Martin Berner
Das Amerikanische Haiku
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Einleitung
 
Das Interesse an Haiku in USA erwachte nach dem zweiten Weltkrieg. Zwar hat H.G. Henderson schon 1934 das Büchlein "The Bamboo Broom(Besen)" veröffentlicht, es blieb aber wirkungslos. Erst die Kontakte zur japanischen Kultur und Lebensart während der amerikanischen Okkupation nach dem Krieg und "der spirituelle Durst nach religiöser und künstlerischer Weiterentwicklung" ( Cor van den Heuvel) machte die Menschen offen für das Neue aus dem fernen Osten. Der wichtigste Wegbereiter war R.H. Blyth, ein Engländer, der lange in Japan lebte und es bis zum Lehrer am japanischen Hof brachte. Sein vierbändiges Werk "Haiku" (1949-1952 veröffentlicht) machte viele Menschen gründlich mit dieser Dichtform vertraut. Blyth nannte das Haiku "eine offene Tür, die verschlossen scheint".
In den späten Fünfzigern und frühen Sechzigern ging diese Saat auf. Die ersten Dichter beschäftigten sich mit Haiku. 1958 publizierte Harold G. Henderson sein Buch "An Introduction to Haiku". Fünf Jahre danach gründete James Bull in Platteville, Wisconsin die erste Haiku-Zeitschrift, "The American Haiku". Sie kam bis 1968 heraus. In diesem Jahr wurde auch die amerikanische Haiku-Gesellschaft gegründet. 1965 wurde eine weitere Zeitschrift gegründet: "Haiku Highlights and other Small Poems, die später unter dem Namen "Dragonfly" (Libelle) erschien. 1967 kamen zwei weitere hinzu: "Haiku West" und "Haiku". 1973 gab es fünf Haiku-Zeitschriften in den USA. 1985 publizierte William J. Higginson "The Haiku Handbook: How to Write, Share and Teach Haiku". Er wurde damit zu einer Art Guru der Siebziger. Die amerikanische Haiku-Gesellschaft hat sich in den neunziger Jahren regionalisiert. Es gibt jetzt Gruppen in vielen Städten des Landes, die selbständig arbeiten, so wie wir es hier ja auch tun. Das zentrale Magazin heisst "Frogpond", es gibt viele regionale Zeitschriften, die sich nur oder auch mit Haiku befassen. Auch in Kanada gibt es eine Haiku-Szene, die sehr eng mit den Amerikanern zusammen arbeitet. Zwar tut sich wie anderswo auf der Welt die Literaturszene schwer mit dem Haiku. Es galt und gilt nicht als richtige Poesie. Trotzdem scheint das Haiku in den USA anerkannter zu sein als z.B. bei uns.
Bei den Haikuschreibern selbst gab es verschiedene Ansichten darüber, was Haiku ist. Amman und Hackett sahen es mehr als Ausdruck von Zen, als "Lebensweg". Sie stützen sich auf Bashos Aussage: "Haiku ist einfach das, was an diesem Ort in diesem Augenblick geschieht".
 
