- Im Geburtsland der Haiku-Dichtung, in Japan, ist die Erwähnung der Jahreszeit unverzichtbarer Mittelpunkt eines Haiku. Sie gibt dem Kurzgedicht
den atmosphärischen Hintergrund und löst im Gemüt und in der Seele des Dichters, aber auch des Lesers, eine Fülle von Emotionen aus, die, wollten wir sie beschreiben, Seiten füllen müssten.
- Der Japaner lebt ganz anders in und mit den Jahreszeiten, in der Natur und durch ihre wechselnden Momente und Bilder zutiefst angerührt und angesprochen,
als der Europäer. Dietrich Krusche (1) erläutert dies sehr eindrucksvoll am Beispiel des japanischen Hauses, dessen Bauweise es dem Japaner ermöglicht,
„jahreszeitlich zu leben" - im Winter tief eingemummt, ohne schützende Mauern, im Sommer schwitzend, ohne kühlende Wände. Der Japaner will nicht von der Natur, von den
Einwirkungen der Jahreszeiten isoliert sein, sondern mit und in ihnen leben, fühlen und empfinden. Dafür gäbe es sicher noch viele Beispiele anzuführen, doch dieser kurze Exkurs soll
genügen, um uns an den Ursprung und die Tradition sowohl des Naturbildes als auch der Jahreszeitenerwähnung im Haiku zu erinnern.
- Hier geht es darum, das Verhältnis der Deutschen zur Natur und zu den Jahreszeiten darzustellen und den Niederschlag der Empfindungen im deutschen
Kurzgedicht aufzuspüren.
- Voraussetzung und Grundlage der Ausführungen sind die beiden traditionellen Thesen:
- 1. Das Haiku ist ein Naturgedicht.
- 2. Das Haiku sollte ein Jahreszeitenwort enthalten.
- (Mir ist bekannt, dass es sowohl in Japan als auch in Amerika und Europa Gruppen von Autoren und Literaturforschern gibt, die Einschränkungen gegenüber
diesen Thesen vorbringen und andere Aspekte in den Mittelpunkt des Haiku gerückt sehen möchten. Diese zu benennen, sie erläuternd zu vertreten und zu begründen, müsste Inhalt weiterer
Betrachtungen sein.)
- Als Naturgedicht reiht sich das Haiku in die traditionelle deutsche Naturlyrik nahtlos ein, ja, die wachsende Vorliebe vieler Autoren für Haiku-Dichtung
scheint mir eine notwendige Folge dieser Entwicklung zu sein. Im Haiku vereinen sich zwei wichtige Elemente der Naturlyrik - einmal die Betrachtungsweise der Natur als Anlass für religiös
meditative Stille, Besinnung, Einkehr, ihre Vergänglichkeit als Symbol für den eigenen Lebensweg, ihre Schönheit als Anregung zum Schöpferlob zu sehen - zum anderen die seit Loerke,
Lehmann und Krolow sich entwickelnde Sichtweise der lyrischen Synthese von Naturerscheinung und Wort, bei der das Naturbild das Gegebene, das Wort (der Dichter) das sich Nähernde,
Erkundende ist, das sich bemüht, das Rätsel des Seienden in Sprache zu fassen. (Wer sich über die Entwicklung informieren und die verwandten Bindungen moderner Naturlyrik mit dem Haiku
aufspüren möchte, dem sei das Buch „Moderne deutsche Naturlyrik" (2) mit einem aufschlussreichen Nachwort von Edgar Marsch empfohlen.)
- Hier soll vom Jahreszeitenwort die Rede sein, das zwar eingebettet in die Natur und ihre Abläufe untrennbar mit ihr verbunden ist, andererseits aber
angefüllt mit menschlichem Empfinden und Fühlen noch über sie hinaus weist.
- Der Begriff „Jahreszeitenwort" besagt, dass ein im Haiku verwendetes Wort eindeutig eine Jahreszeit benennt, ohne Anlehnung an die festgelegten
Namen Frühling, Sommer, Herbst, Winter, Vorfrühling, Spätsommer, Altweibersommer, Frühherbst, Spätherbst und Nachwinter oder ähnliche Komposita.
- Es gibt eine Unzahl Wörter und Begriffe, die eindeutige Bezüge zur Jahreszeit herstellen und deshalb als Jahreszeitenwort gelten dürfen. - (Der
Gedankenstrich besagt, dass der geneigte Leser verweilen und sich besinnend überfluten lassen möge. In Japan gibt es Wörterbücher, die Jahreszeitenwörter (kigo) gesammelt und deutend
bereithalten.)
