Sie waren immer da. Doch jetzt fallen sie auf Sie sitzen
auf einer Antenne. Oder allein auf einem kahlen Ast, Krähen - an einem Herbstabend. Wir,
ein knappes Dutzend, sitzen im Halbkreis vor dem Autor, auf dessen "Abend mit
Haikus" die Zeitung langspaltig aufmerksam gemacht hat. Haiku sei Ausdruck des
Erlebens im Jetzt, im flüchtigen Augenblick. Was er sagt, erinnert von ferne an Toyo
Izutsu, der hai-i, den Geist des Haiku,
verwirklicht sieht, wenn "das haiku ein
Ereignis dialektischer Konfrontation zwischen erkennendem Subjekt und äußerem Objekt
darstellt". Ohne viel Drumrum zum Kern der Aussage, das ist es, denke ich und lasse
die Texte auf mich wirken. Der Atem kommt vor, mehrmals, "alles abgeben", der
"große Zweifel", wachmachen, "wer schläft, usw. Ich entdecke eine
Tendenz zum Gedanklichen, zum diskreten Hinführen, latent gute Absicht. Die Frage meines
Nachbarn bringt es auf den Punkt: können wir das nicht mit unseren poetischen Mitteln
machen?Brauchen wir Haiku dazu?Was ist der Unterschied?
Der Unterschied kommt heraus, als der Autor aus der ihm
gereichten "Haiku-Sammlung von Dietrich Krusche liest, z. B.
"Vom schlafenden Säugling / hält die Vogelscheuche
/ den Wind ab." (Issa).
Nichts als die konkrete bildhafte Situation ohne
Bedeutungsschleier.
Es ist gut, nicht sklavisch am Regelwerk des japanischen
Originals zu hängen und aus dem Import etwas Eigenständiges zu machen, etwas, was
wesentlich mit einem selbst zu tun hat. Um die Frage des Nachbarn zu wiederholen: brauchen
wir für die Darstellung unseres Ideenguts Haiku?
Zufällig war ich kurz vorher auf "Der 'andere'
Martial - eine Leseprobe" von Paul Barié gestoßen, die mit zwei Kurzepigrammen aus
dem 13. und 14.Buch beschließt, "die
entfernt an Japanische Haiku erinnern, jene ostasiatische Art des Distichons, worin
flüchtige Impressionen in wenige Worte gefasst werden und das Eigentliche ungesagt
bleibt.
Die beiden letzten Bücher erschienen an den Saturnalien
der Jahre 84 oder 85. An diesem 5 oder 7-tägigen Winterfest war es Sitte, sich zu
beschenken: mit Xenia oder Apophoreta, letzteres unter den Gästen zu verlosende kleine
Präsente, dieman wohl auch mit witzigen
Kurzgedichten versah.
Das eine Epigramm lautet:
10. Crepitacillum /
eine Kinderklapper (XIV 54)
Si
quis plorator collo tibl vernula pendet,
haec
quatiat tenera garrula sistra manu.
Wenn dir weinend ein in deinem Hause geborenes Sklavenkind
am Halse hängt, / dann soll es mit seiner zarten Hand dieses Klappergerät schütteln.
Das Distichon lässt uns etwas erahnen von der emotionalen
Atmosphäre in einem römischen Haushalt, in dem der Patron ein weinendes Sklavenkind zu
trösten versucht, aber auch von der Unbefangenheit, mit der das kleine Kind sich an den
dominus hängt, von ihm Zuwendung erwartet und offenbar auch bekommt.
Vielleicht hilft dieses Epigramm ein wenig zum
Verständnis der emotionalen Beziehung des Dichters (oder handelt es sich auch hier wieder
nur um sein epigrammatisches Ich?) zu Erotion, einem kleinen Sklavenmädchen oder einer
Freigelassenen Martials; ihr hat er neben den beiden Grabepigrammen V 34 und X 61 das
aufgrund der erotischen Bilder und Konnotationen irritierend schöne Gedicht V 37
gewidmet: Puella senibus dulcior mihi cycnis; doch das wäre ein eigenes Thema..."
Das Epigramm Martials, in der Form des Distichons, ist
kurz. Es hat eine polare Spannung. Es gibt keine reale Situation, nur deren Möglichkeit.
Die gegenwärtige Wirklichkeit ist "die emotionale Atmosphäre" des Haushalts,
der dauerhafte Hintergrund für den jederzeit möglichen Eintritt des angedeuteten
Ereignisses. Natur ist die menschliche Natur, im Herrn-Sklavenverhältnis von besonderer
Bedeutung.Barié nennt weitere
Haikuelemente: flüchtige Impression, wenige Worte, das eigentlich Ungesagte.
Das Epigramm, ursprünglich Auf- oder Inschrift auf Grab-
und Denkmälern, Kunstgegenständen, hat Elemente, die allerdings an Haiku erinnern:
brevitas und
argutia: Kürze und Pointiertheit
Zweigliedrigkeit mit dem Potential zur Spannung und
Pointierung.
