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- Im Mai dieses Jahres konnte Ingrid Grunsky
ihr 85. Lebensjahr vollenden, sie wurde 1919 in Braunschweig geboren, wo
sie auch ihre Kindheit und Jugend bis zum Abitur 1938 verbrachte. Nach
dem obligatorischen Arbeitsdienst studierte sie an der pädagogischen
Hochschule und ging nach dem Abschluss des Studiums als
wissenschaftliche Hilfskraft an die Universität Tübingen. Ihre erste Ehe
wurde nach einem halben Jahr durch den Soldatentod ihres Mannes beendet.
Sie arbeitete dann in München bei einer Prüfstelle für Kinderbücher.
Wegen einer Herzerkrankung sollte sie von München aufs Land, der
allnächtlichen Bombenangiffe wegen. Es bot sich eine Aufgabe in der
Betreuung eines kränklichen alten Schriftstellers, in einem Dorf in
Thüringen. Das Haus wurde dort bald zum Auffangpunkt schlesischer
Flüchtlinge. Als die Russen die Amerikaner ablösten, flohen alle auf
abenteuerliche Weise zu Fuß über die Grenze. Nach provisorischen
Aufenthalten kehrte sie 1946 nach Bayern zurück und heiratete ihren
zweiten Mann, Hans Grunsky, dem sie 1947 einen Sohn, 1950 eine Tochter
gebar. Mit ihrer Familie lebte sie viele Jahre zwischen Starnberger See
und Isar in einem kleinen
Weiler. Nach dem Tod ihres Mannes zog sie 1993 nach Mönkebüll in
Nordfriesland in die Nähe des Sohnes.
- Ihr Leben mit dem Haiku begann 1976, als
Freunde ihr Imma von Bodmershofs „Sonnenuhr“ zum Geburtstag schenkten.
Ich gebe hier ungekürzt den Aufsatz von Ingrid Grunsky wieder, den sie
1989 in den von Tadao Araki herausgegebenen „Deutsche Essays zur
Haiku-Poetik“ veröffentlichte unter dem Titel: Einbruch der Haiku-Welt
in mein Leben. (S.15 – 18), da für die meisten Leser diese Sammlung
nicht mehr greifbar ist:
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- „Ein schmales Bändchen legten mir
junge Freunde aus Österreich auf den Geburtstagstisch: Imma von
Bodmershof, Sonnenuhr Haiku. Es war im Mai des Jahres 1976. Schon das besondere
Format, die Aufmachung, die großzügige Einteilung gefielen mir
auf den ersten Blick. Am liebsten hätte ich mich sofort in
seinen Inhalt vertieft. Aber es wurde Nacht, bis ich eine stille
Stunde dafür fand.
- Vor Jahren hatte ich die
Übertragungen japanischer Gedichte von Manfred Hausmann
gelesen Von daher
war wohl auch noch der Klang des Namens Haiku im Ohr. Nun lag
plötzlich ein Buch mit original deutschen Haiku in meinen
Händen. Ich las das Vorwort, die Studie über die Haiku von
Wilhelm von Bodmershof am Schluß des Buches und ließ die
Frühlings-Haiku tropfenweise wie einen kostbaren Saft in mich
einfließen. Darüber schlief ich glücklich ein, das Buch noch in
Händen.
- Ein
paar Tage vergingen, ohne daß ich zu meinem Kummer Muße fand,
mich weiter in das Büchlein zu vertiefen. Aber in meinem
Innersten hatte das bereits Eingefangene unbemerkt
weitergewirkt: denn, als ich mich eines Mittags legte, um ein
wenig zu entspannen, kam mir überraschend selber ein Haiku in
den Sinn, — eines, noch eins und noch eins... und dann war es
wie ein Sturzbach! Ich schaute, sann — und schon formten sich
die Worte. Ich konnte mich des Ansturms kaum erwehren. Es war,
als ob alles in mir auf diese Auslösung gewartet hatte,
ja als wenn ein Schleusentor aufgestoßen wäre, das die kleinsten
Wortgebilde in sprudelndem Fluß entließ. „ o diese Haiku!“
- Nun vermochte ich das, was Imma
von Bodmershof im Vorwort zur „Sonnenuhr“ schrieb, noch viel
mehr nachzufühlen: „Im echten Haiku will das Geheimnis des
Lebens, das uns umgibt und alles, auch das Kleinste,
durchdringt, spürbar werden. Solche Haiku kann man nicht
‚machen‘, sie entspringen einer bestimmten Haltung, einem
glücklichen Augenblick“. — Als der Sturzbach sich etwas ruhiger
gebärdete, las ich „Sonnenuhr“ bis zum Ende, in tiefer
mitschwingender Freude. Seither haben die Haiku auch mich nicht
mehr losgelassen.
