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- In Haiku kann es heftig zugehen. Unter den
in der letzten VJS besprochenen Gedichten taucht „der böse Blick“ auf,
das Agressive eines „Nach dem Streit“ zu einem Motorrad Gewordenen. In
„Das junge Farnkraut / Blätter zu Fäusten geballt / schießen ans Licht.“
wird die Zuwendung zum Licht sprachlich zum aggressiven Geschehen. In
einem der Haiku von Jorge Luis Borges, von Hubertus Thum in derselben
Nummer der VJS unter dem Titel „Mond und Spiegel. / Das Haiku im Werk
von Jorge Luis Borges“ vorgestellt, heißt es: „Das müßige Schwert /
träumt seine Schlachten. / Mein Traum ist ein anderer.“ Bei Borges wird
das Schwert im Traum eingeschmolzen. Wenn es den Traum verläßt, kann es
zum Tatwerkzeug werden. Schlimmstenfalls bleibt ein Blick zurück, wie im
Haiku von Bashô:
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- Sommergras … !
Von all den
Ruhmesträumen die letzte Spur …
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- Die aus der VJS erwähnten Haiku
veranlassen zu einigen Anmerkungen über Gewalt im Haiku.
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- In Windenranken
verstrickt der
Brunneneimer, Wasser vom Nachbarn
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- Chiyo-ni, die von 1703 bis 1775 lebte, war
eine unter männlichen Kollegen angesehene Haikudichterin und eine für
ihre Zeit emanzipierte Frau. Nach dem Tod ihrer Eltern führte sie deren
Schriftrollengeschäft weiter, in dem sie schon früh Gelegenheit hatte,
sich mit Dichtung, Kalligraphie und Malerei vertraut zu machen.
- Ihr bekanntes Haiku in der Übersetzung von
Dirk Lüdtke öffnet den Blick auf eine Alltagsszene. Auf dem Land war es
damals üblich, täglich zu einem meist außerhalb liegenden Brunnen Wasser
holen zu gehen und mit einem Eimer zu schöpfen. Die damals weithin
vorkommende Winde stellte nichts Außergewöhnliches dar. Dennoch windet
Chiyo-ni die Winde nicht los und schneidet sie nicht ab. Vielmehr geht
sie Wasser holen, wahrscheinlich beim Nachbarn. Die Winde bleibt
unangetastet.
- Das Haiku ist ein Zeichen für die tiefe
japanische Naturliebe. Es entspricht der japanischen Vorstellung, wonach
Haiku „die eigentliche Naturdichtung der japanischen Seele“ sei
(Toshimitsu Hasumi). Ein Haiku von Issa zeigt Natur mißachtet:
- Jiguruma ni
- oppishigareshi
- sumire kana.
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- Vom schweren Wagen
- wurde es niedergewalzt,
- das kleine Veilchen.
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- Einen zivilisierten Eingriff in das Leben
der Pflanzen zeigt Ozaki Hôsai (1885-1926):
- An ailing person
- watches
- a flower
- being cut.
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- Ein/e Kranke/r
- schaut
- geschnittene
- Blumen an
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- Kirareru hana o byōnin mite-iru
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- Blumen oder eine Blume (im Original beides
möglich), abgeschnitten, um sie in Besitz zu gelangen. Auch im Haiku von
Ryōkan geht es um Besitz:
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- Den Mond im Fenster
hat der
Dieb zurückgelassen.
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- Der dem Zugriff entzogene Mond überstrahlt
den Verlust. Seine Schönheit ist unantastbar. Nicht so in:
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- nach der tagesschau
beide betrachten
ihre hälfte des vollmonds
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- Der Dreizeiler von mir versetzte einige
Japaner in eine lebhafte Diskussion. Die Halbierung des Monds verletzte
ihre Idealvorstellung von seiner Schöhnheit und Vollkommenheit. Dies war
nicht alles. Deutlicher wird der disharmonische Hintergrund im Haiku von
Kaneko Tōta (geb. 1919):
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- Un’accesa discussione.
- Poi, scendo in strada
- e in moto mi muto
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- Eine hitzige Diskussion.
- Dann gehe ich auf die Straße
hinunter
- und verwandle mich in ein
Motorrad
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- Un’accesa discussione.
Eine hitzige Diskussion.