- Beginnen wir, sozusagen zum Eingewöhnen, mit einigen ganz einfachen, unzweifelhaften und für alle Regionen gleichermaßen eindeutigen Wörtern, die von
Jahreszeit und Natur, von Landschaft und Wetterbedingungen geprägt sind:
- Schnee ist ein Wort für Winter, einschließlich seiner vielen Komposita, doch schon bei Schneematsch wird die Region maßgebend - in
Norddeutschland Winter, in Süddeutschland vielleicht schon Frühling. Das Vogellied, der Nestbau gehören dem Frühling an, sollen aber Vogelbeobachtungen im Winter
dargestellt werden, so werden Attribute notwendig wie die streitenden Amseln....die hungrigen Spatzen.
- Das wogende Getreidefeld ist ein Sommerbild, in der auf Rentabilität hinarbeitenden Landwirtschaft ist das Stoppelfeld im Herbst kaum noch
auffindbar. Trotzdem bleibt für unser Empfinden ein kalter Wind über Getreidestoppeln ein Herbstwind, ein traditionsgeprägter Topos. Wenn wir von der Obsternte sprechen,
meinen wir Apfel, Birne, Pflaume, meinen wir den Herbst. Die Beerenernte gehört dagegen in den Sommer. Die einheitlichsten Herbstwörter sind Buntlaub und Blätterfall
- doch was ist mit dem Eichenlaub? Es können durchaus noch Winterwinde im Eichenlaub rascheln.
- Hier als Beispiel nun einige Haiku mit eindeutigen Jahreszeitenwörtern: (3)
-
- Ein Kirschblütenzweig
- aus meines Freundes Garten schmückt
- jetzt mein Zimmer.
- Rolf Boehm
-
- Die weißen Rosen
- erblüht - und ich noch immer
- in Arbeitskleidung.
- Sabine Sommerkamp
-
- Leer sind die Stühle
- rings um den Tisch im Garten.
- Nur Blätter zu Gast.
-
Friedrich Rohde
-
- Die Halbmondsichel
- wetzt ihre blanke Schneide
- am vereisten Turm.
-
Richard W. Heinrich
-
- Die im Jahreszeitenwort vermittelte, wenn auch unausgesprochene Saison muss nicht zwingend mit der kalendarischen Einteilung übereinstimmen, aber sie
muss eindeutig eine ästhetische Verbindung des menschlichen Fühlens und Empfindens mit ihren Gegebenheiten herstellen.
- Solche Assoziationen sind auch von mancherlei Umständen beeinflusst. Einige davon seien hier, auch nur andeutungsweise, aufgeführt.
-
- 1. Von Gestirnen und Wetterelementen bestimmte Jahreszeitenwörter
-
- Beginnen wir mit den Gestirnen. Wenn in einem japanischen Haiku vom Vollmond die Rede ist, ist der Septembermond gemeint. In Deutschland kennen wir diese
genaue Festlegung nicht. Der Mond kann nur dann Jahreszeitenwort sein, wenn wir ihm die entsprechenden Attribute beigeben: roter Mond meint den Sommer, kalter Mond den
Winter. Einen Sommervollmond beschreibt das folgende Haiku von Imma von Bodmershof: (4)
-
- Blendender Vollmond -
- nur sein Licht auf den Wellen
- schmerzt nicht das Auge.
-
- In unseren Breiten sind August und September die Monate der Sternschnuppen, im Oktober zeigen sich die klarsten Sternbilder - so können Sternschnuppen
und klarer Sternenhimmel für den Herbst stehen.
- Sonnenglast und flimmernde Hitze sind Sommerwörter, die schönsten Sonnenuntergänge beobachten wir im Herbst. Letzteres unterliegt
jedoch auch wieder regionalen Gegebenheiten. Mit dem Himmel verbunden sind die Wettererscheinungen: Stürme suchen uns im Herbst heim, der Wind bringt den Frühling, in der Nähe
der Berge ist es der Föhn. Die Niederschläge sind nur bedingt zeitlich zu lokalisieren und sollten deshalb mit einem weiteren jahreszeitlichen Attribut versehen werden.
