Mario Fitterer
 
Haiku im Zorn?
Sôseki - Romancier und Haikudichter
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De cette terre qui sait              Aus dieser Erde wer weiß
Un éclair jaillera                      Wird ein Blitz springen
Dans le soir naissant                In den Abend der hereinbricht
 
Ein Haiku, das der Phantasie Tür und Tor öffnet. Echo eines vom Leser nicht zu erratenden Geschehens. Ein Gedenkhaiku auf eine Katze, die am 13. September 1908 gestorben ist. Sie war das Modell für „Ich bin ein Kater“ (Wagahai wa neko dearu), einen Fortsetzungsroman, der in der Zeitschrift „Hototogisu“ 1905/06 erschienen ist und seinen Autor Natsume Sōseki berühmt gemacht hat. Aus Katzensicht werden Alltagsleben und Geisteszustand eines Englischprofessors und seiner Freunde geschildert. Vor dem Hintergrund des russisch-japanischen Krieges 1904-05 repräsentieren sie einen Teil der Intellektuellen in einer Gesellschaft im Übergang während der Meiji-Ära. Die bisherige Abschließungspolitik war einer Reformbewegung gewichen, und das Land hatte sich dem Einstrom kultureller Ideen aus dem Westen geöffnet.
Die Lebenszeit von Sōseki (1867-1916) fällt nahezu mit der Meiji-Ära (1868-1912) zusammen. In klassischer chinesischer Kultur ausgebildet, spezialisierte er sich auf englische Literatur. Nach zwei Studienjahren in England ab 1900 erhielt er an der Kaiserlichen Universität Tōkyō eine Professur für Englisch, die er nach dem Erfolg von „Ich bin ein Kater“ aufgab, nicht zuletzt deshalb, weil er sich mit seiner zu analytischen Vorgehensweise bei den Studenten unbeliebt gemacht hatte.
 
Journée d’automne
D’où vient cette froideur le cœur se serre
A l’heure de la séparation
 
Herbsttag
Woher kommt diese Kälte das Herz schnürt sich zusammen
In der Stunde der Trennung
 
Journée de printemps qui s’étire       Frühlingstag der sich ausdehnt
Un bâillement entraîne l’autre          Ein Gähnen zieht das andere nach sich
Deux amis se quittent                    zwei Freunde gehen auseinander
 
Die Haiku sind emotional sehr verschieden. Sie lassen an eine Passage in Sōsekis von ihm so bezeichneten ‚Roman-Haiku‘ „Oreiller d’herbes“ (‚Kopfkissen aus Gräsern‘), 1906 geschrieben, denken. Ein Maler, der sich in einen Gasthof in den Bergen zurückgezogen hat, um über seine Kunst und den schöpferischen Akt nachzudenken, stellt fest: „Ein und dieselbe Person kann nicht zur selben Zeit in Zorn geraten und ein Haiku gestalten.“ Tue sie es doch, verwandle sie die Tränen in siebzehn Silben und habe ein unmittelbares Glücksgefühl dabei. Ein nächtliches Erlebnis dient ihm zur praktischen Umsetzung des Prinzips.
Der Maler ist von einer Melodie, nach und nach ferner, erwacht. Er entdeckt die Urheberin als Silhouette im halbschattigen Mondlicht an einen purpurnen Apfelbaum in Blüte gelehnt. Irritiert verarbeitet er das Erlebnis in einer Sequenz von neun Haiku, deren erstes und letztes lauten:
 
C’est une folle                                Eine Verrückte
Qui agite le pommier pourpre           
   bewegt den purpurnen
Couvert de rosée                            taubedeckten Apfelbaum
 
Sans hésiter                                  Unaufhaltsam
Le printemps sombre                       sinkt der Frühling
Dans la nuit, ô solitude                    in die Nacht o Einsamkeit
 
Wenden wir uns wieder den beiden Abschieds-Haiku Sōsekis zu. Das zweite spielt auf einen Abschied von seinem Freund Takahama Kyoshi am 9.April 1896 an, als Sōseki Matsuyama verläßt, um eine neue Stelle in Kumamoto anzutreten. Sōseki hat ihn lange nicht gesehen und weiß nicht, wann er ihn wiedersehen wird. Scheinbare Gelangweiltheit und Nonchalance verbergen ein tieferes Gefühl, das eingegraben bleibt und vielleicht gerade deshalb an Dichte gewinnt, kommentiert Akiyama Yutaka und sagt: „Die Worte sind nicht der einzige Weg, um den Grund des Herzens darzustellen.“
Der Maler in „Oreiller d’herbes“ strebt nicht eine Dichtung an, die irdischem Leiden zuredet, „vielmehr die, die mich von den trivialen Sorgen befreit und mir die Illusion gibt — und sei es nur für einen Augenblick — diese Welt aus Staub zu verlassen.“
Sōseki wurde zeitlebens von der Malerei angezogen, in seinen Romanen und Schriften in Beschreibungen, Analysen oder Zitaten gegenwärtig. In den letzten Lebensjahren malte er zahlreiche Tuschbilder. Auf eines notierte er in chinesischer Sprache:
 
