Mario Fitterer
 
Alltagslyrik und Haiku

Während der Protestbewegung der 1970er Jahre orientierte sich die Lyrik neu, weg von der Hermetik, von der Trennung zwischen Kunst und Leben, von Natur- und Blumenpoesie. Wichtig wurde der persönliche Bezug zu den Dingen und Geschehnissen des Alltags. »Was sind gesellschaftliche Änderungen wert, die den Alltag der Beteiligten, der Verfechter und der Gegner nicht verändern?« fragte in der »Nachbemerkung« zur Anthologie »Und ich bewege mich doch... Gedichte vor und nach 1968«, Jürgen Theobaldy, der Herausgeber. Er fügte am Schluss hinzu, andererseits passiere »manchmal nicht mehr in diesen Gedichten (der Anthologie, Anm. M.F.), »als daß jemand die Beine ausstreckt, in die Sonne blinzelt«. Hier deutet sich das Risiko der Alltagslyrik an, banal zu sein.
Alltagslyrik praktizierten unter anderen Hans Arnfried Astel und Jürgen Theobaldy. Beide publizier(t)en auch Haiku, wobei Astel seine »Haiku«, oft Bilder der griechischen Mythologie, allerdings kaum Haiku nennen würde, sondern eher mit dem Geist des Haiku korrespondierende Zwei- bis Fünfzeiler. Ein Beispiel aus »Ohne Gitarre«, 1993:

PAARweise klatschen 
die Einarmigen
am Heldengedenktag.


In den 2005 erschienenen Gedichten »Wilde Nelken« von Jürgen Theobaldy kommen kurz bis lakonisch alltägliche Dinge und Szenen, Gefühle, Stimmungen, Beziehungsfragmente, das Früher, Altern zur Sprache, z.B. »>Liebe und Frieden< / / Jeden ersten Mittwoch / des jeweils kommenden Monats! / / Wir freuen uns / auf deinen Besuch!« - Oder: »Dorfleben / / Zwei Züge am Tag. / Einer hält.« 
 
Der Text

Wasser, variiert
Winde, früh erblüht
am Eimer meines Brunnens. 
Nachbarn bringen Tee.

dagegen erscheint rätsel-, wenn nicht märchenhaft, schwebend leicht. Für den, der sich an das Haiku von Chiyo »In Windesranken / verstrickt der Brunneneimer - / Drum gib mir Wasser.« erinnert, gewinnt Theobaldys Haiku-Variation an Offenheit und eine Dimension mehr.


Unter den etwa einem halben Dutzend Haiku gibt es weitere Variationen:

Flinke Poetik
Den schlanken Springer,
ehe er ins Wasser schlüpft,
in Tinte tauchen.

Schau an
Der Käfer am Weg:
Kurz wie ein Haiku von Issa 
begleitet er mich.

Haiku
Die frühen Lieder,
digital aufbereitet: 
Nachts sind es alte.

Jürgen Theobaldy, 1944 in Straßburg geboren, u.a. Übersetzer von englischer und chinesischer Lyrik, lebt heute in Bern.

Jürgen Theobaldy: Wilde Nelken, Gedichte. Springe: zu Klampen Verlag 2005. 110 Seiten, ISBN 3-933156-84-X.