Margret Buerschaper
Das Jahreszeitenwort im deutschen Haiku
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  Im Geburtsland der Haiku-Dichtung, in Japan, ist die Erwähnung der Jahreszeit unverzichtbarer Mittelpunkt eines Haiku. Sie gibt dem Kurzgedicht den atmosphärischen Hintergrund und löst im Gemüt und in der Seele des Dichters, aber auch des Lesers, eine Fülle von Emotionen aus, die, wollten wir sie beschreiben, Seiten füllen müssten.
Der Japaner lebt ganz anders in und mit den Jahreszeiten, in der Natur und durch ihre wechselnden Momente und Bilder zutiefst angerührt und angesprochen, als der Europäer. Dietrich Krusche (1) erläutert dies sehr eindrucksvoll am Beispiel des japanischen Hauses, dessen Bauweise es dem Japaner ermöglicht, „jahreszeitlich zu leben" - im Winter tief eingemummt, ohne schützende Mauern, im Sommer schwitzend, ohne kühlende Wände. Der Japaner will nicht von der Natur, von den Einwirkungen der Jahreszeiten isoliert sein, sondern mit und in ihnen leben, fühlen und empfinden. Dafür gäbe es sicher noch viele Beispiele anzuführen, doch dieser kurze Exkurs soll genügen, um uns an den Ursprung und die Tradition sowohl des Naturbildes als auch der Jahreszeitenerwähnung im Haiku zu erinnern.
Hier geht es darum, das Verhältnis der Deutschen zur Natur und zu den Jahreszeiten darzustellen und den Niederschlag der Empfindungen im deutschen Kurzgedicht aufzuspüren.
Voraussetzung und Grundlage der Ausführungen sind die beiden traditionellen Thesen:
1.  Das Haiku ist ein Naturgedicht.
2.  Das Haiku sollte ein Jahreszeitenwort enthalten.
(Mir ist bekannt, dass es sowohl in Japan als auch in Amerika und Europa Gruppen von Autoren und Literaturforschern gibt, die Einschränkungen gegenüber diesen Thesen vorbringen und andere Aspekte in den Mittelpunkt des Haiku gerückt sehen möchten. Diese zu benennen, sie erläuternd zu vertreten und zu begründen, müsste Inhalt weiterer Betrachtungen sein.)
Als Naturgedicht reiht sich das Haiku in die traditionelle deutsche Naturlyrik nahtlos ein, ja, die wachsende Vorliebe vieler Autoren für Haiku-Dichtung scheint mir eine notwendige Folge dieser Entwicklung zu sein. Im Haiku vereinen sich zwei wichtige Elemente der Naturlyrik - einmal die Betrachtungsweise der Natur als Anlass für religiös meditative Stille, Besinnung, Einkehr, ihre Vergänglichkeit als Symbol für den eigenen Lebensweg, ihre Schönheit als Anregung zum Schöpferlob zu sehen - zum anderen die seit Loerke, Lehmann und Krolow sich entwickelnde Sichtweise der lyrischen Synthese von Naturerscheinung und Wort, bei der das Naturbild das Gegebene, das Wort (der Dichter) das sich Nähernde, Erkundende ist, das sich bemüht, das Rätsel des Seienden in Sprache zu fassen. (Wer sich über die Entwicklung informieren und die verwandten Bindungen moderner Naturlyrik mit dem Haiku aufspüren möchte, dem sei das Buch „Moderne deutsche Naturlyrik" (2) mit einem aufschlussreichen Nachwort von Edgar Marsch empfohlen.)
Hier soll vom Jahreszeitenwort die Rede sein, das zwar eingebettet in die Natur und ihre Abläufe untrennbar mit ihr verbunden ist, andererseits aber angefüllt mit menschlichem Empfinden und Fühlen noch über sie hinaus weist.
Der Begriff „Jahreszeitenwort" besagt, dass ein im Haiku verwendetes Wort eindeutig eine Jahreszeit benennt, ohne Anlehnung an die festgelegten Namen Frühling, Sommer, Herbst, Winter, Vorfrühling, Spätsommer, Altweibersommer, Frühherbst, Spätherbst und Nachwinter oder ähnliche Komposita.
Es gibt eine Unzahl Wörter und Begriffe, die eindeutige Bezüge zur Jahreszeit herstellen und deshalb als Jahreszeitenwort gelten dürfen. - (Der Gedankenstrich besagt, dass der geneigte Leser verweilen und sich besinnend überfluten lassen möge. In Japan gibt es Wörterbücher, die Jahreszeitenwörter (kigo) gesammelt und deutend bereithalten.)
Beginnen wir, sozusagen zum Eingewöhnen, mit einigen ganz einfachen, unzweifelhaften und für alle Regionen gleichermaßen eindeutigen Wörtern, die von Jahreszeit und Natur, von Landschaft und Wetterbedingungen geprägt sind:
Schnee ist ein Wort für Winter, einschließlich seiner vielen Komposita, doch schon bei Schneematsch wird die Region maßgebend - in Norddeutschland Winter, in Süddeutschland vielleicht schon Frühling. Das Vogellied, der Nestbau gehören dem Frühling an, sollen aber Vogelbeobachtungen im Winter dargestellt werden, so werden Attribute notwendig wie die streitenden Amseln....die hungrigen Spatzen.
Das wogende Getreidefeld ist ein Sommerbild, in der auf Rentabilität hinarbeitenden Landwirtschaft ist das Stoppelfeld im Herbst kaum noch auffindbar. Trotzdem bleibt für unser Empfinden ein kalter Wind über Getreidestoppeln ein Herbstwind, ein traditionsgeprägter Topos. Wenn wir von der Obsternte sprechen, meinen wir Apfel, Birne, Pflaume, meinen wir den Herbst. Die Beerenernte gehört dagegen in den Sommer. Die einheitlichsten Herbstwörter sind Buntlaub und Blätterfall - doch was ist mit dem Eichenlaub? Es können durchaus noch Winterwinde im Eichenlaub rascheln.
Hier als Beispiel nun einige Haiku mit eindeutigen Jahreszeitenwörtern: (3)
 
