Lydia Brüll
Haiku-Dichtung - eine zeitgemäße Lyrik?
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Wenn Kunst nicht stagnieren soll, muss sie immer wieder hinterfragt und sachgerecht über ihre Form, ihren Inhalt und über ihre Zeitgemäßheit diskutiert werden. Dies kann unbequem sein, kann verunsichern, Aggressionen hervorrufen, aber es gehört mit zum "Handwerk-", auch zu dem des Haiku. Mit dieser Hinterfragung hängt die häufig auftauchende, berechtigte Frage zusammen: Warum werden sowohl Dreizeiler mit genau siebzehn Silben, mit oder ohne Jahreszeitenthema, als auch solche ohne Beachtung der Silbenzahl und mit oder ohne Jahreszeitenthema Haiku genannt?

Eines steht fest: Von dem Haiku par excellence zu sprechen, geht an der Realität vorbei. Das klingt für viele Haiku-Dichterlnnen vielleicht überraschend, aber so ist es nun einmal. Ein kurzer Blick auf die Entwicklung des Haiku in Japan und seine damit verbundenen formalen und inhaltlichen Wandlungen zeigt, dass die jetzt auch innerhalb der deutschsprachigen Haiku-Szene auftauchenden scheinbar neuen Fragen über Form und Inhalt eines Haiku gar nicht so neu sind. Im Grunde sind sie über ein Jahrhundert alt und die Debatte darüber, welches der Haiku-Modelle als echtes Haiku anzusehen ist, wurde in Japan in teilweise heftigen Fehden ausgetragen.

Seit dem Aufkommen des Haiku im 16. Jahrhundert entwickelte dieses verschiedene Stilrichtungen: Aus den zunächst heiteren, von Spott, Humor und dem Alltag der einfachen Menschen geprägten Versen wurde im 17. Jahrhundert ein selbständiges Kurzgedicht ganz neuen Stils: das Haiku als Träger lyrischer Expressionen. Trotz ihres unterschiedlichen Stils befolgten diese Haiku-Dichter wie Bashô, Buson, Issa und ihre Anhänger folgende Kriterien: Konzentration auf ein einziges Ereignis; Prägnanz und Kürze, nämlich drei Sequenzen mit im allgemeinen fünf/sieben/fünf Silben; Verwendung eines Jahreszeitenwortes oder -themas, einfache, klare sprachliche Gestaltung; Verwendung symboltragender Wörter; Benutzung lautmalerischer Wörter; Forderung einer Zäsur; Forderung des Nachhalls. Zur besseren Unterscheidung zu anderen Haiku-Formen spreche ich bei den Haiku, die diesem 'klassischen' Vorbild bis heute in Japan und anderen Ländern folgen, vom 'Haiku im traditionellen Stil'. Dabei möchte ich ausdrücklich betonen, dass 'traditionell' nicht im Sinn von 'rückwärts gewandt', 'antiquiert' oder 'unmodern' zu verstehen ist.

Nach der Blüte dieser 'klassischen' Zeit (17./18./erstes Drittel 19. Jh.) durchlief das Haiku in Japan eine Talsohle. Aus dem Haiku-Dichten wurde zunehmend ein vom Verstand beherrschtes Spiel, bei dem es eine Vielzahl komplizierter und raffinierter Techniken einzuhalten galt. Die Umsetzung wahrhafter Gefühle in einfache, klare Sprache wich manierierter Haiku-Gestaltung, es entstanden Verse voll literarischer Metaphern und ungewöhnlicher Wortverbindungen. Das Haiku begann mehr und mehr zu stagnieren. Erst Jahrzehnte später, etwa ab 1910, gelang es bedeutenden Dichtern, das Haiku wieder aus seiner Stagnation zu befreien. Vereinfacht dargestellt, kristallisierten sich ab dieser Zeit zwei Strömungen heraus: die des 'Haiku im traditionellen Stil', die an traditionellen Kriterien festhielt, und die des 'Haiku im freien Stil', die neue Wege beschritt. Für beide Strömungen spielte der seit der Öffnung Japans um die Mitte des 19. Jahrhunderts erfolgte Modernisierungs- und Verwestlichungsprozess des Landes eine wesentliche Rolle.