Anwendbarkeit auf jeden beliebigen Gegenstand.
"Der vielleicht wichtigste Faktor ist, daß das
Epigramm aufgrund der knappen und konzisen Formulierung besonders viele Leerstellen [...] offenläßt. Wesentliches wird
beim Epigramm ausgespart, und der Leser ist durch die vermehrte Anzahl der Leerstellen
gezwungen, besonders aktiv mitzulesen.Der
(fehlende) sprachliche Kontext stellt beim Epigramm keinen gedanklichen oder situativen
Kontext bereit. Der Leser wird dadurch angeregt, selbsttätig zum besseren Verständnis
einen Kontext herzustellen; erst durch den Akt des Lesen vervollständigt sich das
Epigramm.... (Peter Hess, Epigramm).
Als Begründer des Epigramms gilt Simonides von Keos
(556-468 v. Chr.). Sein bekanntestes Epigramm in der Übersetzung von Gerhard Fink lautet:
"Wanderer: In Sparta melden, daß wir hier / liegen,
den Gesetzen jener gehorsam....
Martial (um 40-102) hat Epigramme in thematischer Vielfalt
geschrieben.Den Themen im Epigramm sind
keine Grenzen gesetzt. Angelus Silesius ist durch geistliche Epigrammdichtung bekannt. Im
lyrischen Werk von Arnfried Astel finden sich Epigramme und Texte, die als Haiku
bezeichnet werden können, etwa: "Wellenförmige / Dachziegel / gegen den
Regen". Astel sprach jedoch einmal unter Hinweis auf die Naturkapitel in seinen
Gedichtbüchern von "Zwei- bis Fünfzeilem, die mit dem Geist des Haiku
korrespondieren, wenn auch durchaus in abendländsicher Tradition".
Was hindert, Dreizeiler, denen die dynamische Begegnung
des Autors mit der Natur und der bildhafte, reflexionsfreie Ausdruck fehlt, die
"naturreflektierende Gedankenlyrik" (Margret Buerschaper) transportieren, zu den
Epigrammen zu zählen? Etliche Schein-Haiku und zu Senryu deklarierte Dreizeiler könnten
hier ihre Heimat finden.
Senryu
Als Anhang zu diesem Beitrag noch einige skizzenhafte
Bemerkungen zu einigen als Senryu übertitelten Texten in der Septembernummer der VJS:
"Irgendwo auch ich / im Getriebe der Großstadt / ach
zwinker mir zu." (Thomas Behrenth).
Der Text wirkt irgendwie lustig. Doch er scheint mir nicht
für ein Senryu zu reichen, das einen Menschen oder eine menschliche Situation bloßstellt
oder komisch vorführt. Ein Haiku im strengen Sinne ist es mangels kigo nicht. Ist der Text ein modernes Haiku? Der
Naturbegriff ist auf den Menschen ausgeweitet oder auf das persönliche Umfeld (Artikel
dazu gab es in der VJS).Eine Atmosphäre
ist angestimmt: die Verlorenheit in der Masse. Die polare Spannung ergibt sich aus der
Zuwendung fordernden dritten Zeile.
"Geduckt das Kloster / am Fuß des heiligen Berges -
/ Licht der Laterne." (Wolfgang Dobberitz).
Ich kann nichts senryuhaftes entdecken. Für mich entsteht
eine Naturstimmung, eine polare Spannung durch das mehrfach deutbare "Licht der
Laterne".
"Unser altes Haus / nun leergeräumt und verwaist /
wer erbarmt sich?" (Ingrid Maceizcyk).
Kein Haiku.Kein
Senryu, es sei denn man wirft alles in diesen "Papierkorb", was nicht Haiku ist.
In Wirklichkeit ein elegisches Epigramm.
Die beiden nächsten Dreizeiler von Karin Benn und Helene
Vienhues scheinen eher Haiku. Warum Senryu?
"Wie oft das Abendrot! / Seit mein Freund in den
Alpen / dort verunglückt ist." (Masaru Watanabe).
Der haikuestischste Text von allen. Das am wenigsten
Komische. Abendrot ruft eine Stimmung, eine Atmosphäre hervor, das Vergängliche eines
Tages, dem das Vergängliche eines Menschenlebens gegenübersteht, Trauer, die diesen Tag
überdauert.
"Aus grünem Bambus / Reiswein genießen.Abschied / für die Studenten." (Saskia
Ishikawa Franke).Ein elegisches Epigramm.
Der Dreizeiler von Guido Keller ist senryuverdächtig:
Den Seinen gibt's der / Herr im Schlaf. Immer diese /
durchwachten Nächte... (Rüdiger Jung).Epigramm.
"Farben und Formen - / Wer schuf sie so
eindrucksvoll? / Du Mensch? - Denke nach!" (Ernst Dossmann).Eine Maxime.
"Seinen Gospel!?Nein! / Sonnensegel Pinie, / ein Sommerspiegel." (Mario Francesco Billia).Ein in der Sprache modernes hochpoetisches Haiku.