- Schnee...... Eis und Rauhreif sind Wörter für den Winter, die schönsten Wolken zaubert die Sommerluft. Kurze
Tage hat der Winter - lange Tage genießen wir im Sommer, Nebel steigen im Herbst, Tautropfen, Gewitter und Regenbogen bilden
sich im Sommer, dessen Beginn die Sonnenwende festlegt.
- Im Haiku-Beispiel von Sigrid Genzken-Dragendorff (5) beinhaltet das Wort Schnee die Jahreszeit. Alle anderen
Bildsymbole könnten auch zu anderen Jahreszeiten gültig sein:
-
- Wolken fallen ein.
- Aus ihrer müden Schwere
- näßt der Schnee das Land.
-
- 2. Geographisch bedingte Jahreszeitenwörter
-
- Bizarre Bergwelt
- im rötlichen Sonnenlicht
- Widerschein im See. (6)
-
Richard W. Heinrich
-
- In diesem Haiku lässt die erste Zeile eine herbstliche Einordnung zu, da um diese Jahreszeit die Bergzacken besonders klar hervortreten. Das rötliche
Sonnenlicht, nicht mehr blendend hell, ermöglicht die Spiegelung. Um aus geographischen Gegebenheiten auf die Jahreszeit schließen zu können, muss man mit ihnen vertraut sein. Hoher
Wellengang ist besonders im Herbst und im Frühling zu beobachten, Mooreinsamkeit schließt den Sommer und den Herbst aus, ein Rinnsal sind Bergflüsse im Sommer, Sturzbäche
zur Zeit der Schneeschmelze im Frühling. Farblose Seen hat der Winter und blühende Bergwiesen der Sommer. Von Rebhängen sprechen wir im Sommer
oder Herbst von gemähten Wiesen im Sommer, von abgeernteten Feldern im Herbst.
- An dieser Auswahl wird deutlich, dass geographische Aussagen als Jahreszeitenwort in den meisten Fällen ein näher umschreibendes Attribut erfordern.
- Im folgenden Beispiel ist die Jahreszeit eindeutig mit einem einzigen, geographisch bedingten Wort ausgedrückt, Firnschnee = Frühling:
-
- Drüben noch Firnschnee
- hier öffnet sich weit dem Blau
- die Wolkendecke (7)
- Erica
Lauer-Below
-
- 3. Jahreszeitenwörter aus dem Bereich der Feste im Jahreskreis
-
- Weihnachten und Neujahr als Winterworte, Ostern und Pfingsten als Bestimmungen für den Frühling brauchen nicht näher erläutert zu werden. In
Deutschland haben jedoch viele Heiligengedenktage eine tiefgreifende, regional unterschiedliche Bedeutung. Mit ihnen sind feste Bräuche verknüpft, die wieder zunehmend
ins Bewusstsein gelangen.
- Einige der bekanntesten Beispiele mögen für die Fülle solcher feiertagsbezogenen Jahreszeitenwörter stehen:
- Martinsgans (11. November), Hubertusjagd (3. November), Barbarazweige (4. Dezember), Karpfenessen
(Silvester, 31. Dezember), Walpurgisnacht (25. Februar), Johannisfeuer (24. Juni), Michaelistag (29. September), Bittgang (Frühling), Prozession
(Fronleichnam, Frühling), Kerzenlicht (Advent / Weihnachten - Winter).
-
- Strömender Regen
- und Sehnsucht nach Grablichtern.
- Allerheiligen.
- Conrad Miesen
-
- Darüber hinaus gibt es die auf bestimmten traditionellen Überlieferungen fußenden Bräuche, die vielfach an den Ablauf des menschlichen Lebens
gebunden, in den Jahreszeiten festgelegt sind:
- Almauftrieb (Frühling), Almabtrieb (Herbst), Erntedank (Herbst), Fastnacht oder Karneval (Winter), Feldbegang
(Sommer, vor der Ernte), Oktoberfest, die Aufzählung ließe sich noch beliebig fortsetzen.
-
- Michaelistag
- es regnet heute füttert
- der Penner Schwäne (8)
-
Mario Fitterer
-
- Wie ausgestoßen
- der Bettler am Straßenrand
- Vorweihnachtsrummel. (9)
-
Richard W. Heinrich
-
- Steig nicht so hoch,
- du bunter Kinderdrachen,
- sonst raubt dich der Sturm.