- Die Möglichkeit, eine ‚Welt‘ in
ein so eng begrenztes Gebilde mit siebzehn Silben einzufangen,
aber so, daß sie nicht starr eingesperrt ist, sondern frei
ausschwingen kann, — diese Möglichkeit faszinierte mich
geradezu.
- Ich muß vielleicht dazu sagen, daß
ich zwar von klein auf ein inniges Verhältnis zur Lyrik hatte,
aber ‚von Natur‘ in erster Linie Malerin bin. Durch zwingende
Notwendigkeiten hatte ich die Malerei nach und nach aufgeben
müssen. Es fiel mir nicht leicht, den Pinsel ruhen zu lassen und
nur in Gedanken zu malen. Nun tauchten plötzlich die Haiku auf,
diese winzigen Gesellen. Waren sie nicht verwandt mit der Kunst
des Aquarells? Beiden eignete ja die Spontaneität im Erfassen
und Gestalten eines Augenblicks. Doch die Haiku vermochten fast
noch mehr. Sie bannten nicht nur ein Bild ins Wort, sie wußten
Bewegung zu zeigen, Spannung zu erzeugen, sie konnten wieder in
anderer Weise als das Malen Unsagbares durchschimmern lassen,
das hinter allem Wesen wirkt. Und das kam meiner anhaltend
schwierigen äußeren Lage zugute: im Nu ließen sie sich bei ihrer
‚Ankunft‘ auf einem Zettelchen Papier festhalten!
- Wie es mich Jahre zuvor am
Bodensee wieder und wieder gereizt hatte, diese Weite von Wasser
und Himmel in immer neuen Stimmungen auf kleinstem Format mit
Pinsel und Farben einzufangen, so beglückte es mich fortan, wenn
in meinem äußerlich eng begrenzten Lebensraum ein Haiku
urplötzlich Gestalt gewann. Wie oft schaute ich nur geschwind
aus dem Fenster und schon
kam eines ‚hereinspaziert‘!
- War aber mitunter noch irgendeine
Unstimmigkeit in der Gestaltung, ein Wort nicht haikuhaft, — war
der Rhythmus besser so oder wenn das Wort umgestellt wurde —
oder war es vielleicht notwendig, gar die erste oder dritte
Zeile zu vertauschen, um die innere Spannung zu erhöhen? In
solch einem Fall beriet ich mich mit Hans, meinem Mann. Er hatte sich
jahrzehntelang mit Problemen von Form und Rhythmus
auseinandergesetzt und besaß ein einfühlsam-kritisches Organ für
solche Feinheiten. Gemeinsam ruhten wir nicht eher, bis wir die
Lösung fanden, die rund und richtig war, die nur so und nicht
anders sein konnte. Dabei spürten wir immer neu, daß der
einfachste Ausdruck dem Haiku am meisten angemessen war.
- Als
sich bis zum Februar 1977 eine stattliche Anzahl von Haiku
angesammelt hatte, traf ich eine Auswahl und schickte sie zum
Dank für den Anstoß, den sie mir geschenkt hatte, an Imma von
Bodmershof. Ihre umgehende Antwort beglückte uns: „Es hat meine
‚Sonnenuhr‘ schon oft das schlagende Fünklein in Menschen wecken
dürfen, aber in Ihrem Brief klingt darüber hinaus so
Verwandtes auf, daß es mich tief bewegt ... und, was mich
unaussprechlich rührte, die Art, wie Ihnen und Ihrem Mann
Gemeinsames im Haiku gegeben ist, so wie es bei uns war. Als ich
das las, wurden mir die Augen feucht, wie beglückend, daß das in
verwandten Seelen weiter so geht ... die Welt, die aus Ihren
Haiku spricht, ist der unseren so vertraut, es gibt so viel zu
sagen, kaum weiß ich wo beginnen ...“ Weiter heißt es: „Ja, ‚die
Einheit von Sinngehalt, Form und Rhythmus‘, wie Sie es
formulieren, das ist es wohl, worum es vor allem geht (und was
bei allen Übertragungen japanischer Haiku, die ich kenne, nicht
erreicht wird, am ehesten noch in Erwin Jahns ‚Fallende Blüten‘.
