Mario Fitterer
 
Haiku - Epigramm
ein Beitrag mit leicht martialischem Akzent
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Sie waren immer da. Doch jetzt fallen sie auf Sie sitzen auf einer Antenne. Oder allein auf einem kahlen Ast, Krähen - an einem Herbstabend. Wir, ein knappes Dutzend, sitzen im Halbkreis vor dem Autor, auf dessen "Abend mit Haikus" die Zeitung langspaltig aufmerksam gemacht hat. Haiku sei Ausdruck des Erlebens im Jetzt, im flüchtigen Augenblick. Was er sagt, erinnert von ferne an Toyo Izutsu, der hai-i, den Geist des Haiku, verwirklicht sieht, wenn "das haiku ein Ereignis dialektischer Konfrontation zwischen erkennendem Subjekt und äußerem Objekt darstellt". Ohne viel Drumrum zum Kern der Aussage, das ist es, denke ich und lasse die Texte auf mich wirken. Der Atem kommt vor, mehrmals, "alles abgeben", der "große Zweifel", wachmachen, "wer schläft“, usw. Ich entdecke eine Tendenz zum Gedanklichen, zum diskreten Hinführen, latent gute Absicht. Die Frage meines Nachbarn bringt es auf den Punkt: können wir das nicht mit unseren poetischen Mitteln machen?  Brauchen wir Haiku dazu?  Was ist der Unterschied?
Der Unterschied kommt heraus, als der Autor aus der ihm gereichten "Haiku“-Sammlung von Dietrich Krusche liest, z. B.
"Vom schlafenden Säugling / hält die Vogelscheuche / den Wind ab." (Issa). 
Nichts als die konkrete bildhafte Situation ohne Bedeutungsschleier.
Es ist gut, nicht sklavisch am Regelwerk des japanischen Originals zu hängen und aus dem Import etwas Eigenständiges zu machen, etwas, was wesentlich mit einem selbst zu tun hat. Um die Frage des Nachbarn zu wiederholen: brauchen wir für die Darstellung unseres Ideen­guts Haiku?
Zufällig war ich kurz vorher auf "Der 'andere' Martial - eine Leseprobe" von Paul Barié gestoßen, die mit zwei Kurzepigrammen aus dem 13. und 14.  Buch beschließt, "die entfernt an Japanische Haiku erinnern, jene ostasiatische Art des Distichons, worin flüchtige Impressionen in wenige Worte gefasst werden und das Eigentliche ungesagt bleibt.
Die beiden letzten Bücher erschienen an den Saturnalien der Jahre 84 oder 85. An diesem 5­ oder 7-tägigen Winterfest war es Sitte, sich zu beschenken: mit Xenia oder Apophoreta, letzteres unter den Gästen zu verlosende kleine Präsente, die man wohl auch mit witzigen Kurzgedichten versah.
Das eine Epigramm lautet:
 
10. Crepitacillum / eine Kinderklapper (XIV 54)
 
Si quis plorator collo tibl vernula pendet,
haec quatiat tenera garrula sistra manu.
 
Wenn dir weinend ein in deinem Hause geborenes Sklavenkind am Halse hängt, / dann soll es mit seiner zarten Hand dieses Klappergerät schütteln.
 
