- Ein Bericht über eine Vorlesung von Prof. Dr. Ekkehard May
- in der Mori-Ôgai-Gedenkstätte in Berlin
-
- Die Mori-Ôgai-Gedenkstätte ist eine akademische Einrichtung der Humboldt-Universität Berlin. Sie übernimmt auf dem Gebiet der Vermittlung zwischen
japanischer und deutscher Kultur wissenschaftliche Aufgaben, die in spezifischer Weise an die Person und das Werk des Arztes und Wissenschaftlers, des Dichters und Übersetzers Mori Ôgai (1862
– 1922) anschließen. Neben der wissenschaftlichen Information über Leben, Wirken und Vermächtnis Mori Ôgais besteht die Hauptaufgabe der Gedenkstätte in der Übersetzung, Erschließung
und Verbreitung von Werken, die dazu beitragen das kulturelle Verständnis zwischen Japan und Deutschland zu vertiefen. Mori Ôgai ist der Erstübersetzer des Faust I und Faust II von Goethe
ins Japanische. Die „Ôgai-Vorlesungen“ sind eine weitere wissenschaftliche Initiative, ähnlich dem Bemühen Mori Ôgais in Gastvorlesungen –
umgekehrt - die eigene Verwurzelung in der europäisch Erfahrung mit einer ebenso profunden Kenntnis asiatischer Sprachen, Literaturen und Kulturen zu verbinden.
- Am 20.Juli 2006 sprach Prof. Dr. Ekkehard May im Rahmen dieser „Ôgai-Vorlesungen“ über Bilder und Pointen in
Versen des Yokoi Yayû (1702-1783). Yokoi Yayû ist uns - aus den veröffentlichten Übertragungen - eher als hervorragender Haibun-Dichter und als Maler bzw. Kalligraph bekannt, aber auch als
Haiku-Poet hinterließ er ein bedeutendes Oeuvre. Von seinen 2222 Versen hat Prof. May 24 Haiku vorgestellt. Die ungefähr dreißig Zuhörer konnten die Texte, die in Transkription und als Übersetzung
vorgelesen wurden, auf den Handouts bequem verfolgen. Sie waren gleichzeitig aufgefordert drei Texte zu markieren, die sie am meisten beeindruckten.
- Im Herbst 2006 erscheint Ekkehard Mays „Chûko – die neue Blüte“ oder „Shômon III“, das sich den
dichterischen Enkeln Bashôs widmet und aus dem auch die originellen Haiku von Yokoi Yayû für seinen Vortrag entnommen waren. Nach seinen eigenen Worten waren es die Knappheit der Form, die
Überschaubarkeit der Grammatik und die besondere Leichtigkeit und Nachvollziehbarkeit der Yayû–Texte, die den Japanologen zum Übersetzen verführten. Ekkehard May hat in Shômon I und II
seine Übersetzungsstrategien ausführlich dargestellt und hat aber für die Haiku-Vorlesung bewusst Texte herausgesucht, die leichter zu übersetzen waren als üblich:
-
- yami no ka wo / ta-oreba shiroshi / ume no hana
-
- Der Duft der Dunkelheit,
- als ich ihn pflückte, war er weiß;
- Pflaumenblüten
-
- Dieses Haiku ist ein meisterhaftes Beispiel für die Synästhesie-Tradition der japanischen Lyrik. Zu der in
der ersten Zeile beschriebenen olfaktorischen und visuellen Wahrnehmung gelingt es dem Dichter ein taktiles Element einzubeziehen und in äußerster
Prägnanz die Vermittlung dreier Sinneseindrücke.
- Formal fällt auf, dass sich der Übersetzer für die deutschsprachige Übertragung nicht dem sprachfremden
Moren-Schema verpflichtet fühlt und auf einem Vers-Ende-Punkt verzichtet.
- Die spontane Verstehbarkeit und synästhetische Wirkung auf den Leser wird auch in einem weiteren Yayû-Haiku
deutlich:
- fûrin wa / narade tokei no / atsusa kana
-
- Das Windglöckchen
- ist still – im Ticken der Uhr,
- o, welche Hitze
-
- Das Ticken der Uhr wird nicht lautmalerisch beschrieben, sondern wird zum Ticken der Hitze und beschreibt wunderbar
einen doppelten Sinneseindruck.
- Der wohlhabende und einflussreiche Samurai war zu seiner Zeit nicht als vorbildlicher Haiku-Dichter akzeptiert, weil
seinen Texten sehr oft eine Tendenz zum Senryû zugeschrieben wurde. Aber gerade das bewog Prof. May dazu, Texte des Yayû auszusuchen, die Ereignisse des menschlichen Seins, z.B. häusliche
oder landwirtschaftliche Verrichtungen, beschreiben. Seines Erachtens würden immer noch zu selten auch Augenblickserfahrungen, die abseits der sonst üblichen Naturbilder gemacht werden, in
einem Haiku thematisiert.
-
- Die letzen drei Haiku seiner Vorstellung fasste Ekkehard May zu einer
Haiku-Sequenz oder einem Haiku-Cluster zusammen:
-
- waga kado e / shiri no chikayoru / taue kana
-
- Die Hinterteile kommen
- immer näher an mein Tor –
- es ist Reispflanzzeit!
-
- karu toki ni / umu hara mo ari / sanae-tori
-
- Wenn man den Reis mäht,
- werden manche schwanger sein –
- Reispflanzerinnen
-
- shôben wa / yoso no ta e shite / sanae-tori
-
- Ihr Wasser lassen sie
- ins Feld eines anderen;
- Reispflanzerinnen.
-
- Im Verlauf des Vortrages über die 24 Yayû-Haiku hatten die Zuhörer Gelegenheit, einige Wesensmerkmale des Haiku
kennen zu lernen:
- Ein Haiku sollte natürlich klingen und nicht in gestelzten Worten verfasst sein (Ulenbrook). Wegen der
Verschiedenheit der Sprachen müssen sich nichtjapanischsprachige Haiku nicht an die 5/7/5-Regel halten. Auch wenn Ekkehard May dafür plädiert, stilbildend oder sogar schulbildend mit eigenen
Regeln aktiv zu werden, hält er doch an einer symmetrischen Struktur kurz/lang/kurz fest, besteht inhaltlich auf den Jahreszeitenbezug und lehnt den „grenzenlosen“ Freestyle ab. Etwas zu
allgemein stand dem die Forderung entgegen, das Haiku solle in seiner Rezeption als Kunstwerk erkannt werden können. Ekkehard May weigert sich im Übrigen standhaft, selbst Haiku zu schreiben.
- In seiner Antwort auf meine Frage nach der Zukunft des deutschsprachigen Haiku wurde deutlich, dass das
deutschsprachige Haiku im offiziellen Diskurs hauptsächlich in den Übertragungen der japanischen Texte, die der Japanologe May in strenger Bindung an die Ausgangssprache vorgestellt sehen
will, wahrgenommen wird. Auf meine Nachfrage nach den Veröffentlichungen in gedruckten Ausgaben und im Internet tröstete mich der Professor mit den Worten, dass das Haiku wie kein anderes
Genre eine literarische Bewegung angestoßen habe und im weltliterarischen Maßstab produktiv geworden und dass das deutschsprachige Haiku auf einem guten Weg sei ... Zum Schluss wurde das
eingangs angedeutete Favoritenquiz ausgewertet, das der Professor für seine Rezeptionsforschung nutzen will. Mehrheitlich entschied sich das Auditorium für das Titel Haiku der „Duft der
Dunkelheit“.
-