Aber damit ist ein langes Gespräch eröffnet, und ich möchte
Ihnen heute nur meine Freude sagen, meinen Dank, sehr liebe
Grüße Ihnen beiden ...“
- Der schriftliche Dialog währte bis
zu ihrem Tode. Wir waren betrübt, daß eine von beiden Seiten so
sehr gewünschte persönliche Begegnung nicht mehr Wirklichkeit
werden konnte. Um so mehr war es jedesmal ein kleines Fest, wenn
sommers ein Brief aus Rastbach, winters einer vom Genfer See
kam, wo sie im hohen Alter seit dem Tod ihres Mannes die kalte
Jahreszeit in der Obhut einer lieben Freundin verbrachte.
- „Liebe Haiku-Freundin“, schrieb
sie einmal von dort, „Meisterin bin ich nun ganz gewiß nicht, —
aber 30 Jahre intensiver Arbeit haben mir natürlich vieles klar
gemacht, was man als Beginnender nicht sieht ... Der Japaner,
der meine ‚Sonnenuhr‘ übersetzte, ... möchte in einigen Jahren
eine Sammlung deutscher Haiku herausbringen, ins Japanische
übertragen. Da würde ich Ihren Namen sehr gern dabei haben, aber
da hieße es, die Zeit zur Arbeit nützen. Doch wenn man Haiku
auch nicht ‚machen‘ kann, nur ‚begegnen‘, so hängt dennoch viel
Arbeit daran.“
- Zu der geplanten Sammlung, die
dann Professor Hachiro Sakanishi 1978 verwirklichte , schrieb
sie: „... wichtig war's mir zu erfahren, wie viele Nester die
Haiku im deutschen Sprachraum sich gebaut haben, auch wenn, was
daraus gebrütet wurde, in sehr verschiedene Richtungen flattert
und fliegt.“ Vieles an der Vielfalt gefiel ihr nicht, sie
brauchte dafür den Ausdruck „Nicht-Haiku“. Andererseits meinte
sie, „wie ich schon F. nach Japan schrieb, es ist eines der
Haikugeheimnisse, daß es auf verschiedenen Ebenen seine
Gültigkeit und seine Lebenswurzeln hat...“. Daß Haiku in
Sammlungen aufgenommen wurden, „die weder die Form noch den
Inhalt von Haiku haben“, konnte sie allerdings nicht
begreifen.
- Sechs
Jahre vergingen seit dem Tod von Imma von Bodmershof. Inzwischen
sind die Haiku im deutschen Sprachraum (und nicht nur hier,
sondern weltweit) wie Pilze aus der Erde geschossen, Haiku und
‚Nicht-Haiku‘. Wenn Manfred Hausmann im Vorwort seines Buches
schrieb, „es habe den Anschein, als sei die deutsche Sprache
nicht imstande, mit einunddreißig oder gar mit siebzehn Silben
das Gleiche auszusagen wie die japanische in ihrer bündigen
Gedrungenheit — und wenn auch Erwin Jahn meinte, echte Haiku
könnten in Europa nicht geschaffen werden (er schrieb dies,
bevor er die Bodmershofschen Haiku kennenlernte), so lesen wir
in der ersten umfassenden Darstellung Margret Buerschapers über
„Das deutsche Kurzgedicht“ das genaue Gegenteil. Sie kommt nach
eingehenden Untersuchungen zu dem Schluß, daß alle
Voraussetzungen für ein deutschsprachiges Haiku gegeben seien:
„Wenn es in den westlichen Literaturen eine Beheimatung
für das Kurzgedicht nach japanischem Vorbild geben kann, so ist
die deutsche Lyrik geradezu prädestiniert, ihm diese
zu bereiten“.
- Die Frage nach Haiku und
‚Nicht-Haiku‘, um bei Imma von Bodmershofs Ausdruck zu bleiben, stellt sich
mir in letzter Zeit immer wieder. Die Ansichten der Autoren
gehen da in Praxis und Theorie weit auseinander. Ich persönlich
meine, ein Gebilde, das sich Haiku nennt, sollte auch eines
sein. Der Augenblick eines Erlebens (beim Haiku ganz wörtlich
gemeint als Bild-Impuls), der durch das Auge hindurch in der
Tiefe empfunden wird und zur unmittelbaren schöpferischen
Gestaltung drängt, ist für mich im Haiku gerade in seiner
winzigen Form so bedeutungsvoll; vorausgesetzt, daß sich eine
ungezwungene Einheit von Inhalt, Form und Rhythmus ergibt. Ein
Haiku darf keine Zwangsjacke sein! Dann wäre seine Form ein
Krampf, sein Schmelz würde zerstört.