Das Distichon lässt uns etwas erahnen von der emotionalen Atmosphäre in einem römischen Haushalt, in dem der Patron ein weinendes Sklavenkind zu trösten versucht, aber auch von der Unbefangenheit, mit der das kleine Kind sich an den dominus hängt, von ihm Zuwendung erwartet und offenbar auch bekommt.
Vielleicht hilft dieses Epigramm ein wenig zum Verständnis der emotionalen Beziehung des Dichters (oder handelt es sich auch hier wieder nur um sein epigrammatisches Ich?) zu Erotion, einem kleinen Sklavenmädchen oder einer Freigelassenen Martials; ihr hat er neben den beiden Grabepigrammen V 34 und X 61 das aufgrund der erotischen Bilder und Konnotationen irritierend schöne Gedicht V 37 gewidmet: Puella senibus dulcior mihi cycnis; doch das wäre ein eigenes Thema..."
Das Epigramm Martials, in der Form des Distichons, ist kurz. Es hat eine polare Spannung. Es gibt keine reale Situation, nur deren Möglichkeit. Die gegenwärtige Wirklichkeit ist "die emotionale Atmosphäre" des Haushalts, der dauerhafte Hintergrund für den jederzeit möglichen Eintritt des angedeuteten Ereignisses. Natur ist die menschliche Natur, im Herrn-Sklavenverhältnis von besonderer Bedeutung.  Barié nennt weitere Haikuelemente: flüchtige Impression, wenige Worte, das eigentlich Ungesagte.
Das Epigramm, ursprünglich Auf- oder Inschrift auf Grab- und Denkmälern, Kunstgegenständen, hat Elemente, die allerdings an Haiku erinnern:
brevitas und argutia: Kürze und Pointiertheit
Zweigliedrigkeit mit dem Potential zur Spannung und Pointierung.
Anwendbarkeit auf jeden beliebigen Gegenstand.
"Der vielleicht wichtigste Faktor ist, daß das Epigramm aufgrund der knappen und konzisen Formulierung besonders viele Leerstellen [...] offenläßt. Wesentliches wird beim Epigramm ausgespart, und der Leser ist durch die vermehrte Anzahl der Leerstellen gezwungen, besonders aktiv mitzulesen.  Der (fehlende) sprachliche Kontext stellt beim Epigramm keinen gedanklichen oder situativen Kontext bereit. Der Leser wird dadurch angeregt, selbsttätig zum besseren Verständnis einen Kontext herzustellen; erst durch den Akt des Lesen vervollständigt sich das Epigramm...“. (Peter Hess, Epigramm).
Als Begründer des Epigramms gilt Simonides von Keos (556-468 v. Chr.). Sein bekanntestes Epigramm in der Übersetzung von Gerhard Fink lautet:
"Wanderer: In Sparta melden, daß wir hier / liegen, den Gesetzen jener gehorsam...“.
Martial (um 40-102) hat Epigramme in thematischer Vielfalt geschrieben.  Den Themen im Epigramm sind keine Grenzen gesetzt. Angelus Silesius ist durch geistliche Epigrammdichtung bekannt. Im lyrischen Werk von Arnfried Astel finden sich Epigramme und Texte, die als Haiku bezeichnet werden können, etwa: "Wellenförmige / Dachziegel / gegen den Regen". Astel sprach jedoch einmal unter Hinweis auf die Naturkapitel in seinen Gedichtbüchern von "Zwei- bis Fünfzeilem, die mit dem Geist des Haiku korrespondieren, wenn auch durchaus in abendländsicher Tradition".
Was hindert, Dreizeiler, denen die dynamische Begegnung des Autors mit der Natur und der bildhafte, reflexionsfreie Ausdruck fehlt, die "naturreflektierende Gedankenlyrik" (Margret Buerschaper) transportieren, zu den Epigrammen zu zählen? Etliche Schein-Haiku und zu Senryu deklarierte Dreizeiler könnten hier ihre Heimat finden.
 
„Senryu“
 
Als Anhang zu diesem Beitrag noch einige skizzenhafte Bemerkungen zu einigen als Senryu übertitelten Texten in der Septembernummer der VJS:
"Irgendwo auch ich / im Getriebe der Großstadt / ach zwinker mir zu." (Thomas Behrenth). 
Der Text wirkt irgendwie lustig. Doch er scheint mir nicht für ein Senryu zu reichen, das einen Menschen oder eine menschliche Situation bloßstellt oder komisch vorführt. Ein Haiku im strengen Sinne ist es mangels kigo nicht. Ist der Text ein modernes Haiku? Der Naturbegriff ist auf den Menschen ausgeweitet oder auf das persönliche Umfeld (Artikel dazu gab es in der VJS).  Eine Atmosphäre ist angestimmt: die Verlorenheit in der Masse. Die polare Spannung ergibt sich aus der Zuwendung fordernden dritten Zeile.
"Geduckt das Kloster / am Fuß des heiligen Berges - / Licht der Laterne." (Wolfgang Dobberitz). 
Ich kann nichts senryuhaftes entdecken. Für mich entsteht eine Naturstimmung, eine polare Spannung durch das mehrfach deutbare "Licht der Laterne".
"Unser altes Haus / nun leergeräumt und verwaist / wer erbarmt sich?" (Ingrid Maceizcyk).
Kein Haiku.  Kein Senryu, es sei denn man wirft alles in diesen "Papierkorb", was nicht Haiku ist. In Wirklichkeit ein elegisches Epigramm.
Die beiden nächsten Dreizeiler von Karin Benn und Helene Vienhues scheinen eher Haiku. Warum Senryu?
"Wie oft das Abendrot! / Seit mein Freund in den Alpen / dort verunglückt ist." (Masaru Watanabe).  
Der haikuestischste Text von allen. Das am wenigsten Komische. Abendrot ruft eine Stimmung, eine Atmosphäre hervor, das Vergängliche eines Tages, dem das Vergängliche eines Menschenlebens gegenübersteht, Trauer, die diesen Tag überdauert.
"Aus grünem Bambus / Reiswein genießen.  Abschied / für die Studenten." (Saskia Ishikawa Franke).  Ein elegisches Epigramm.
Der Dreizeiler von Guido Keller ist senryuverdächtig:
Den Seinen gibt's der / Herr im Schlaf. Immer diese / durchwachten Nächte... (Rüdiger Jung).  Epigramm.
"Farben und Formen - / Wer schuf sie so eindrucksvoll? / Du Mensch? - Denke nach!" (Ernst Dossmann).  Eine Maxime.
"Seinen Gospel!?   Nein! / Sonnensegel Pinie, / ein Sommerspiegel." (Mario Francesco Billia).   Ein in der Sprache modernes hochpoetisches Haiku.