Die Unterschiede zwischen japanischen
und internationalen Haiku wurden auf der zweiten Konferenz der
Welthaiku-Assoziation in Tenri bei Nara vom 3. bis 5. Oktober 2003 heiß
debattiert. »Auch wenn ich die Bedeutung jedes einzelnen Wortes eines
fremdsprachigen Haiku kenne, glaube ich doch nicht, dass ich wirklich
in seine Tiefe eindringe und es mit dem Herzen verstehe«, sagte
Kanichi Abe, der Präsident der Konferenz. Er begrüßte die
Verbreitung des Haiku in der Welt, bezweifelte aber, dass Menge
gleichgesetzt werden kann mit Qualität. Haiku könnte mit Judo
verglichen werden, ein anderes Phänomen aus Japan, das international
wurde. Aber im Gegensatz zu Judo hat sich das Haiku im Ausland von den
Regeln entfernt, die in Japan gelten.
Das japanische
Staatsfernsehen »NHK« berichtete über die Konferenz, die etwa 100
Teilnehmer/innen aus rund 20 Ländern zusammengeführt hatte. Die ausländischen
Vertreter erwiesen dem Mutterland des Haiku ihren Respekt, stellten
aber gleichzeitig fest, dass es dem Haiku erlaubt sein muss, sich in
anderen Ländern unterschiedlich zu entwickeln und die Kultur vor Ort
zu reflektieren. Kigo, die
japanischen Jahreszeitenwörter, können außerhalb Japans nicht
verwendet werden, weil Blumennamen, Insekten und der Mond selten
allgemeingültige Beziehungen zu einer bestimmten Jahreszeit haben.
Und kireji, Schneidewörter,
die in Japan verwendet werden um eine bestimmte Stimmung zu schaffen,
fehlen anderswo. Im Westen werden sie durch Satzzeichen ersetzt.
Japanische Silbenzählung (17 Silben in 5-7-5er Gruppen) unterscheidet
sich auch von der Silbenzählung anderer Sprachen, weil die
Wortbetonung anders ist.
Ein wichtiger Unterschied ist, dass
die Japaner zwischen Haiku und Senryū unterscheiden. Das Haiku
behandelt Naturmotive, das Senryū menschliche Beziehungen,
Alltagsereignisse usw., oft humoristisch. Im Westen wird diese
Unterscheidung nicht gemacht. Haiku kann alles zum Gegenstand haben.
Am besten eingeprägt aus der Haiku-Lesung am ersten Tag hatten sich
die Gedichte, die zum Lachen gereizt haben wie z.B.
meins, meins
ruft ein Kind
mein Kind.
Oder von dem russischen Dichter Zinovy
Vayman:
Mein eiliger Anruf:
In drei Minuten beginnt die Mondfinsternis.
Sie fragt: Wo?
Einige Sprecher wünschten sich mehr
Humor im Haiku, um neue Leser zu gewinnen. Haiku ist für das Herz,
Senryū für den Geist, sagte Sayumi Kamakura, die eine
idealeVerschmelzung von Herz und Geist anstrebt. Sie stellte
befriedigt fest, dass die Grenze zwischen Haiku und Senryū immer
mehr fällt.
Haiku ähnelt dem Humor
in dem Sinn, dass beide überraschen. Das strich David G. Lanoue aus
USA heraus und sagte weiter, Haiku ohne Pointe am Ende würden meist
flach und uninteressant. In Übersetzungen würden die Zeilen oft
vertauscht, und das sei dasselbe wie: Witze von hinten zu erzählen.
Sogar der große Reginald Horace Blyth, der das Haiku im Westen
bekannt gemacht hat, vertauschte oft Zeilen, was den Wert des
Originals mindert. Der Grund, so Ludmila Balabanova aus Bulgarien,
ist, dass das Englische eine strenge Wortfolge hat. Die Wörter werden
in einer festgelegten Abfolge gesetzt, wie um einen Gedanken zu
entwickeln. Die bulgarische Sprache ist viel flexibler und erlaubt
eine ziemlich freie Wortstellung, was für Überraschungen gut ist.