Vorschläge, Haiku auf englisch zu schreiben
 
1. Die Gegenwart ist der Prüfstein der Haiku-Erfahrung, seien Sie sich deshalb immer dieses gegenwärtigen Augenblicks bewusst.
2. Denken Sie daran, dass die Natur Gegenstand (Province) des Haiku ist.(Nehmen Sie ein Notizbuch mit, um ihre Haiku-Erfahrungen festzuhalten)
3. Betrachten Sie Naturobjekte genau...ungesehene Wunder werden von selbst erscheinen.
4. Durchdringen Sie die Natur. Erlauben Sie den Subjekten, ihr Leben auszudrücken. "Das bist du" (That art Thou)
5. Denken Sie über Ihre Naturnotizen in Einsamkeit und Ruhe nach. Machen Sie das zur Basis Ihrer Haiku.
6. Schreiben Sie über die Natur, so wie sie ist...seien Sie wahrhaftig gegenüber dem Leben!
7. Wählen Sie jedes Wort sorgsam. Verwenden Sie Wörter, die deutlich das ausdrücken, was Sie fühlen.
8. Verwenden Sie Verben in der Gegenwart.
9. Um Dimensionen hinzuzufügen, verwenden Sie Verben, die an die Jahreszeit, den Ort oder die Tageszeit denken lassen.
10. Verwenden Sie nur Alltagssprache.
11. Schreiben Sie in drei Zeilen mit insgesamt etwa 17 Silben. Viele Haiku-Erfahrungen können gut in der japanischen Zeilenanordnung 5-7-5 ausgedrückt werden – aber nicht alle.
12. Vermeiden Sie im Haiku Endreime. Lesen Sie jeden Vers laut um sicherzugehen, dass er natürlich klingt.
13. Denken Sie daran, dass Lebendigkeit, nicht Schönheit die wirkliche Qualität des Haiku ist.
14. Verwenden Sie nie dunkle Anspielungen: echte Haiku sind intuitiv, nicht abstrakt oder intellektuell.
15. Vergessen Sie den Humor nicht, aber vermeiden Sie bloßen Witz.
16. Arbeiten Sie an jedem Gedicht, bis es genau das ausdrückt, was Sie die anderen sehen oder fühlen lassen möchten.
17. Denken Sie daran, dass Haiku ein Fingerzeig zum Mond ist, und wenn die Hand juwelenbestückt ist, sehen wir nicht mehr, auf was sie zeigt.
18. Ehren Sie Ihre Sinne mit Achtsamkeit und Ihren Geist mit zazen oder einer anderen Art zentrierender Meditation. Der Zen-Haiku-Geist sollte ein klarer Bergsee sein: nicht Gedanken reflektierend, sondern den Mond und jede Fliege.
19. Arbeiten Sie an jedem Gedicht, bis es genau das ausdrückt, was Sie die anderen sehen oder fühlen lassen möchten.
20. Denken Sie daran, dass Haiku ein Fingerzeig zum Mond ist, und wenn die Hand juwelenbestückt ist, sehen wir nicht mehr, auf was sie zeigt.
21. Ehren Sie Ihre Sinne mit Achtsamkeit und Ihren Geist mit zazen oder einer anderen Art zentrierender Meditation. Der Zen-Haiku-Geist sollte ein klarer Bergsee sein: nicht Gedanken reflektierend, sondern den Mond und jede Fliege.
(J.W. Hackett, in: The Zen Haiku and other Zen Poems, 1983)
 
Henderson machte sich zum Fürsprecher der anderen Richtung, die mittels Haiku Imagination schaffen wollten. Auch sie betonten die Erfahrung eines Augenblicks, legten aber Wert darauf, sie künstlerisch zu bearbeiten. An dieser Auseinandersetzung machte sich auch die Frage nach "einfacher" und "poetischer" Rede fest. Der Ausspruch von Blyth, dass ein juwelenbesetzter Finger, der auf den Mond zeigt, den Betrachter ablenkt, war das Panier der Zen-Vertreter.
 
Cor van den Heuvels Definition des Haiku:
 
