Martin Berner
Einige Überlegungen zum deutschen Haiku
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Gerne möchte ich die Anregung von Frau Brüll in der Vierteljahresschrift 2/2001 aufgreifen und ein paar Gedanken zum Stand und zur Perspektive des deutschsprachigen Haiku niederschreiben.

Zuallererst erscheint mir wichtig, Haiku nicht, wie es leider so oft geschieht, vorrangig nach formalen Kriterien zu beurteilen. Ich betrachte Haiku als Poesie (wissend, dass dies nicht unumstritten ist). Stark vereinfachend sehe ich unsere Lyriktradition als weit ausholend, Gefühle beschreibend und metaphorisch. Und da kann das Haiku Neues bringen.

Wollen wir den Versuch wagen aufzulisten, was Haiku keinesfalls ist und was es sein kann

nicht Haiku
 
Haiku
 
banal
surrealistisch/dadaistisch
unverständlich
aphoristisch
Gefühle beschreibend
schwatzhaft
aussagekräftig
möglichst einfache Sprache
leicht verständlich
bildhaft
Gefühle evozierend
präzise

Jetzt kann der Streit losgehen. Etwa: was heißt banal? Ich würde sagen, im Haiku des 21. Jahrhunderts ist die bloße Feststellung, dass ein Zweig Knospen treibt oder dass Knospen aufplatzen und Blüten sich entfalten, banal. Ein Haiku über Knospen oder Blüten, das ernst genommen werden möchte, muss da schon noch was drauflegen. Ich erwarte, und da dürften wir schnell in große Diskussionen mit japanischen oder Japan-orientierten Traditionalisten geraten, dass mir ein Haiku, wenn es von Knospen und Blüten handelt, etwas zeigt, was ich vorher so noch nicht gesehen oder gelesen habe. Da hänge ich unserer Kunsttradition an, die vom Künstler Neuschöpfung erwartet, anders als im fernen Osten, wo sich künstlerische Qualität darin zeigt, dass ein Werk dem anerkannten Spitzenprodukt möglichst nahe kommt.

"Ein Haiku entsteht unmittelbar, im Schauen, im Sichversenken. Es ist nur wahr, wenn es wirklich so erlebt wurde". Nähmen wir solche Reden ernst und sichtete jede/r den reichen Fundus des eigenen Haikuschaffens nach dieser Conditio, es gäbe mit einem Schlag abertausende Haiku auf der Welt weniger. Woher kommt dieses Postulat? Sicher, das Haiku sollte nichts Falsches sagen, aber gerade das "es könnte so gewesen sein" macht doch den Reiz vieler Texte. Es hilft nichts: ist Haiku Poesie, so teilt es mit dieser deren Schicksal: künstlich geschaffenes Produkt zu sein, gründlich bearbeitet, geschliffen.

Die Gegenstände des Haiku: Natur, Jahreszeiten, einverstanden. Das erfrischende am japanischen Haiku ist für mich dieser ganz andere Umgang mit der Natur: sie wird dem menschlichen Dasein nicht entgegengesetzt, sondern als dessen Grundlage gesehen. Dass das klassische japanische Haiku ein Naturgedicht (und, wie ich kürzlich gelernt habe, grundsätzlich auch ein Liebesgedicht) zu sein hat, ist leicht zu erklären und mit etwas gutem Willen zu verstehen. Warum das Haiku des 21. Jahrhunderts sich darauf beschränken soll, kann ich nicht verstehen. Warum soll es keine Haiku über Krankheit und Tod, über Arbeitslosigkeit, Armut und Ehekrach geben (auch wenn die traditionalistischen Haikuschreiber in Japan all dies Unschöne nicht lesen und hören möchten). Zu unserem Leben gehört es dazu, und dann ist es wert, besungen zu werden.

Ein Haiku halte ich dann für gelungen, wenn es so knapp wie möglich etwas ganz Neues oder etwas Bekanntes aus einem neuen Blick- oder Hörwinkel zeigt. Und das "so knapp wie möglich" bringt uns zur Form. Denn damit meine ich, dass kein, aber auch wirklich kein einziges Wort dastehen darf, das nicht notwendig ist für den Inhalt. Und da der sich nicht an Silben orientiert, plädiere ich: lassen wir das mit dem Silbenzählen. Es entspricht nicht unserem Umgang mit Sprache. Wenn, dann zählen wir seit hunderten von Jahren betonte Silben, ich würde es aber nicht für fruchtbar halten, Haiku in ein Schema von zwei -drei- zwei betonte Silben oder wie auch immer zu pressen. Kurz soll es sein, knackig, und kein Wort darf wegstreichbar sein ohne dass der Sinn verloren geht. Haiku sollte in der Regel dreizeilig sein. Aber was tun, wenn schon in zwei Zeilen alles gesagt ist, oder in einer? Na, umso besser, dann war ein Künstler am Werk, der gut überlegt hat: Bravo! Und die Vierzeiler? Mit denen tu ich mich schwer. Glücklicherweise schreiben wenige deutschsprachige Haikudichter/innen in dieser Form.