Die Frühlingswinde nahen noch nicht,
erst kommen die Gedanken an sie.
 
Sōseki hat sich für das Haiku zu interessieren begonnen, als er 1895 eine Zeitlang mit Shiki im selben Hause wohnte. Er hat von ihm Haiku-Lektionen erhalten und legte ihm die meisten der 1896 geschriebenen, beinahe 500 Haiku zur kritischen Kommentierung vor. Shiki hat darin von Anfang an eine Originalität in der Erfindung und einen Sinn für Komik entdeckt.
Shiki und Sōseki, beide 1867 geboren, hatten bis zum 20sten Lebensjahr einen ähnlichen Bildungsweg. Sie waren eng befreundet und haben sich gegenseitig beeinflußt. In „Oreiller d’herbes“ schreibt der Maler ein Haiku nieder und stellt fest: „aber kaum hatte ich es notiert, bemerkte ich, es war nicht von mir.“ Es war bis auf ein Wort identisch mit einem Haiku von Shiki. Als Shiki am 19. September 1902 starb, war Sōseki noch in London. Eines der Haiku auf den verstorbenen Freund lautet:
 
Automne de l’exil
De l’ami bien-aimé seules mes larmes
Ont suivi le cerceuil
 
Herbst der Trennung
vom innig geliebten Freund nur meine Tränen
sind dem Sarg gefolgt
 
Als Haikudichter fühlte sich Sōseki mehr Buson als Shiki verpflichtet. Er hat mehr als 2.500 Haiku geschrieben. Obwohl er nach Shikis Tod weniger schrieb, hat er nie aufgehört, ein Haiku-Dichter zu sein. Er wahrte eine große Distanz zu Äußerungen von Herzensregungen, andererseits schrieb er auch Haiku, die mit Gefühlen imprägniert waren. Zeit seines Lebens war Sōseki „hin und hergerissen zwischen dem Willen, alles auszudrücken, und dem Bewußtsein der Unausdrückbarkeit dessen, was das Herz in sich schließt“, sagt Akiyama Yukata und fragt, ob die „Quelle seines Stils nicht gerade die diffuse Präsenz einer Art des Unerklärlichen gewesen sei. Sōseki selbst hat folgende von seinem Schüler Torahiko erinnerte Haiku-Definition gegeben: „In erster Linie ist Haiku ein rhetorisches Konzentrat, in zweiter Linie ist es ein Universum, das von einem Brennpunkt ausstrahlt, wie die Niete eines Fächers, die erlaubt, alle seine Stäbchen zusammenzuhalten.“ Als Beispiel nennt er das Haiku eines Autors, dessen Namen er nicht erwähnt:
 
O vent d’automne                     O Herbstwind
De l’arc de bois immaculé           Vom Bogen aus makellosem Holz
La corde qui se tend                 spannt sich die Schnur
 
In späteren Jahren hat Sōseki wie der Maler in „Oreiller d’herbes“ Haiku geschrieben, „um sich Momente der Erleichterung von der düsteren Welt des Streits zu verschaffen, die er als Romancier darstellte“ (Ueda).
Sōseki hat sich ein Leben lang mit den „Fragen des Verhältnisses von ‚Europäisierung’ und japanischer kultureller Tradition“ auseinandergesetzt, die in gewisser Weise für die gesamte Meiji-Gesellschaft repräsentativ gewesen seien (Shūichi Katō). Westlicher Einfluß läßt sich bis in seinen Haiku-Stil hinein verfolgen:
 
Suzume kite                    All arrivo di un passero,
Shōji ni ugoku                  ondeggia sui pannelli di carta
Hana no kage                  delle porte scorrevoli
                                    l’ombra del ciliegio in fiore
 
Bei der Ankunft eines Spatzen
bewegt sich an der Schiebetür
einer Kirschblüte Schatten
 