- Wer die lyrische Kurzform wählt,
sich aber den Gesetzen des Haikus nicht unterordnen will oder
kann (es setzt ja, so einfach es auf den ersten Blick ausschauen
mag, ein Können voraus), wer von hier aus neue Formen erproben
und entwickeln möchte, der mag das so tun, wie es ihm persönlich
angemessen ist. Aber er sollte solche Dreizeiler dann nicht
Haiku nennen. Die Möglichkeiten der Gestaltung weisen sicherlich
über das deutsche Haiku hinaus, die Zukunft bleibt auch in
diesem Bereich offen. Doch sollten wir unser Haiku, seiner
traditionsreichen japanischen Herkunft eingedenk, als kostbares
Gefäß betrachten, hegen und pflegen, in das wir unsere Eigenwelt
einbringen dürfen.
- Anmerkungen:
- Imma von Bodmershof, Sonnenuhr Haiku. Bad
Goisern, Neugebauer Press 1970. (Leider seit langem
vergriffen.)
- Manfred Hausmann: Liebe Tod und
Vollmondnächte. Übertragung japanischer Gedichte. S. Fischer,
Frankfurt am Main 1951.
- Dietrich Krusche: Haiku. Bedingungen einer
lyrischen Gattung. Übersetzungen und ein Essay. Tübingen und
Basel, Erdmann Verlag 1970.
- Erwin Jahn: Fallende Blüten. Japanische
Haiku-Gedichte. Zürich, Die Arche 1968.
- Sakanishi H., H. Fussy, Kubota K., Yamakage
H. (Hg.): Anthologie der deutschen Haiku. Sapporo 1978.
- Margret Buerschaper: Das deutsche
Kurzgedicht in der Tradition japanischer Gedichtformen.
Göttingen, Graphikum 1987."
„0 diese Haiku“ — so beginnt ein Haiku in
„Sonnenuhr“. |
- Haiku von Ingrid Grunsky:
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- Aus: „Anthologie der Welt-Haiku 1978“ von
Kaoro Kubota, Sapporo 1979, S. 57:
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- Sie fällen den Baum.
Im tiefen Schatten
Den Bergahorn triffts und mich: auf sonnengewärmtem
Stein das Schlagen der Axt. schläft meine Katze.
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- Ich lösch mit dem Fuß
Durchs kniehohe Gras
das letzte Tüpfelchen Schnee.
wandert in Wellen der Wind So, Frühling, nun komm! den Hügel hinauf.
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- Aus: „Weltweite Haiku-Ernte 1979“ von
Kaoru Kubota, Sapporo 1980 (S.112-113):
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- Im Nachbarfenster
Finstere Nacht. Nur
spiegeln sich Himmel und Baum der Kühe Wiederkäuen und
jetzt noch — ein Spatz.
und Grillengezirpe.
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- Den Johannistag Was nicht niet- und
nagelfest
feiern plündernd mit Geschrei
heut Nacht hat‘s der Sturm Stare im Kirschbaum übers Feld gejagt.
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- 1997 wurde Ingrid Grunsky der „Haiku-Preis
Zum Eulenwinkel“ zuerkannt. Ihre Gedichtsammlung „Tautropfen“ erschien
in einem pocket print im Graphikum Verlag Göttingen (2. Auflage
2000):
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- Eiszapfen hängen
Im dunklen Brunnen
stocksteif am Dach. Die Sonne
schwimmen lichtbunte Schiffe: macht ihnen Beine.
Blätterflotille.
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- Der Nachtwind — köstlich
Heckenrosenzweig
streicht er nach heißem Tage
federt im Wind. Huckepack um Bäume und Haus. schaukelt der Schnee mit.
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- Aus dem Archiv:
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- Windstiller Herbsttag. Gelebtes Leben
Hier und da nur
schwebt lässig
aus alten Briefen geschöpft — ein Blatt zur Erde... weiter eilt die
Zeit
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- Der bunte Teppich —
Die Schnecke rastet
von Reif und kaltem Regen
im siebten Malvenstockwerk. dunkelbraun gefärbt – Zwanzig Etagen Er raschelt
nicht mehr, gehst du sind es noch bis zur
Spitze. munter den Hohlweg entlang. Schafft sie heute die
Reise?
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