Ein Haiku ist nicht einfach ein schönes Bild in drei Zeilen mit 5-7-5 Silben. Die meisten englischen Haiku sind alles andere als in 5-7-5 Silben geschrieben – viele nicht einmal in drei Zeilen. Ein Haiku zeichnet sich aus durch Kürze, Erkenntnis und Achtsamkeit– nicht durch die Silbenzahl. Ein Haiku ist ein Kurzgedicht, das das Wesen eines sorgsam wahrgenommenen Augenblicks wiedergibt. Eines Augenblicks, in dem die Natur mit dem menschlichen Leben verknüpft ist. Wie Roland Barthes festgestellt hat, soll dieses Wiedergeben weder beschreiben noch definieren, sondern "einzig und allein benennen". Das Gedicht wird zum Prüfstein der Suggestivität. Im Geist eines aufmerksamen Lesers öffnet es sich wieder zu einem Bild das unmittelbar und greifbar ist, und mit dem Sinnengenuss pulsiert, der die Überzeugung beinhaltet, dass man eins ist mit allem, was existiert. Ein Haiku kann aus ganz wenigen bis siebzehn Silben, selten mehr, bestehen. Man weiß inzwischen, dass etwa 12, nicht siebzehn englische Silben der Länge von siebzehn onji im japanischen Haiku entsprechen. Viele Dichter schreiben noch viel kürzer. Die Resultate passen nachgerade wörtlich in Allan Watts Beschreibung des Haiku als "wortlose" Gedichte. Solche Gedichte mögen für den Uneingeweihten platt und leer erscheinen. Aber trotz ihrer Einfachheit können Haiku vom Schreiber und Leser viel fordern. Sie sind zugleich die am leichtesten zugängliche und die am meisten verschlossene Form der Dichtung. R.H. Blyth, dieser bedeutende Übersetzer japanischer Haiku, hat einmal geschrieben, Haiku sei "eine offene Tür, die verschlossen scheint". Um zu sehen, was in einem Haiku ausgedrückt wird, muss sich der Leser in den kreativen Prozess mit einschalten, muss bereit sein mitzugehen und die Echos, die die Wörter in sich tragen mit aufzunehmen. Den Schwerpunkt falsch gesetzt oder zuwenig Achtsamkeit, und er sieht nur die geschlossene Tür.
(zit. nach Cor van den Heuvel, The Haiku Anthology, New York 1999, übersetzt von Martin Berner)
Auch in Amerika wird die Frage nach der Unterscheidung zwischen Haiku und Senryu heftig diskutiert. Auch dort gibt es keine einhellige Meinung. Mein Eindruck ist, dass die Amerikaner lockerer mit den Grenzen umgehen, das wird in der Auswahl von Texten, die ich vorstellen werden, deutlich. Wobei ich eines dazu sagen muss: ich selbst halte die Unterscheidung für wenig bedeutend. Mich interessieren Texte, die mehr zeigen als eine aufplatzende Knospe. Deshalb verzeihen Sie mir, wenn ich sehr subjektiv ausgewählt habe.
Was die Silbenzahl angeht, so gibt es wenige amerikanische Haikudichter, die sich an die 5-7-5 halten. Hackett hat das sehr streng getan, die meisten schreiben sehr viel kürzer. Diese Beobachtung können wir auch bei englischen Haiku machen.
In den siebziger und achtziger Jahren tauchten immer mehr einzeilige Haiku auf. Sie waren sehr umstritten und ihre Vertreter verwendeten viel Kraft darauf, ihre Anerkennung als Haiku durchzusetzen. In dieser Zeit wuchs auch das Interesse an Renga, Renku und Haibun. Letzteres fand allerdings wenig Anklang. Auch das Themenspektrum wurde breiter: es gibt jetzt auch erotische und sehr viel mehr, die sich mehr mit Fragen des menschlichen Miteinander beschäftigten. Cor van den Heuvel schlug vor, sie "ernste Senryu" zu nennen.
 