-
Rüdiger Jung
-
- Im Dreschflegeltakt
- mahlen noch Mühlsteine
- das kommende Brot.
-
Rüdiger Jung
-
- Der Vorweihnachtsrummel, der sich in den Winteranfang einfügt, bedeutet zugleich eine Häufung von Assoziationen, von denen sich in diesem Gedicht
nur ein Teilaspekt anrührend eröffnet. Das Gedicht von Rüdiger Jung greift einen alten Kinderbrauch auf, der nur auf den abgeernteten, leeren Feldern den ausreichenden Raum für seine
Durchführung bietet, das Drachensteigenlassen. Im Zeitalter der ferngesteuerten Spielflugzeuge zugleich ein Zeugnis für die Möglichkeit, Jahreszeitenbindungen alter Bräuche durch das
Gedicht bewahren zu helfen. Das gilt auch für das zweite Gedicht von R. Jung.
- An dieser Stelle sei bemerkt, dass die Verwendung von Saisonwörtern aus den Bereichen religiöser, volkskundlicher und heimatlicher Bezüge auch für die
Haiku-Dichtung wichtig ist, da sie dadurch einen Beitrag zur Eigenständigkeit der deutschen Geschichte und Tradition liefert und sie vor dem Vergessen bewahrt. Man
liest häufig, dass aus japanischen Haiku viel über Japan, seine Landschaften und über das Leben der Menschen zu erfahren ist. Unter diesem Aspekt kann auch das deutsche Kurzgedicht die
unterschiedlichen Gegebenheiten der deutschen Landschaften darstellen und das Haiku so in allen Regionen beheimaten.
-
- 4. Jahreszeitenwörter aus der Vogel- und Tierwelt
-
- Spatzenlärm ums Haus
- fernher vom Wald nur leise
- tönt der Drossel Sang. (10)
-
Imma von Bodmershof
-
- Dieses Beispiel mag für all die Gedichte stehen, in denen der Vogelsang, der Nestbau, die Vogelbrut Saisonwörter für den Frühling
sind. Spatzenlärm könnte auch für den Winter stehen, erst der Drossel Sang macht die Einordnung eindeutig.
-
- Die weißen Reiher,
- über den Altschnee segelnd,
- warten aufs Mondlicht. (11)
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Carl Heinz Kurz
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- Vogelschwärme ziehn
- nach Süden - wir suchen noch
- unsere Richtung (12)
-
Michael Groißmeier
-
- Der Vogelzug ist ein bedeutendes Jahreszeitenwort für den Herbst. Das menschliche Empfinden verbindet, vor allem mit den Flugfiguren der großen Vögel
wie Gänse, Schwäne und Störche, Wehmut, Sehnsucht nach fernen Ländern, Bedauern über das Vergehen des Sommers - das Vergehen des eigenen Lebens. Die Zielstrebigkeit und
unbeirrbare Sicherheit lösen Bewunderung und Staunen aus.
- Neben den Vögeln sind die Frösche, ihr Quaken, ihr plumpes Verhalten beliebte Assoziationswörter für den Frühling. Auch die Jungtiere begleiten uns
durch diese Jahreszeit: Lämmer, Kitz, Kalb und Küken.
- Die Insektenwelt bevölkert die Sommerhaiku:
-
- Erster Leuchtkäfer
- sogar bei kräftigem Wind
- löscht sein Licht nicht aus. (13)
-
Michael Groißmeier
-
- Schmetterlinge, Bienen, Hummeln, Wespen, Fliegen, Grillen, Libellen und Heuschrecken. Häufig übernehmen auch Fische, Schnecken, Eidechsen, Salamander
und Vipern die Jahreszeitenbestimmung.
- Die Spinnennetze hängen im Herbst zwischen Halmen und Zweigen der Nadelbäume. Eichhörnchen, Igel, Hase, Mäuse und Hamster sind im Herbst häufiger
anzutreffen, auch Schafherden, die heim getrieben werden.
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- In Spinnennetzen
- hängt das Schweigen der Fliegen
- an hohen Gräsern (14)
- Erica Lauer-Bel
-
- Vor Fenstergittern
- weben die Spinnen Netze.
- Die Flucht muß scheitern. (15)
-
Ingo Cesaro
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- Im Winterhaiku finden wir das hungernde Tier als Ausdruck der Jahreszeit, das Reh, die Hasen und Kaninchen, die Standvögel. Das Futterhaus,
die Futterraufe, der Streit um die Körner hängen damit zusammen. Im freien Feld fallen die Krähen auf - ihr schwarzes Gefieder und das krächzende
Geschrei sind Ausdruck für Tod, Traurigkeit, Kälte und Einsamkeit.