Die Anhänger des 'Haiku im traditionellen Stil' gaben den ersten Anstoß zur Erneuerung des Haiku. Sie orientierten sich am Haiku der 'klassischen' Zeit und plädierten vor allem für die Beibehaltung der siebzehn Silben, des Jahreszeitenwortes/themas und der Zäsur. Die traditionellen Künste Japans, argumentierten sie, sind ein Kulturerbe, das eine einzigartige Stellung in der Welt einnimmt. Dieses in seiner Einzigartigkeit zu bewahren, zu pflegen und anderen zu vermitteln, sei eine wichtige Aufgabe aller beteiligter Künstler. Zu einem Haiku gehören nun einmal die aus der lyrischen Tradition Japans erwachsenen Regeln. Für eine gute und überzeugende Haiku-Lyrik ist jedoch nicht allein die historische Perspektive ausschlaggebend, sondern auch eine bestimmte Lebenshaltung des Dichters: die Rhythmen des Lebens aufspüren, die tieferen Geheimnisse seines eigenen Wesens ergründen und die etablierten Verhaltensnormen des täglichen Lebens kritisch durchschauen. Diese Gedanken fielen damals auf fruchtbaren Boden und sie wurden mit einigen Varianten bis heute weiter verfolgt. Damit kehrte das Haiku zu der realistischen Erfassung der Natur und des Menschen, vor allem aber zur Spontaneität der dichterischen Aussage zurück.

Zahlreichen Haiku-Dichtern waren diese Vorschläge nicht fortschrittlich genug. Gerade um die Spontaneität des Dichters zu gewährleisten, verweigerten sie die sklavische Einhaltung der siebzehn Silben. Auch sie traten für Prägnanz und Kürze des Haiku ein, ob jedoch eine Sequenz um einige Silben kürzer oder länger ausfiel, spielte für sie keine Rolle. Einige gingen noch weiter und verwarfen auch die Verwendung des Jahreszeitenwortes/themas. Ihre Begründung lautete: Industrialisierung und Technisierung verändern nicht nur die Natur, sondern setzen auch andere Wertmaßstäbe zwischen Mensch und Natur. Auch die zunehmende Verwestlichung des japanischen Lebensstils richten den Blick des Dichters unwillkürlich auf neue Dinge und Erlebnisse. Lyrik darf nicht rückwärts gewandt durch die Welt gehen, sondern muss auch den Zeitgeist, die wirkliche Existenz des menschlichen Lebens widerspiegeln. Diese Dichter sahen den Sinn des Haiku nicht mehr im Kopieren oder in der meditativen Betrachtung der Natur in ihrem Ablauf der vier Jahreszeiten mit vornehmlich traditionellen der Natur entnommenen, oft klischeehaften Sujets oder im Besingen berühmter Landschaften, sondern forderten eine Haiku-Lyrik mit lebens- und zeitnahen Themen. Damit war das 'Haiku im freien Stil' geboren. Nachdem sich diese Dichter nahezu aller Haiku-Regeln entledigt hatten, setzte verständlicherweise eine große Experimentierfreude ein. Ein fördernder Aspekt für diese Aufbruchstimmung war, dass die japanischen Schriftsteller mittlerweile auch westlichen Lyrikformen mit anderen formalen und inhaltlichen Kriterien als ihren eigenen begegneten. So mancher war beispielsweise vom Symbolismus, Imaginismus, Surrealismus fasziniert und integrierte diese Ismen auch in die Haiku-Lyrik. Nach dem Zweiten Weltkrieg nahm die Freude am Experimentieren und die Erweiterung des Themenkatalogs sogar noch zu. Aufgrund der wiedergewonnenen Rede- und Pressefreiheit verarbeiteten viele Haiku-Dichter jetzt auch brisante politische und soziale Themen und scheuten sich nicht, ihre Gefühle der Enttäuschung, Angst und Resignation in ihre Lyrik einfließen zu lassen.

Die 'Traditionalisten' wehrten sich zwar vehement gegen das 'Haiku im freien Stil' und gegen die Versuche, das Haiku durch westliche Ismen zu verfremden, nolens volens öffneten jedoch auch sie sich neuen Inhalten und gestalteten ihre Haiku manchmal auch unter Weglassung des Jahreszeitenwortes/themas - wobei zu beachten ist, dass der Naturbezug auch im 'klassischen' Haiku weiter gefasst wurde, als dies bei uns bekannt ist. Schließlich war das Japan des 20. Jahrhunderts nicht mehr das eines Bashô oder Issa. Spätestens nach dem Zweiten Weltkrieg hatte das Haiku neben Senryu und Tanka den Charakter einer universalen, die Grenzen einer spezifischen Kultur übersteigenden Lyrik angenommen.