Ein Kirschblütenzweig
aus meines Freundes Garten schmückt
jetzt mein Zimmer.
                        Rolf Boehm
 
Die weißen Rosen
erblüht - und ich noch immer
in Arbeitskleidung.
                       Sabine Sommerkamp
 
Leer sind die Stühle
rings um den Tisch im Garten. 
Nur Blätter zu Gast.
                           Friedrich Rohde
 
Die Halbmondsichel
wetzt ihre blanke Schneide
am vereisten Turm.
                          Richard W. Heinrich
 
Die im Jahreszeitenwort vermittelte, wenn auch unausgesprochene Saison muss nicht zwingend mit der kalendarischen Einteilung übereinstimmen, aber sie muss eindeutig eine ästhetische Verbindung des menschlichen Fühlens und Empfindens mit ihren Gegebenheiten herstellen.
Solche Assoziationen sind auch von mancherlei Umständen beeinflusst. Einige davon seien hier, auch nur andeutungsweise, aufgeführt.
 
1.  Von Gestirnen und Wetterelementen bestimmte Jahreszeitenwörter
 
Beginnen wir mit den Gestirnen. Wenn in einem japanischen Haiku vom Vollmond die Rede ist, ist der Septembermond gemeint. In Deutschland kennen wir diese genaue Festlegung nicht. Der Mond kann nur dann Jahreszeitenwort sein, wenn wir ihm die entsprechenden Attribute beigeben: roter Mond meint den Sommer, kalter Mond den Winter. Einen Sommervollmond beschreibt das folgende Haiku von Imma von Bodmershof: (4)
 
Blendender Vollmond -
nur sein Licht auf den Wellen
schmerzt nicht das Auge.
 
In unseren Breiten sind August und September die Monate der Sternschnuppen, im Oktober zeigen sich die klarsten Sternbilder - so können Sternschnuppen und   klarer Sternenhimmel für den Herbst stehen.
Sonnenglast und flimmernde Hitze sind Sommerwörter, die schönsten Sonnenuntergänge beobachten wir im Herbst. Letzteres unterliegt jedoch auch wieder regionalen Gegebenheiten. Mit dem Himmel verbunden sind die Wettererscheinungen: Stürme suchen uns im Herbst heim, der Wind bringt den Frühling, in der Nähe der Berge ist es der Föhn. Die Niederschläge sind nur bedingt zeitlich zu lokalisieren und sollten deshalb mit einem weiteren jahreszeitlichen Attribut versehen werden.
Schnee...... Eis  und Rauhreif sind Wörter für den Winter, die schönsten Wolken zaubert die Sommerluft. Kurze Tage hat der Winter - lange Tage genießen wir im Sommer, Nebel steigen im Herbst, Tautropfen,  Gewitter und Regenbogen  bilden sich im Sommer, dessen Beginn die Sonnenwende festlegt.
Im Haiku-Beispiel von Sigrid Genzken-Dragendorff (5) beinhaltet das Wort Schnee die Jahreszeit. Alle anderen Bildsymbole könnten auch zu anderen Jahreszeiten gültig sein:
 