Japanisch ist eine
mehrdeutige Sprache, meinte der Präsident der Konferenz. Sowie man Wörter
zusammen bringt, wird Zweideutigkeit geschaffen. Das gibt dem
japanischen Haiku eine besondere Dimension, die man in anderen
Sprachen so nicht findet. Englisch mit seinen Möglichkeiten, ein
bestimmtes Wort aus einer Reihe von Synonymen, auszuwählen, ist sehr
exakt. Das gibt der Sprache und dem Denken Dichte, wohingegen das
Japanische gekennzeichnet wird von Raum, der Felder auftut für persönliche
Interpretation. Als ein Beispiel japanischer Unbestimmtheit wurde das
bekannte Bashô-Haiku erwähnt:
Auf einem kahlen Ast
sitzt eine Krähe –
Herbstabend.
Das Wort »karasu« wird allgemein mit
Krähe übersetzt, aber es kann auch Krähen heißen. Das Japanische
unterscheidet generell nicht zwischen Singular und Plural. Karasu
kann auch »Rabe« bedeuten. Eine Schwierigkeit beim Übersetzen ist
auch, dass es in Japan Tiere und Pflanzen gibt, die anderswo nicht
existieren.
In leeren Räumen finden
Sie Stille, die mit Inhalt gefüllt werden kann, sagte eine Japanerin.
Diese Stille gibt Raum für Reflexion über die Worte vor der Stille.
Genauso wie Leerräume in Bildern von den ihnen benachbarten Objekten
zum Schwingen gebracht werden. Deshalb ist Haiku als Poesie
einzigartig: es spielt mit Räumen. Weniger Worte geben jedem Wort
mehr Energie.
Die Teilnehmer
diskutierten auch über die Bedeutung von haiga,
Haiku-Malerei. Viele Dichter haben ihre Haiku mit Tuschbildern
illustriert. Diese Illustrationen sollten nicht einfach das
wiedergeben, was im Gedicht gesagt wird, weil das eine unnötige
Wiederholung bringe, sagte Sayumi Kamakura. »Wenn das Gedicht von
einer Chrysantheme handelt, sollte das Bild keine Chrysantheme zeigen.«
Der Sinn der Malerei ist es, eine Atmosphäre zu schaffen, die das
Gedicht verstärkt. Kenichi Yamamoto zeigt Bilder von Kunststudenten
zu Haiku von bekannten Dichtern. Es waren traditionelle und moderne
abstrakte Bilder. »Das schafft eine Interaktion zwischen Text und
Bild, zwischen Dichter und Maler.« Einige Beispiele dieser
gegenseitigen Befruchtung waren sehr originell. Das Bild im Text muss
Wort für Wort aufgebaut werden, das gemalte Bild spricht den Geist
direkt an. Haiku ist eine Reise von A nach B nach C, sagte David
Lanoue, Bilder zeigen ABC auf einmal. Das im Text entwickelte Bild
sollte den Leser schockieren, meinte Philip Rowland aus Großbritannien.
Als Beispiel führte er an:
Ein Pferd
galoppiert
auf einer Tomate.
Das könnte als Surrealismus
verstanden werden, aber Sinn für Surrealistisches war in den
Gedichten der japanischen Meister wie Issa und Bashô schon vorhanden,
die über »die weißen Stimmen der Enten« und dem »Zikadenschrillen,
das in den Felsen dringt« schrieben.
Kann man Haiku übersetzen?