Das Haiku hat, wie Irene Iarocci bemerkt, eine „unbestreitbare Ähnlichkeit“ mit dem von Kikaku, Frucht des raffinierten „Edo-Geschmacks“:
 
Suzume-go ya               Passerotti —
Akari shōji no                Sui pannelli di carta
Sasa no kage                elle porte scorrevoli,
                                  l’ombra di foglie di bambù
 
Spatzenjungen –
auf dem durchscheinenden Papier der Schiebetür
Schatten von Bambusgras
 
Im Haiku von Sōseki ist, so Irene Iarocci, die syntaktisch-grammatikalische Struktur grundverschieden von der in Kikakus Haiku. Sōseki präsentiere das Thema „in der Klarheit der westlichen Sprache“. Die Ellipsen fehlten.
In der Tat. Die erste Zeile von Kikakus Haiku schließt mit einem kireiji, das den verschiedensten Nuancen der ausgelösten Regungen und Vibrationen des Empfindens Zeit und Raum zur Entfaltung gibt. Während Kikaku lapidar schreibt: „Kleine Spatzen —“, wird Sōsekis ausführlicher: „Spatzen sind gekommen. Damit schlägt er einen die beiden Bild-Teile grammatikalisch verbindenden Bogen, den die italienische Übersetzung (wörtlich: „Bei der Ankunft eines Spatzes bewegt sich…“)  noch verstärkt. Kikaku begnügt sich mit der Formulierung  „Schatten von Bambusgras auf der Schiebetür“, Sōseki dagegen fügt „einer Kirschblüte Schatten“ noch das Verb „bewegen sich“ hinzu.
Sōseki bewegte sich in der Welt der englischen und der japanischen Literatur. Im Vorwort zu „The Tales from Shakespeare“ in der Übersetzung von Komatsu Takeiji kombiniert er 10 Zeilen von Shakespeare mit je einem Haiku, z. B.:
 
„Dieser Schädel hatte einmal eine Zunge und konnte singen“ (Hamlet, 5. Akt, 1. Szene).
 
„Ich klopfe gegen die Knochen —
und sehe ein Veilchen.“
 
Sōseki hat, so Shūichiō Katō, den vom Westen übernommenen Romantypus, „der durch die Darstellung von Psyche, Wertvorstellungen und Persönlichkeit bestimmter Individuen der damaligen bürgerlichen Gesellschaft ein Bild des Menschen schlechthin entwerfen will, in seiner japanischen Form zu höchster Vollkommenheit“ geführt. Nach dem Urteil von Makoto Ueda stellt sein Ruf als Romancier den seiner Haiku-Aktivitäten in den Schatten.
 
The crow has flown away:                              Die Krähe ist weggeflogen:
swaying in the evening sun,                            schaukelnd in der Abendsonne,
a leafless tree.                                             ein blattloser Baum.
 
On New Year’s Day.                                       Am Neujahrstag
I long to meet my parents                               sehne ich mich meine Eltern zu treffen
as they were before my birth.                          wie sie waren vor meiner Geburt.
 
It is quiet —                                                 Es ist ruhig —
on the veranda, clippers                                 auf der Veranda Schere
and peonies.                                                 und Päonien.
 
The piercing cold —                                       Die stechende Kälte —
I marry a plum blossom                                   ich heirate eine Pflaumenblüte
in a dream.                                                   in einem Traum.
 
Literatur:
Katō Shūichi: Geschichte der japanischen Literatur. Die Entwicklung der poetischen, epischen, dramatischen und essayistisch-philosophischen
Literatur Japans von den Anfängen bis zur Gegenwart. Aus dem Japanischen übersetzt von Horst Arnold-Kanamori, Gesine Foljanty-Jost,
Hiroomi Fukuzawa und Makoto Ozaki. Bern München 1990.
Natsume Sōseki: Je suis un chat. Traduit et presenté par Jean Cholley (1978).
Natsume Sōseki: Oreiller d’herbes. Traduit du japonais par René de Ceccatty et Ryōji Nakamura (1987).
Natsume Sōseki: Haikus. Traduction de Elisabeth Suetsugu. Préface „Le dicible et                             l’indicible“ de Akiyama Yukata (2001).
Makomoto Ueda (Hg.): Modern Japanese Haiku. An Anthology (1976).
Zanzotto, Andrea (Hg.): Cento Haiku. In un’antologia commentata il meglio della grande tradizione poetica giapponese. 
A cura di Irene Iarocci(1982).