Wolken fallen ein.
Aus ihrer müden Schwere
näßt der Schnee das Land.
 
2.   Geographisch bedingte Jahreszeitenwörter
 
Bizarre Bergwelt
im rötlichen Sonnenlicht
Widerschein im See. (6)
                          Richard W. Heinrich
 
In diesem Haiku lässt die erste Zeile eine herbstliche Einordnung zu, da um diese Jahreszeit die Bergzacken besonders klar hervortreten. Das rötliche Sonnenlicht, nicht mehr blendend hell, ermöglicht die Spiegelung. Um aus geographischen Gegebenheiten auf die Jahreszeit schließen zu können, muss man mit ihnen vertraut sein. Hoher Wellengang ist besonders im Herbst und im Frühling zu beobachten, Mooreinsamkeit schließt den Sommer und den Herbst aus, ein Rinnsal sind Bergflüsse im Sommer, Sturzbäche zur Zeit der Schneeschmelze im Frühling.  Farblose Seen hat der Winter und blühende Bergwiesen der Sommer. Von Rebhängen sprechen wir im Sommer oder Herbst von gemähten Wiesen im Sommer, von abgeernteten Feldern im Herbst.
An dieser Auswahl wird deutlich, dass geographische Aussagen als Jahreszeitenwort in den meisten Fällen ein näher umschreibendes Attribut erfordern.
Im folgenden Beispiel ist die Jahreszeit eindeutig mit einem einzigen, geographisch bedingten Wort ausgedrückt, Firnschnee = Frühling:
 
Drüben noch Firnschnee
hier öffnet sich weit dem Blau
die Wolkendecke (7)
                        Erica Lauer-Below    
 
3.   Jahreszeitenwörter aus dem Bereich der Feste im Jahreskreis
 
Weihnachten und Neujahr als Winterworte, Ostern und Pfingsten als Bestimmungen für den Frühling brauchen nicht näher erläutert zu werden. In Deutschland haben jedoch viele Heiligengedenktage eine tiefgreifende, regional unterschiedliche Bedeutung.  Mit ihnen sind feste Bräuche verknüpft, die wieder zunehmend ins Bewusstsein gelangen.
Einige der bekanntesten Beispiele mögen für die Fülle solcher feiertagsbezogenen Jahreszeitenwörter stehen:
Martinsgans (11. November), Hubertusjagd (3. November), Barbarazweige (4.   Dezember), Karpfenessen (Silvester, 31. Dezember), Walpurgisnacht (25. Februar), Johannisfeuer (24. Juni), Michaelistag (29. September), Bittgang (Frühling), Prozession (Fronleichnam, Frühling), Kerzenlicht (Advent / Weihnachten - Winter).
 
Strömender Regen
und Sehnsucht nach Grablichtern.
Allerheiligen.      
              Conrad Miesen
 
Darüber hinaus gibt es die auf bestimmten traditionellen Überlieferungen fußenden Bräuche, die vielfach an den Ablauf des menschlichen Lebens gebunden, in den Jahreszeiten festgelegt sind:
Almauftrieb (Frühling), Almabtrieb (Herbst), Erntedank (Herbst), Fastnacht oder Karneval (Winter), Feldbegang (Sommer, vor der Ernte), Oktoberfest, die Aufzählung ließe sich noch beliebig fortsetzen.
 