-
- Vom Sturm gebeutelt,
- weicht der hungrige Falke
- nur stärksten Böen. (16)
-
Margot Gabriel
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- 5. Jahreszeitenwörter aus der Blumen- und Pflanzenwelt
-
- Die häufigsten Jahreszeitenwörter sind der uns direkt umgebenden Natur, der Pflanzenwelt, entnommen. Die meisten sind eindeutig, da wir Blütezeiten und
Reifemonate kennen. Die frühblühenden Zwiebel- und Knollengewächse sind ersehnte Frühlingskünder. Die Kirschblüte wird in Deutschland ebenso beachtet und
besungen wie in anderen Ländern. (Japan ausgeschlossen, da die Japaner einen wohl in der Welt einmaligen Bezug zur Kirschblüte haben.) Baumblüten, Baumdüfte und -farben sind die jedes
Jahr aufs neue mit Staunen und Freude wahrgenommenen Zeichen des Frühlings.
- Vom weißen Flieder
- verschneit ist die Quelle -
- selbst das Wasser duftet. (17)
-
Imma von Bodmershof
-
- Dem deutschen Herz und Gemüt steht die Rose als Sommerblume am nächsten. Wiesen, Feldraine und Bauerngärten halten eine
Vielzahl von Blumen und Kräutern bereit, deren Blüte- und Reifezeit in den Sommer fallen. Den Bemühungen der Naturfreunde ist es zu verdanken, dass die Fülle und Farbigkeit unserer
wilden Flora wieder zunimmt.
- Dem aufmerksam beobachtenden Dichter und Leser fällt auch das Geringste noch auf:
-
- Gelbe Kamille
- blüht einfach im Mauerriß
- sieh wie er sich dehnt (18)
-
Erica Lauer-Below
-
- Die Bäume in ihrem satten Grün werden zum Bild der Stärke und Kraft. Ihr Rauschen und ihr Schatten gehören dem Sommer an. Die wogenden
Getreidefelder, die Grashalme, das flüsternde Schilf, all das spricht mit Sommerstimmen. Die große Anzahl der Haiku, die Jahreszeitenwörter des Herbstes enthalten,
zeigt, dass der Mensch in dieser Zeit für die Veränderungen der Natur besonders empfänglich ist. Die Blumenpracht der Gärten weckt eher Wehmut und Traurigkeit, Astern und Chrysanthemen
drücken Abschied und Endgültigkeit aus. Das Welklaub in seinen Farbnuancen bewundert, wird zum Sinnbild des Sterbens und Vergehens.
- Pilze, Kastanien, Nüsse, Früchte von Bäumen und Sträuchern, Samen von Gräsern und Stauden sind herbstliche Saisonwörter.
-
- Rot sinkt die Sonne -
- am Strauch die Hagebutte
- leuchtet samenschwer. (19)
-
Sabine Sommerkamp
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- Auf den Winter weisen die Christrose, der Weihnachtsstern und die im Januar blühende Zaubenuss (Hamamelis) hin. Nun sind es die kahlen
Bäume, die nackten Zweige, oder die dunklen Nadelgehölze, die dem Dichter als Ersatzwörter zur Verfügung stehen. Gras und Schilf sind blass und verdorrt. Blumengeschenke
gibt es zum Valentinstag (14. Februar).
- 6. Haiku mit zwei oder mehr Jahreszeitenwörtern
-
- Das Jahreszeitenwort ist nicht ablösbar vom konkreten Naturbild des Haiku, es ist die Basis des Bildes, seine Verankerung im Jahreslauf und in der
emotionalen Gestimmtheit des Dichters und Lesers. Dadurch bedingt treten in manchen Haiku auch schon mal zwei oder mehr Jahreszeitenwörter auf. Sie sind berechtigt, wenn sie der
Vervollkommnung des Bildes oder der näheren Bestimmung der Jahreszeit dienen.
-
- Frühlingsbeginn: durch
- brüchiges Eis stoßen grün
- die Lanzen des Schilfs. (20)
-
Gerold Effert
- Es besteht jedoch auch die Gefahr, daß sie zu einer bloßen Aufzählung werden:
-
- Haselnußkätzchen.
