Mario Fitterer
 
Haiku und Gewalt
zum Archiv Essays
In Haiku kann es heftig zugehen. Unter den in der letzten VJS besprochenen Gedichten taucht „der böse Blick“ auf, das Agressive eines „Nach dem Streit“ zu einem Motorrad Gewordenen. In „Das junge Farnkraut / Blätter zu Fäusten geballt / schießen ans Licht.“ wird die Zuwendung zum Licht sprachlich zum aggressiven Geschehen. In einem der Haiku von Jorge Luis Borges, von Hubertus Thum in derselben Nummer der VJS unter dem Titel „Mond und Spiegel. / Das Haiku im Werk von Jorge Luis Borges“ vorgestellt, heißt es: „Das müßige Schwert / träumt seine Schlachten. / Mein Traum ist ein anderer.“ Bei Borges wird das Schwert im Traum eingeschmolzen. Wenn es den Traum verläßt, kann es zum Tatwerkzeug werden. Schlimmstenfalls bleibt ein Blick zurück, wie im Haiku von Bashô:
Sommergras … !
Von all den Ruhmesträumen
die letzte Spur …
Die aus der VJS erwähnten Haiku veranlassen zu einigen Anmerkungen über Gewalt im Haiku.
In Windenranken
verstrickt der Brunneneimer,
Wasser vom Nachbarn
Chiyo-ni, die von 1703 bis 1775 lebte, war eine unter männlichen Kollegen angesehene Haikudichterin und eine für ihre Zeit emanzipierte Frau. Nach dem Tod ihrer Eltern führte sie deren Schriftrollengeschäft weiter, in dem sie schon früh Gelegenheit hatte, sich mit Dichtung, Kalligraphie und Malerei vertraut zu machen.
Ihr bekanntes Haiku in der Übersetzung von Dirk Lüdtke öffnet den Blick auf eine Alltagsszene. Auf dem Land war es damals üblich, täglich zu einem meist außerhalb liegenden Brunnen Wasser holen zu gehen und mit einem Eimer zu schöpfen. Die damals weithin vorkommende Winde stellte nichts Außergewöhnliches dar. Dennoch windet Chiyo-ni die Winde nicht los und schneidet sie nicht ab. Vielmehr geht sie Wasser holen, wahrscheinlich beim Nachbarn. Die Winde bleibt unangetastet.
Das Haiku ist ein Zeichen für die tiefe japanische Naturliebe. Es entspricht der japanischen Vorstellung, wonach Haiku „die eigentliche Naturdichtung der japanischen Seele“ sei (Toshimitsu Hasumi). Ein Haiku von Issa zeigt Natur mißachtet:
Jiguruma ni
oppishigareshi
sumire kana.
Vom schweren Wagen
wurde es niedergewalzt,
das kleine Veilchen.

 

Einen zivilisierten Eingriff in das Leben der Pflanzen zeigt Ozaki Hôsai (1885-1926):
An ailing person
watches
a flower
being cut.                
Ein/e Kranke/r
schaut
geschnittene
Blumen an
Kirareru hana o byōnin mite-iru
Blumen oder eine Blume (im Original beides möglich), abgeschnitten, um sie in Besitz zu gelangen. Auch im Haiku von Ryōkan geht es um Besitz:
Den Mond im Fenster
hat der Dieb
zurückgelassen.
Der dem Zugriff entzogene Mond überstrahlt den Verlust. Seine Schönheit ist unantastbar. Nicht so in:
nach der tagesschau
beide betrachten ihre hälfte
des vollmonds
Der Dreizeiler von mir versetzte einige Japaner in eine lebhafte Diskussion. Die Halbierung des Monds verletzte ihre Idealvorstellung von seiner Schöhnheit und Vollkommenheit. Dies war nicht alles. Deutlicher wird der disharmonische Hintergrund im Haiku von Kaneko Tōta (geb. 1919):
 