Michaelistag
es regnet heute füttert
der Penner Schwäne (8)
                           Mario Fitterer
 
Wie ausgestoßen
der Bettler am Straßenrand
Vorweihnachtsrummel. (9)
                               Richard W. Heinrich
 
Steig nicht so hoch,
du bunter Kinderdrachen,
sonst raubt dich der Sturm.
                                    Rüdiger Jung
 
Im Dreschflegeltakt
mahlen noch Mühlsteine
das kommende Brot.
                         Rüdiger Jung
 
Der Vorweihnachtsrummel, der sich in den Winteranfang einfügt, bedeutet zugleich eine Häufung von Assoziationen, von denen sich in diesem Gedicht nur ein Teilaspekt anrührend eröffnet. Das Gedicht von Rüdiger Jung greift einen alten Kinderbrauch auf, der nur auf den abgeernteten, leeren Feldern den ausreichenden Raum für seine Durchführung bietet, das Drachensteigenlassen. Im Zeitalter der ferngesteuerten Spielflugzeuge zugleich ein Zeug­nis für die Möglichkeit, Jahreszeitenbindungen alter Bräuche durch das Gedicht bewahren zu helfen. Das gilt auch für das zweite Gedicht von R. Jung.
An dieser Stelle sei bemerkt, dass die Verwendung von Saisonwörtern aus den Bereichen religiöser, volkskundlicher und heimatlicher Bezüge auch für die Haiku-Dichtung wichtig ist, da sie dadurch einen Beitrag zur Eigenständigkeit der deutschen Geschichte und Tradition liefert und sie vor dem Ver­gessen bewahrt.  Man liest häufig, dass aus japanischen Haiku viel über Japan, seine Landschaften und über das Leben der Menschen zu erfahren ist. Unter diesem Aspekt kann auch das deutsche Kurzgedicht die unterschiedlichen Gegebenheiten der deutschen Landschaften darstellen und das Haiku so in allen Regionen beheimaten.
 
4.   Jahreszeitenwörter aus der Vogel- und Tierwelt
 
Spatzenlärm ums Haus
fernher vom Wald nur leise
tönt der Drossel Sang. (10)
                             Imma von Bodmershof
 
Dieses Beispiel mag für all die Gedichte stehen, in denen der Vogelsang, der Nestbau, die Vogelbrut Saisonwörter für den Frühling sind. Spat­zenlärm könnte auch für den Winter stehen, erst der Drossel Sang macht die Einordnung eindeutig.
 
Die weißen Reiher,
über den Altschnee segelnd,
warten aufs Mondlicht. (11)
                             Carl Heinz Kurz
 
Vogelschwärme ziehn
nach Süden - wir suchen noch
unsere Richtung   (12
                          Michael Groißmeier
 
Der Vogelzug ist ein bedeutendes Jahreszeitenwort für den Herbst. Das menschliche Empfinden verbindet, vor allem mit den Flugfiguren der großen Vögel wie Gänse, Schwäne und Störche, Wehmut, Sehnsucht nach fernen Ländern, Bedauern über das Vergehen des Sommers - das Vergehen des eigenen Lebens. Die Zielstrebigkeit  und unbeirrbare Sicherheit lösen Bewunderung und Staunen aus.
Neben den Vögeln sind die Frösche, ihr Quaken, ihr plumpes Verhalten beliebte Assoziationswörter für den Frühling. Auch die Jungtiere begleiten uns durch diese Jahreszeit: Lämmer, Kitz, Kalb und Küken.
Die Insektenwelt bevölkert die Sommerhaiku:
 
Erster Leuchtkäfer
sogar bei kräftigem Wind
löscht sein Licht nicht aus. (13)
                                   Michael Groißmeier  
    
Schmetterlinge, Bienen, Hummeln, Wespen, Fliegen, Grillen, Libellen und Heuschrecken. Häufig übernehmen auch Fische, Schnecken, Eidechsen, Salamander und Vipern die Jahreszeitenbestimmung.
Die Spinnennetze hängen im Herbst zwischen Halmen und Zweigen der Nadelbäume. Eichhörnchen, Igel, Hase, Mäuse und Hamster sind im Herbst häufiger anzutreffen, auch Schafherden, die heim getrieben werden.
 
In Spinnennetzen
hängt das Schweigen der Fliegen
an hohen Gräsern (14)
                       Erica Lauer-Bel
 
Vor Fenstergittern
weben die Spinnen Netze.
Die Flucht muß scheitern. (15)
                                Ingo Cesaro 
 
Im Winterhaiku finden wir das hungernde Tier als Ausdruck der Jahreszeit, das Reh, die Hasen und Kaninchen, die Standvögel. Das Futterhaus, die Futterraufe,  der Streit um die Körner hängen damit zusammen. Im freien Feld fallen die Krähen auf - ihr schwarzes Gefieder und das krächzende Geschrei sind Ausdruck für Tod, Traurigkeit, Kälte und Einsamkeit.
 