Wenn wir uns darauf einigen könnten, dass ein Haiku keine unnötigen Wörter enthalten sollte, dann läge nahe: auch keine einzelne Zeile sollte ein unnötiges Wort enthalten oder eines, das im Sinnzusammenhang der vorigen oder nächsten steht. Dies ist es, was mich beim Lesen deutscher Haiku oft verzweifeln lässt: unmotivierte Zeilensprünge zuhauf. Und warum? Nur um ein Schema, ein heiliges 5 - 7 - 5 zu bedienen. Wie viele gute Haiku hat man so zerstückelt und zerfranst gesehen. Dichterinnen und Dichter, warum tut ihr euren Texten solche Schmach an? Natürlich gibt es das dichterische Mittel des Enjambement. Aber mal ehrlich, wie oft trägt es wirklich und wie oft ist es bloß Wichtigtuerei oder Manie?

Warum müssen so viele deutschsprachigen Haiku mit einem Punkt enden? Da reden wir vom Nachhall als Grundprinzip des Haiku (ihn hab ich ausgespart, weil ich nicht so genau weiß, was derselbe nun genau ist) und mit einem dicken, fetten, satten Punkt sagen viele: so, das wars, mehr gibts nicht. Ich könnte mir denken, dass in einzelnen Texten ein Punkt am Ende ein gestalterisches Mittel sein kann. Aber als Regelfall?

Schwieriger wird es mit der Interpunktion innerhalb des Textes. Bindestrich ist beliebt, er soll eine Pause markieren. Aber schauen Sie sich doch einmal Haiku mit Bindestrich genauer an, meinen Sie nicht auch, dass die guten unter ihnen meist gut auf die Bindekrücke verzichten könnten? Ähnlich sehe ich die Ausrufezeichen. Wenn es nötig wird, eine Aussage mit diesem Zeichen als wichtig zu deklarieren, sollte man noch einmal gründlich nachdenken. Schwieriger wird es bei Kommas und Fragezeichen. Nach meinem Gefühl stören sie den Textfluss. Manchmal werden sie zur Klarstellung für notwendig gehalten. Ich hätte am liebsten Haiku ganz ohne Satzzeichen und experimentiere gerne damit. Gerade die sich ergebenden Doppeldeutigkeiten reizen mich.

Groß- und Kleinschreibung: sie wird (leider) nach der neuesten Rechtschreibung beibehalten. Ich sehe wie manche fremdsprachigen Kollegen, dass damit der Fluss des geschriebenen/gedruckten Haiku gestört wird. Das ist nun mal so, und wer korrekt schreiben möchte, muss Nomina groß beginnen lassen. Aber: nicht wenige Haiku erscheinen in der klassischen Form deutscher Gedichte mit Marginalien zu Beginn jeder Zeile. Das haut nun wirklich jedes zarte Gedicht in große Klumpen. Kann das gewollt sein?

Und dann lese ich in diversen Anleitungen zum Haikuschreiben, dass da kein Haiku sei ohne Schneidewort (das sind die japanischen Anleitungen, die haben für sich, dass es in dieser Sprache wenigstens solche Wörter gibt) die nichtjapanischen Breviere meinen einen Schnitt. Und was bitte ist dieser Schnitt? Eine Pause, eine Staupause, heißt es. Aber ist diese Pause nun was fürs Schreiben oder doch eher was fürs laute Lesen? Glücklich die Japaner, die ihre keri oder kana haben. Wir müssen uns als Haikuschreiber darauf verlassen, dass die, die unsere Texte laut lesen, an der richtigen Stelle pausieren, wie wir überhaupt fest darauf vertrauen müssen, dass sie den Sinn unseres Textes richtig verstanden haben und ihn hoffentlich nicht beim Lesen verhunzen. Diesem Risiko unterliegt deutsche Dichtung seit ihren Anfängen. Bis heute konnten wir damit leben, keine Regieanweisungen in Gedichte einzubringen. Das, so meine ich, könnte auch für die nächsten paar hundert Jahre so bleiben. Also: Pause, Staupause, Schnitt oder was gibt der Text vor oder nicht. Auf keri & Co oder Zwangsbindestrich sollten wir weiterhin verzichten.

Aber: in Japan habe ich gehört: Haiku wird vom Senryu geschieden durch den Schnitt. Ersteres hat ihn, letzteres nicht. So schreiben wir also meistens Senryu? Und was, wenn dem so wäre? Solange unsere Texte gut sind und Leser oder Hörer bewegen....

Ein Haiku spielt stets in der Gegenwart. Ach ja?

Und was ist mit Bashos

Nichts
in der Stimme der Zikade sagt,
Wie bald sie sterben wird

Was mich bei meiner ersten Begegnung mit japanischen Haiku fasziniert hat , und diese Faszination hält noch immer an, ist der hohe Grad an Unbestimmtheit, den die japanische Sprache offensichtlich bietet. Wie verschieden sind die Übersetzungen eines und desselben Textes. Im traditionalistischen Haiku, so meine versierte Lehrerin, sollen Verben möglichst vermieden werden. "Das Nomen enthält das Verb". Davon könnten wir was lernen. Lasst uns Haiku möglichst ohne Verben schreiben, ohne Personal-, Possessiv- und sonstige Pronomina. Diese spannende Undeutlichkeit, die dem Leser/Hörer Gestaltungsmöglichkeiten bietet, die wünsch ich mir für unsere Haiku.