der ohne besondere Vorkenntnisse« erfahren« werden könne. (3)
Okiyo okiyo                                   Réveille-toi
waga tomoni sen                          et sois mon compagnon
Nuru koch                                      papillon qui sommeille
Bashô
                                                        Wach auf
                                                        und sei mein Begleiter
                                                        Schmetterling der du schlummerst
Dieses »Bild-Symbol« sei, so Alain Kervern, »Zeichen der Doppeldeutigkeit unserer Wahrnehmung von Realität durch eine doppelte Natur hindurch, die des Insekts, das fliegt, und die des Menschen, die es ansieht«. Es handle sich um »zwei Abhänge ein- und desselben Abgrunds, des fruchtbaren Hohlraums des Kosmos«.
Dieses wie zahlreiche andere Schmetterlings-Haiku seien im Gefolge eines Traums von Zhuang Zi, einem der beiden bekanntesten taoistischen Denker, entstanden. Aus einem Traum erwacht, in dem er glaubte, ein Schmetterling zu sein, habe Zhuang Zi die sehr berühmte Frage gestellt:
Bin ich ein Mensch, der träumt, ein Schmetterling zu sein,
bin ich ein Schmetterling, der träumt, ein Mensch zu sein? (4)
Der Traum beschäftigt auch Bashô . In einem Gedicht von Li Po (699-762), das Bashô  seinem Reisetagebuch »Auf schmalen Pfaden durchs Hinterland« als Leitmotiv voranstellt, heißt es u.a.: »Das Leben in dieser flüchtigen Welt gleicht einem Traum.« (5) Sein letztes Gedicht vor dem Tod lautet:
Tabi ni yande                                Krank auf der Reise :
Yume wa kareno wo                     Mein Traum, auf dürrer Heide
kakemeguru                                  huscht er umher. (6)
Wie kommt der Traum ins Haiku? Nach dem Prinzip des shasei? Als Ausdruck des »objektiven Realismus«, des »subjektiven Realismus«, des »wählerischen Realismus«? Was ist Realismus, literarisch gesehen? »Mit der Wirklichkeit übereinstimmende, die Wirklichkeit nachahmende künstlerische Darstellung«, ruft Duden. Ban’ya Natsuishi, einer der hervorragendsten modernen Haikudichter, sagte im Interview »World and World Haiku« (1), westliche Haikudichter vermengten vielleicht Realität (»reality«) mit Tatsache (»fact«). Realität könne ohne Zweifel das Phantasievolle (»imaginative«) und die menschliche Realität einbeziehen.
Er habe, so Ban’ya Natsuishi im Abschnitt »Haikugestaltung im Ausland« (1), versucht, erstaunliche Traditionen und Phänomene aus der ganzen Welt in verschiedene seiner Haiku einzubringen. Bei einer Reise in den Süden der Bretagne 1996 sei dieses Haiku entstanden:
A dragon has sunk                       Ein Drache sank
into the Atlantic Ocean                in den Atlantischen Ozean
autumn heat                                  Herbsthitze
Das Haiku basiere auf der Legende des heiligen Gildas und eines wilden Drachens, der von einem Kap in den Atlantischen Ozean gesunken sei. An dem Tag, als er dem Atlantischen Ozean gegenübergestanden sei, sei es heiß gewesen, wie wenn der Drache auf dem Grund des Ozeans die Hitze und das grelle Licht hätte ausströmen lassen.
In »A Future Waterfall« taucht auch dieser Drache auf:
Ry     no hone yori umarete wa waran ware
Each time I’m born                       Jedes Mal wenn ich
from a dragon’s bone                   aus einem Drachenknochen geboren werde
I smile                                            lächle ich
Möglichweise geht dieses Haiku auf den Mythos eines Tabubruchs zurück. (7) Toyotama-bime, die Tochter des Meeresgottes, wollte ihr Kind nicht in Meeresgefilden, sondern in einem eigens errichteten Gebärhaus zur Welt bringen, und zwar in ihrer eigenen Gestalt als Meerwesen. Sie bat ihren Mann, dabei nicht nach ihr zu schauen. Er konnte nicht widerstehen und sah seine Frau in ein acht Klafter langes Krokodil verwandelt. Toyotama-bime, die bemerkt hatte, dass er sie heimlich beobachtet, war voller Scham, weil er ihr Schande zugefügt hatte. Deshalb wollte sie Meer und Land nicht mehr miteinander verkehren lassen und versperrte die Grenze zwischen ihnen.