Einhundert Jahre später gewinnen diese in groben Zügen geschilderten Debatten um das Haiku auch in der deutschsprachigen Haiku-Szene - übrigens werden sie bereits seit geraumer Zeit auf internationaler Ebene geführt - an Bedeutung. Warum erst ein Jahrhundert später? Die Begegnung der deutschsprachigen Dichterlnnen mit dem Haiku hat auf unterschiedliche Weise stattgefunden. Jene, die die japanische Lyrik über das Original kennenlernten, waren die Ausnahme. Fast alle kamen über Übersetzungen, also aus zweiter Hand, zur japanischen Haiku-Lyrik. Manche begegneten ihr nur durch Haiku deutschsprachiger Dichter/Innen. Dass vor allem das 'Haiku im traditionellen Stil' in der deutschen Haiku-Lyrik Fuß fasste, liegt nicht zuletzt daran, dass die aus dem Japanischen übersetzten Haiku-Anthologien nahezu ausschließlich 'Haiku im traditionellen Stil' aus der 'klassischen' Zeit bieten. Auch innerhalb der DHG wurde bisher nur diese Form des Haiku gepflegt. Dagegen ist grundsätzlich nichts einzuwenden. Denn auch unter den zahlreichen Haiku-Gesellschaften in Japan gibt es solche, die nur das 'Haiku im traditionellen Stil' zulassen. Wer in diesem Stil seinen Weg der poetischen Aussage findet, sollte es auch weiterhin tun - allerdings wirklich unter Beachtung aller Kriterien und unter klarer Abgrenzung zu einem Senryu!

Trotzdem sollten sich auch diese Haiku-Dichterlnnen mit den anderen 'Haiku-Formen' auseinandersetzen. Sie überhaupt nicht zur Kenntnis zu nehmen bedeutet, dass sich die deutsche Haiku-Szene von der internationalen verabschiedet. Gerade in der heutigen Zeit stellt die Literatur eine die Kulturen verbindende Brücke dar, dies um so mehr beim Haiku, einer Gedichtform, die weltweit geschätzt und gepflegt wird. Eine sachgerechte Diskussion über das Für und Wider eines 'Haiku im traditionellen' oder 'im freien Stil' bringt für beide Seiten eine Bereicherung , öffnet vielleicht sogar ganz neue Wege. Ich meine, dass eine Haiku-Gesellschaft geradezu verpflichtet ist, sich diesen Fragen zu stellen und sie mit gebotener Gelassenheit einer vorläufigen Lösung näherzubringen.

Nur einige wenige Anregungen: Auf internationaler Ebene lautet die grundlegende Frage: Wie kann ein Haiku, auch ein im streng, 'traditionellen Stil' geschriebenes, moderne, auf den Nägel brennende Lyrik sein! Folgende Kriterien werden für das Haiku aller Formen allgemein anerkannt: Kürze und Präzision, klare Sprache, Reduktion des Bildes auf das Wesentliche, Abtauchen in ein Erlebnis und es durchdringen. Folgende formale Kriterien stehen unter vielen anderen zur Zeit zur Diskussion: Die Beibehaltung oder Nichtbeibehaltung der siebzehn Silben, des Jahreszeitenwortes/themas; Abgrenzung zwischen Haiku und Senryu oder Aufhebung dieser Unterscheidung; worin liegen die Vorzüge eines 'Haiku im freien Stil'? Was unterscheidet ein 'Haiku im freien Stil' von westlichen Lyrikformen? - Fragen über Fragen, die einer eingehenden Betrachtung bedürfen. Sei es, um das 'Haiku im traditionellen Stil' sachlich begründet zu verteidigen, sei es um Korrekturen anzubringen oder einfach um Missverständnisse auszuräumen. Übrigens wurden in der Zeitschrift der DHG wiederholt Anregungen zu einigen dieser Punkte gegeben. Bei den meisten Mitgliedern stießen sie jedoch nicht auf fruchtbaren Boden, eher auf Ablehnung, geschweige denn, dass sie jemals wirklich ernsthaft und fachgerecht diskutiert wurden. Es wäre schön, wenn sich hier etwas ändern würde.