- Forsythiengelb leuchtet.
- Oh Seidelbastduft! (21)
-
Hildegard Klopsch
-
- oder zu einem Widerspruch führen:
-
- Braune Nachtigall
- betörend dein Gesang in
- dieser dunklen Zeit. ( 22)
- Theophil
Krajewski
-
- Die dunkle Zeit ist ein winterliches Wort, der Gesang der Nachtigall ertönt im Frühling. Der Dichter meint sicherlich die eigene
Stimmung mit "dunkler Zeit", dafür wäre ein anderes Attribut zu "Zeit" klärender.
-
- 7. Die Symbolik des Jahreszeitenwortes
-
- Sicherlich sind die deutschen Jahreszeitenwörter nicht mit solch einheitlichen, traditionellen Symbolgehalten verbunden, wie das bei den japanischen kigo
der Fall ist. Die emotionalen und existenziellen Gefühlswerte sind im Deutschen individueller, unterliegen stärker der Erlebnisfähigkeit, der Phantasie und Sensibilität des Einzelnen
und sind nicht erlernbar. Eine bild- und gefühlsstarke Symbolik verbirgt sich jedoch auch in deutschen Jahreszeitenwörtern. Das im Einzelnen auszuführen, wäre es wert, besonders
betrachtet zu werden. Hier seien nur einige Hinweise gegeben:
- Mond - Gestirn der Nacht, von der Sonne angestrahlt, Symbol für jemanden, der sich durch die Leistung anderer großtut, oder der den Glanz anderer
weitergibt - aber auch Freund der Liebenden, Gesprächspartner der Schlaflosen und Einsamen - Der Mann im Mond: Gestalt märchenhafter
- und mythischer Ereignisse, wie auch Hexentanz, Elfentanz, bei Vollmond können die Tiere sprechen usw.
- Kauz - Käuzchen Totenvogel: wenn das Käuzchen ruft, stirbt jemand Inbegriff des Unheilverkünders.
- Ei - Symbol des Frühlings, neuen Lebens, des Werdens im Verborgenen, aber auch Vollkommenheit der Form.
-
- Dazu noch ein Abschlußhaiku von Imma von Bodmershof (23):
-
- Schau mitten im Ei
- klein und gelb eine Sonne
- wie kam sie hinein?
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- Literatur und Quellenangaben:
- 1. Krusche, Dietrich (Hrsg.): Haiku. Tübingen: Erdmanns.1984. S.137/138
- 2. Marsch, Edgar (Hrsg.): Moderne deutsche Naturlyrik. Stuttgart:Reclam. 1980.
- 3. Kurz, Carl Heinz (Hrsg.): Weit noch ist mein Weg. Göttingen:Graphikum. 1986. o.S.
- 4. Bodmershof,Imma v.: Sonnenuhr. Bad Goisern: Neugebauer Press. 1970. S. 29
- 5. Genzken-Dragendorff, Sigrid: Der dunkle Bogen. Hannover:Moorburg. 1977. S. 63
- 6. Heinrich, Richard W.: Wenn die Schwalben ziehn... Heilbronn o.V. 1982 S. 161
- 7. Lauer-Below, Erica: Winziger Kiesel. Bad Wildungen: Siebenberg. 1986. S.31
- 8. vergl. Anm. 3
- 9. Heinrich, Richard W.: Sonnenwende. Heilbronn, o.V. 1984. S.256
- 10. Bodmershof, Imma v.: Im fremden Garten. Zürich: Arche. 1980. S.23
- 11. Buerschaper, Margret (Hrsg.) . Carl Heinz Kurz, ein deutscher Haijin. Göttingen: Graphikum. 1988. S. 22
- 12. Groißmeier, Michael: Zerblas ich den Löwenzahn. München: Schneekluth S. 53
- 13. ebd. S.34
- 14. vergl. Anm. 7, S. 45
- 15. Cesaro, Ingo: Der Goldfisch im Glas redet und redet. München: Bachmeier. 1981. S.39
- 16. vergl. Anm. 3
- 17. vergl. Anm. 4, S.16
- 18. vergl. Anm. 7, S. 45
- 19. vergl. Anm. 3
- 20. - 22. vergl. Anm. 3
- 23. vergl. Anm. 4, S 14
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- Die übrigen zitierten Gedichte sind dem Archiv entnommen
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