Vom Sturm gebeutelt,
weicht der hungrige Falke
nur stärksten Böen. (16)      
                            Margot Gabriel
 
5.   Jahreszeitenwörter aus der Blumen- und Pflanzenwelt
 
Die häufigsten Jahreszeitenwörter sind der uns direkt umgebenden Natur, der Pflanzenwelt, entnommen. Die meisten sind eindeutig, da wir Blütezeiten und Reifemonate kennen. Die frühblühenden Zwiebel- und Knollengewächse sind ersehnte Frühlingskünder.  Die Kirschblüte wird in Deutschland ebenso beachtet und besungen wie in anderen Ländern. (Japan ausgeschlossen, da die Japaner einen wohl in der Welt einmaligen Bezug zur Kirschblüte haben.) Baumblüten, Baumdüfte und -farben sind die jedes Jahr aufs neue mit Staunen und Freude wahrgenommenen Zeichen des Frühlings.
Vom weißen Flieder
verschneit ist die Quelle -
selbst das Wasser duftet. (17
                                 Imma von Bodmershof
 
Dem deutschen Herz und Gemüt steht die Rose als Sommerblume am nächsten.  Wiesen, Feldraine und Bauerngärten halten eine Vielzahl von Blumen und Kräutern bereit, deren Blüte- und Reifezeit in den Sommer fallen. Den Bemühungen der Naturfreunde ist es zu verdanken, dass die Fülle und Farbigkeit unserer wilden Flora wieder zunimmt.
Dem aufmerksam beobachtenden Dichter und Leser fällt auch das Geringste noch auf:
 
Gelbe Kamille
blüht einfach im Mauerriß
sieh wie er sich dehnt (18)                  
                              Erica Lauer-Below 
 
Die Bäume in ihrem satten Grün werden zum Bild der Stärke und Kraft. Ihr Rauschen und ihr Schatten gehören dem Sommer an. Die wogenden Getreidefelder, die Grashalme, das flüsternde Schilf, all das spricht mit Sommerstimmen. Die große Anzahl der Haiku, die Jahreszeitenwörter des Herbstes enthalten, zeigt, dass der Mensch in dieser Zeit für die Veränderungen der Natur besonders empfänglich ist. Die Blumenpracht der Gärten weckt eher Wehmut und Traurigkeit, Astern und Chrysanthemen drücken Abschied und Endgültigkeit aus. Das Welklaub  in seinen Farbnuancen bewundert, wird zum Sinnbild des Sterbens und Vergehens.
Pilze, Kastanien, Nüsse, Früchte von Bäumen und Sträuchern, Samen von Gräsern und Stauden sind herbstliche Saisonwörter.
 
Rot sinkt die Sonne -
am Strauch die Hagebutte
leuchtet samenschwer. (19)    
                             Sabine Sommerkamp   
 
Auf den Winter weisen die Christrose, der Weihnachtsstern und die im Januar blühende Zaubenuss (Hamamelis) hin. Nun sind es die kahlen Bäume, die nackten Zweige, oder die dunklen Nadelgehölze, die dem Dichter als Ersatzwörter zur Verfügung stehen. Gras und Schilf sind blass und verdorrt. Blumengeschenke gibt es zum Valentinstag (14. Februar).
6.  Haiku mit zwei oder mehr Jahreszeitenwörtern
 
Das Jahreszeitenwort ist nicht ablösbar vom konkreten Naturbild des Haiku, es ist die Basis des Bildes, seine Verankerung im Jahreslauf und in der emotionalen Gestimmtheit des Dichters und Lesers. Dadurch bedingt treten in manchen Haiku auch schon mal zwei oder mehr Jahreszeitenwörter auf. Sie sind berechtigt, wenn sie der Vervollkommnung des Bildes oder der näheren Bestimmung der Jahreszeit dienen.
 