Natürlich, antwortete Ban´ya Natsuishi, der Organisator der
Konferenz. Haiku kann in andere Sprachen übertragen werden, auch wenn
der Gehalt des Originals zerstört wird. Er schlug zweisprachige Haiku
vor, in der Originalsprache und englischer Übersetzung. Er gibt seit
vielen Jahren das Haikumagazin »Ginyu«, »Troubadour«, heraus, das
alle Gedichte auch in Englisch bringt. So kann man die Texte
vergleichen. In einigen Ländern erscheinen Haikuzeitschriften
zweisprachig, zum Beispiel auf dem Balkan, wo das Interesse am Haiku
groß ist. Der Grund dafür, so erklärte Aleksandar Prokopiev aus
Mazedonien ist, »dass wir Angst haben, von der westlichen Literatur
geschluckt zu werden. Deshalb haben wir uns einer Gedichtform
zugewandt, die nicht gefährlich und wirklich international ist, dem
japanischen Haiku.« Haiku ist auch in Russland populär, stellte der
russische Vertreter fest. Literaturzeitschriften werden in
Zwanzigtausender-Auflagen gedruckt, aber zu den russischen Lesern gehören
auch die, die außerhalb des Landes leben, z.B. die eine Million
Russen in Israel. Haiku sollten von Literaten, nicht von Akademikern
übersetzt werden, sagte David Lanoue. Dichter haben ein Gefühl für
den Text, was man von Akademikern nicht verlangen kann. Diesem
Gedanken wurde von einem Teilnehmer widersprochen, der sagte, auch
wenn Übersetzungen von Akademikern manchmal etwas starr seien, so
bestehe doch die Gefahr, dass Dichter Gedichte in ihrem Sinn übertragen
würden. Ein Beispiel für diese Gefahr wurde von einem
portugiesischen Dichter vorgeführt, der der Konferenz berichtete,
dass er »sakura«, »Kirschblüte«, ins Portugiesische mit »Mandelblüte«
übersetzt habe, weil Kirschblüten in Portugal kaum bekannt seien, während
Mandeln überall blühten. Er nahm sich diese Freiheit, um Haiku unter
den Portugiesen bekannt zu machen und um nicht exotisch zu sein. Die
Japaner nahmen diese Information schweigend zur Kenntnis.
Aus schwedischem
Blickwinkel führte ich aus, dass die schwedische Sprache gut zu Haiku
passt, weil wir Wörter so wie die Japaner zusammenfügen können. Wir
können »sommarnattsmane«,
»Sommernachtsmond«, schreiben, ohne diese »der«
und »von«, die den Text
verlängern und beschweren. Darüber hinaus hat Schweden eine
Tradition in Naturpoesie, die die Adaption von Haiku erleichtert.
Andererseits ist schwedische Dichtung so wie viele andere westliche,
gefühlsbetont und benutzt Metaphern. Es ist schwierig, auf Metaphern
zu verzichten, da sie sehr tief verankert sind. Das japanische Haiku
distanziert sich von Metaphern, weil Japaner vom gegebenen Subjekt weg
denken. »Ihre Augen sind wie Seen« ist eine unnötige Reise zu den
Seen und wieder zurück, die Magie des Augenblicks wird zerbrochen.
Aber auch im japanischen Haiku sind Metaphern allgegenwärtig, z. B.
in Sayumi Kamakuras:
kein Jahr alt
ihre kleinen Handteller
feucht wie eine Tempelhalle.
Dag Hammarskjöld schrieb 1959:
Siebzehn Silben
öffneten die Tür
für Gedächtnis und Bedeutung.
Die siebzehn Silben werden von vielen
schwedischen Haiku-Autoren, vielleicht mehrheitlich, hochgehalten.
Auch wenn die Tendenz gegenwärtig dahin geht, Silbenzählen zugunsten
des Inhalts zurückzustellen. Diese Tendenz gibt es auch in Japan und
anderen Ländern. »Ich zähle die Silben nur, wenn mir das Gedicht zu
lang vorkommt«, sagte Martin Berner von der Deutschen
Haikugesellschaft.
Frauen und Kinder, so
haben wir gelernt, spielen eine wichtige Rolle bei der Entwicklung des
Haiku in Japan. Eine große Zahl der Teilnehmerinnen aus Japan waren
ältere Damen. Sie haben Erfahrung und Zeit für Haiku. In den Schulen
lehrt man die Schüler, ihre Erfahrungen präzise als Haiku zu
formulieren. Das ist ganz verbreitet und passt zu der Sehnsucht junger
Menschen nach Tempo und Veränderung. Haiku ist den SMS nicht unähnlich.
Wie lernt man, gute Haiku
zu schreiben? Vayman gab folgende Antwort: »Es gibt drei Regeln, wie
man ein gutes Haiku schreibt. Leider kennt sie niemand.«