Poi, scendo in strada Dann
gehe ich auf die Straße hinunter e in moto mi muto
und verwandle mich in ein Motorrad
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- Die italienische Übersetzung, in der die
Einheit von Mensch und Motorrad in der dritten Zeile mit dreifacher
Alliteration plastisch vor Augen geführt wird, erscheint, da sie dem
Original näher kommt, überzeugender als die englische:
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- After a heated argument Gekiron tsukushi
I
go out to the street Machi
yuki and become a motorcycle Ōtobai to kasu
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- Wo ist der Übergang von latenter in
tätliche Aggression? Katō Shūson (geb. 1905) tötet eine Ameise, Ozaki
Hōsai mehrere:
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- Ari korosu ware o sannin-no ko ni
mirarenu
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- I kill an ant
Ich töte eine Ameise
and realize my three children
und realisiere meine drei Kinder have been watching. haben
zugeschaut.
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- A chaque fourmi
Jeder Ameise
Que je tue die
ich töte La suivante sort folgt die nächste
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- Die Ameise ist Symbol für Fleiß. Er kann
zur Ausbeutung dienen. Dies könnte möglicherweise in einem Haiku von
Hosoya Genji (1906-1970) angedeutet sein, der als erster Arbeiter seinen
eigenen Haiku-Stil entwickelte. Häufig hat er Erlebnisse aus der Fabrik
in seinen Haiku verarbeitet:
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- Beim Turnen in der
Fabrik tritt meinen
Schatten der Vorarbeiter.
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- Wer kennt seinen Schatten? Kaneko
Tōta?
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- C’est mon lac intérieur —
Dies ist mein Binnensee —
dans l’ombre
rôde im Schatten streift un tigre
noir
ein schwarzer Tiger
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- Wie viele andere Dichter wurde Hakusen
Watanabe (1913-1969) 1940 von der Staatsicherheitspolizei verhaftet.
Darauf spielt eines seiner den Krieg thematisierenden Haiku an:
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- Soudain la guerre
War stood
debout at the end of the
corridor au fond du couloir
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- Plötzlich der Krieg
aufrecht am Ende
des Korridors
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- Das Haiku von Saitō Sanki (1900-1962)
unten läßt erschauern. Bevor er als Dichter in Erscheinung trat, war er
Dentist in Singapur, von wo er infolge eines politischen Klimawechsels
1929 nach Japan zurückkehrte. „Seine Haiku sind gekennzeichnet von
frösteln lassendem Nihilismus und zynischem Humor.“ (Makoto Ueda)
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- Kikanjū miken ni akaki hana ga saku
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- A machine gun —
Ein Maschinengewehr —
in the middle
of the forehead
inmitten der Stirn red blossoms bloom.
blüht rot eine Blume.
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- Nach dem Ende des II. Weltkriegs, der dem
japanischen Haiku das kigo ‚Atombombe‘
gebracht hatte, schien Nakamura Kusatao (1901-1983) alles erloschen,
alles?
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- Hiyu morotomo
The metaphores are
Shinkō kiete
gone, and so is my faith... Kare no no hi sun
over a moor
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- Spenti Erloschen
i valori
e con essi la fede.
die Werte und mit ihnen der Glaube. Sole Sonne sulla
brughiera auf
der Heide
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- Literatur:
- Atlan, Corinne et Bianu, Zéno,
Anthologie du poème court japonais, Paris 2002.
- Hasumi, Toshimitsu, Zen in der Kunst des Dichtens, 1986.
- Krusche, Dietrich, Haiku. Bedingungen einer lyrischen Gattung,
Tübingen, Basel, 1970.
- Lüdtke Dirk, Haiku-Gedichte der kaga no Chiyo,
http://www-nagao.kuee.kyoto-u.ac.jp/member/dludtke/chiyo/chiyo.html.
- Matsuo Bashô, Auf schmalen Pfaden durchs Hinterland. Übertragung,
Einführung, Annotationen von G. S. Dombrady. Mainz 1985.
- Modern Haiku Association (Gendai Haiku Kyokai) (Hg.): Japanese
Haiku 2001. Tōkyō 2001 (jap.-engl.).
- Ozaki Hōsai: Portrait d’un moineau à une patte. Hg. v. Alain
Kervern. Romillé 1991.
- Sakanishi Hachirō (Hg.): Treibeis. Tōkyō 1986.
- Sakanishi, Hachirō (Hg.): Issa. Nagano 1981.
- Ueda Makomoto (Hg.): Modern Japanese. An Anthology. Toronto and
Buffalo 1976.
- Zanzotto, Andrea (Hg.): Cento Haiku. In un’antologia commentata
il megliodella grande tradizione poetica giapponese. A cura di Irene
Iarocci. Milano 1982.
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