Frühlingsbeginn: durch
brüchiges Eis stoßen grün
die Lanzen des Schilfs. (20)
                               Gerold Effert
Es besteht jedoch auch die Gefahr, daß sie zu einer bloßen Aufzählung werden:
 
Haselnußkätzchen.
Forsythiengelb leuchtet.
Oh Seidelbastduft! (21)   
                              Hildegard Klopsch
 
oder zu einem Widerspruch führen:
 
Braune Nachtigall
betörend dein Gesang in
dieser dunklen Zeit. ( 22)                     
                        Theophil Krajewski 
 
Die dunkle Zeit ist ein winterliches Wort, der Gesang der Nachtigall ertönt im  Frühling. Der Dichter meint sicherlich die eigene Stimmung mit "dunkler Zeit", dafür wäre ein anderes Attribut zu "Zeit" klärender.
 
7.  Die Symbolik des Jahreszeitenwortes
 
Sicherlich sind die deutschen Jahreszeitenwörter nicht mit solch einheitlichen, traditionellen Symbolgehalten verbunden, wie das bei den japanischen kigo der Fall ist. Die emotionalen und existenziellen Gefühlswerte sind im Deutschen individueller, unterliegen stärker der Erlebnisfähigkeit, der Phantasie und Sensibilität des Einzelnen und sind nicht erlernbar. Eine bild- und gefühlsstarke Symbolik verbirgt sich jedoch auch in deutschen Jahreszeitenwörtern. Das im Einzelnen auszuführen, wäre es wert, besonders betrachtet zu werden.  Hier seien nur einige Hinweise gegeben:
Mond - Gestirn der Nacht, von der Sonne angestrahlt, Symbol für jemanden, der sich durch die Leistung anderer großtut, oder der den Glanz anderer weitergibt - aber auch Freund der Liebenden, Gesprächspartner der Schlaflosen und Einsamen - Der Mann im Mond: Gestalt märchenhafter
und mythischer Ereignisse, wie auch Hexentanz, Elfentanz, bei Vollmond können die Tiere sprechen  usw.
Kauz -  Käuzchen Totenvogel: wenn das Käuzchen ruft, stirbt jemand ­ Inbegriff des Unheilverkünders.
Ei -      Symbol des Frühlings, neuen Lebens, des Werdens im Verborgenen, aber auch Vollkommenheit der Form.
 
Dazu noch ein Abschlußhaiku von Imma von Bodmershof (23):
 
Schau mitten im Ei
klein und gelb eine Sonne ­
wie kam sie hinein?
 
Literatur und Quellenangaben:
1.       Krusche, Dietrich (Hrsg.): Haiku. Tübingen: Erdmanns.1984. S.137/138
2.       Marsch, Edgar (Hrsg.): Moderne deutsche Naturlyrik. Stuttgart:Reclam. 1980.
3.       Kurz, Carl Heinz (Hrsg.): Weit noch ist mein Weg. Göttingen:Graphikum. 1986. o.S.
4.       Bodmershof,Imma v.: Sonnenuhr. Bad Goisern: Neugebauer Press. 1970. S. 29
5.        Genzken-Dragendorff, Sigrid: Der dunkle Bogen. Hannover:Moorburg. 1977. S. 63
6.       Heinrich, Richard W.: Wenn die Schwalben ziehn... Heilbronn o.V. 1982 S. 161
7.       Lauer-Below, Erica: Winziger Kiesel. Bad Wildungen: Siebenberg. 1986. S.31
8.       vergl. Anm. 3
9.       Heinrich, Richard W.: Sonnenwende. Heilbronn, o.V. 1984. S.256
10.    Bodmershof, Imma v.: Im fremden Garten. Zürich: Arche. 1980. S.23
11.    Buerschaper, Margret (Hrsg.) . Carl Heinz Kurz, ein deutscher Haijin. Göttingen: Graphikum. 1988. S. 22
12.    Groißmeier, Michael: Zerblas ich den Löwenzahn. München: Schneekluth S. 53
13.    ebd. S.34
14.    vergl. Anm. 7, S. 45
15.    Cesaro, Ingo: Der Goldfisch im Glas redet und redet. München: Bachmeier. 1981. S.39
16.    vergl. Anm. 3
17.    vergl. Anm. 4, S.16
18.    vergl. Anm. 7, S. 45
19.    vergl. Anm. 3
20. - 22. vergl. Anm. 3
23.    vergl. Anm. 4, S 14
 
Die  übrigen zitierten Gedichte sind dem Archiv entnommen