Ban’ya Natsuishi sucht eine Basis für das Welt-Haiku im 21. Jahrhundert. Mit Blick auf die mit oder ohne Gene gegebenen Gemeinsamkeiten und der Unterschiede der Menschen stellt er die Wichtigkeit der Träume in vielen Mythen, Legenden und Volkssagen überall auf der Welt fest. Er möchte nicht in die alte Welt zurückführen, jedoch darauf hinweisen, welche Bedeutung der Traum für die Menschheit habe. (1)
Im Abschnitt »Unsere Basis für Welt-Haiku im 21. Jahrhundert« (1) erläutert Ban’ya Natsuishi sein Interesse an zeitgenössischen Haiku, in denen der Traum den Kern bilde und präsentiert einige Haiku, in denen das Wort »Traum« vorkommt, darunter:
restless dream                              unruhiger Traum
a game of hide and seek            ein Spiel von Verstecken und Suchen
in the graveyard                           auf dem Friedhof
 Joanne Morcom, USA
As numerous as                           Zahlreich wie
thorns of the cactus                      Kaktusdornen
my dreams                                    meine Träume
Sumie Aihara
In my dream                                  In meinem Traum
float                                                treiben
all shapes and sizes                    alle Formen und Größen
Saki Inui
Zu den beiden letztgenannten Haiku wird bemerkt: Sumi Aihara habe sich viele bittere Träume eingestanden, und Saki Inui, ein japanisches Mädchen, sei von ihren verworrenen Träumen überrascht gewesen. Indes sei es beiden japanischen Frauen bei der Gestaltung ihrer Haiku gelungen, das Wahre ihres Traums zu erfassen.
Nach der Vorstellung kriegsbezogener Traum-Haiku von Dimitar Anakiev, Slowenien, und Mirolsav Klivar, Tschechische Republik, folgt als »Kontrast« ein Haiku von Jim Kacian, USA:
Into my dream                              In meinen Traum
the gentle rocking                        das sanfte Schaukeln
of the ship                                      des Schiffs
Kacians »Traum« werde sanft und entspannt durch die heilende Bewegung des Schiffs.
Durch Haiku in mehreren Sprachen könnten wir zu verschiedenen wesentlichen Aspekten des Traums gelangen. Deshalb sei das nicht jahreszeitliche Schlüsselwort »Traum« eine exzellente Veranschaulichung der Welt-Haiku-Konzepte.
Im Haiku, so Ban’ya Natsuishi, seien immer zwei gegensätzliche Prinzipien am Werk: Kürze, Augenblicklichkeit, Konzentration und Dauer, Kontinuität, das Auf und Ab der Wellenbewegung. Das wichtigste Element des ersten Prinzips sei das Schlüsselwort, gleich, ob es die Jahreszeiten oder fundamentale Stoffe der Menschheit oder unseres Universums betreffe. Einen kleinen Anteil am künftigen Welt-Haiku habe das Schlüsselwort »Traum«.
Er schließt mit einem Haiku von Tohta Kaneko, »einem der brillantesten japanischen Haikumeister«:
Slept well                                                 Gut geschlafen
till the withered field in my dream        bis das verdorrte Feld in meinem Traum
turned green                                           grün geworden
 
 
 
Literatur:
(1)       Ban’ya Natsuishi: A Future Waterfall, 100 Haiku from the Japanese. Red Moon Press, Winchester VA, 2004 (Second Revised Edition).
(2)       Dietrich Krusche: Das japanische Haiku in Deutschland. Vortrag in der OAG, 1986.
(3)       Sabine Sommerkamp: Der Einfluß des Haiku auf Imagismus und jüngere Moderne. Studien zur englischen und amerikanischen Lyrik, Hamburg, 1984.
(4)       Alain Kervern: Malgré le givre, Essai sur la permanence du haïku. Éditions Folle Avoine, 1987.
(5)       Matsuo Bashô  : Auf schmalen Pfaden durchs Hinterland. Aus dem Japanischen übertragen sowie mit einer Einführung und Annotationen versehen von G.S. Dombrady. Dieterich’sche Verlagsbuchhandlung, Mainz, 1985.
(6)       Horst Hammitzsch: Matsuo Bashô   – ein Wanderer unterm Mond. In: Deutsche Essays zur Haiku-Poetik, hrsg. von Dr. Tadao Araki, 1989.
(7)       Die Mythen des alten Japan. Übersetzt und erläutert von Nelly Naumann. Verlag C.H. Beck, München, 1996.