Un’accesa discussione.
Poi, scendo in strada
e in moto mi muto
Eine hitzige Diskussion.
Dann gehe ich auf die Straße hinunter
und verwandle mich in ein Motorrad
Un’accesa discussione.                   Eine hitzige Diskussion.
Poi, scendo in strada                      Dann gehe ich auf die Straße hinunter
e in moto mi muto                          und verwandle mich in ein Motorrad
Die italienische Übersetzung, in der die Einheit von Mensch und Motorrad in der dritten Zeile mit dreifacher Alliteration plastisch vor Augen geführt wird, erscheint, da sie dem Original näher kommt, überzeugender als die englische:
After a heated argument                   Gekiron tsukushi
I go out to the street                       Machi yuki
and become a motorcycle                 Ōtobai to kasu
Wo ist der Übergang von latenter in tätliche Aggression? Katō Shūson (geb. 1905) tötet eine Ameise, Ozaki Hōsai mehrere:
Ari korosu ware o sannin-no ko ni mirarenu
I kill an ant                                   Ich töte eine Ameise
and realize my three children            und realisiere meine drei Kinder
have been watching.                      haben zugeschaut.
A chaque fourmi                             Jeder Ameise
Que je tue                                    die ich töte
La suivante sort                            folgt die nächste
Die Ameise ist Symbol für Fleiß. Er kann zur Ausbeutung dienen. Dies könnte möglicherweise in einem Haiku von Hosoya Genji (1906-1970) angedeutet sein, der als erster Arbeiter seinen eigenen Haiku-Stil entwickelte. Häufig hat er Erlebnisse aus der Fabrik in seinen Haiku verarbeitet:
Beim Turnen in der
Fabrik tritt meinen Schatten
der Vorarbeiter.
Wer kennt seinen Schatten? Kaneko Tōta?
C’est mon lac intérieur                 Dies ist mein Binnensee
dans l’ombre rôde                          im Schatten streift
un tigre noir                                 ein schwarzer Tiger
Wie viele andere Dichter wurde Hakusen Watanabe (1913-1969) 1940 von der Staatsicherheitspolizei verhaftet. Darauf spielt eines seiner den Krieg thematisierenden Haiku an:
Soudain la guerre                          War stood
debout                                        at the end of the corridor
au fond du couloir
Plötzlich der Krieg
aufrecht
am Ende des Korridors
Das Haiku von Saitō Sanki (1900-1962) unten läßt erschauern. Bevor er als Dichter in Erscheinung trat, war er Dentist in Singapur, von wo er infolge eines politischen Klimawechsels 1929 nach Japan zurückkehrte. „Seine Haiku sind gekennzeichnet von frösteln lassendem Nihilismus und zynischem Humor.“ (Makoto Ueda)
Kikanjū miken ni akaki hana ga saku
A machine gun                         Ein Maschinengewehr
in the middle of the forehead         inmitten der Stirn
red blossoms bloom.                     blüht rot eine Blume.
Nach dem Ende des II. Weltkriegs, der dem japanischen Haiku das kigo Atombombe gebracht hatte, schien Nakamura Kusatao (1901-1983) alles erloschen, alles?
Hiyu morotomo                             The metaphores are
Shinkō kiete                                gone, and so is my faith...
Kare no no hi                               sun over a moor
Spenti                                        Erloschen
i valori e con essi la fede.              die Werte und mit ihnen der Glaube.
Sole                                           Sonne
sulla brughiera                              auf der Heide
Literatur:
Atlan, Corinne et Bianu, Zéno, Anthologie du poème court japonais, Paris 2002.
Hasumi, Toshimitsu, Zen in der Kunst des Dichtens, 1986.
Krusche, Dietrich, Haiku. Bedingungen einer lyrischen Gattung, Tübingen, Basel, 1970.
Lüdtke Dirk, Haiku-Gedichte der kaga no Chiyo, http://www-nagao.kuee.kyoto-u.ac.jp/member/dludtke/chiyo/chiyo.html.
Matsuo Bashô, Auf schmalen Pfaden durchs Hinterland. Übertragung, Einführung, Annotationen von G. S. Dombrady. Mainz 1985.
Modern Haiku Association (Gendai Haiku Kyokai) (Hg.): Japanese Haiku 2001. Tōkyō 2001 (jap.-engl.).
Ozaki Hōsai: Portrait d’un moineau à une patte. Hg. v. Alain Kervern. Romillé 1991.
Sakanishi Hachirō (Hg.): Treibeis. Tōkyō 1986.
Sakanishi, Hachirō (Hg.): Issa. Nagano 1981.
Ueda Makomoto (Hg.): Modern Japanese. An Anthology. Toronto and Buffalo 1976.
Zanzotto, Andrea (Hg.): Cento Haiku. In un’antologia commentata il megliodella grande tradizione poetica giapponese. A cura di Irene Iarocci. Milano 1982.