Zur Geschichte des amerikanischen Haiku
 
Haiku wurden im englischen Sprachraum vor allem durch das vierbändige Werk "Haiku", veröffentlicht 1949 bis1952 von R.H. Blyth bekannt. Blyth hat viele Jahre in Japan gelebt und war zeitweise Privatlehrer am Kaiserhof. Daneben haben noch die Bücher "The Japanese Haiku" von K. Yasuda (1957) und "An Introduction to Haiku" von H.G. Henderson (1958) beigetragen, die Literaturgattung bekannt zu machen. Zuvor, 1934, hatte Henderson schon das Büchlein "The bamboo broom(Besen)" veröffentlicht, es blieb aber ohne nachhaltige Wirkung.
1963 wurde die erste englischsprachige Haiku-Zeitschrift gegründet: American Haiku. An ihr wirkten u.a. J.W. Hackett, Nocolas Virgilio, Mabelson Norway und Lerry Gates mit. Sie bestand bis 1968 und erschien zwölf mal. In diesem Jahr wurde auch die American Haiku-Society gegründet. 1965 und 1967 wurden insgesamt drei Haiku-Zeitschriften gegründet. Inzwischen gibt es mindestens fünf Haiku-Zeitschriften in den USA, und das Zeitalter des Internet hat Haiku weiter vorangebracht. Wie in anderen Ländern auch wurden Haiku in den USA von der offiziellen Literaturszene kaum wahrgenommen oder als nette Spielerei betrachtet.

 

George Swedes Anregungen

 

zur Definition des englischen Haiku
Swede sammelte die Kriterien, die von Blyth (1949), Yasuda (1957), Henderson (1958,1967), Giroux(1974), Yuasa(1974) Ueda (1976, 1991), Higginson(1985) und van den Heuvel(1986) genannt waren.
 
1. Kriterium: Haiku ist ein Gedicht, das kurz ist
 
Dieses Kriterium hat zwei Folgesätze:
a) es sollte siebzehn Silben umfassen
b) wenn es gesprochen wird, sollte es etwa
    so lang wie ein Atemzug sein
Swede stellt fest, dass Kürze unumstritten ist. Schwieriger wird es mit der Silbenzahl. Er zeigt, dass verschiedene Texte mit gleicher Silbenzahl grosse Unterschiede im Wortumfang und im Sprechtempo haben können, abhängig davon, ob Silben mit wenigen oder mit mehr Konsonanten darin vorkommen. Diese Unterschiede gibt es in vielen Sprachen. Im Japanischen bestehen die Silben meist aus einem Konsonanten und einem Vokal. Swede weist auf eine weitere Schwierigkeit der Silbenzählung hin: japanische onji sind etwas anderes als unsere Silben: so kann ein langer Vokal als zwei onji gezählt werden. Wir würden dies als eine Silbe ansehen. Das hat Auswirkungen auf die Zahl der Wörter in einem Text. Ein japanisches Siebzehn-Silben(onji)-Haiku hat fünf oder sechs Wörter, Swedes Beispiele zehn und fünfzehn. Sie sind also für japanischen Geschmack sehr lang. Nicht umsonst stellt er fest, dass 80% der in Anthologien publizierten amerikanischen (englischsprachigen?) Haiku weniger als siebzehn Silben zählen. Sein Schluss: nur die "Atemzuglänge" bleibt als Maßstab.
 
2. Kriterium: Das Haiku sollte in drei Zeilen angeordnet werden
 
Dieses Kriterium hat einen Folgesatz:
Die drei Zeilen sollten im 5-7-5-Silbenschema angeordnet werden
Dieses Kriterium hält Swede für unwesentlich. Er verweist auf die einzeilige/spaltige japanische Schreibweise. Die Unmöglichkeit, Übersetzungen ins Englische in einer Zeile unterzubringen haben frühere Übersetzer veranlasst, Haiku dreizeilig wiederzugeben. Auch wenn die meisten Haiku immer noch dreizeilig geschrieben würden, so sei das kein notwendiges Merkmal.
 
3. Kriterium: Haiku ist ein Gedicht, das eine Erfahrung von Ehrfurcht oder transzendentaler Einsicht beschreibt
Swede hält dies für das sine qua non von Haiku und ist sich der uneingeschränkten Zustimmung aller Haikuschaffenden sicher. Die Frage, wie sich die klare Bewusstheit (oder "ahness", wie Swede schreibt) vom Haiku und anderer Kurzlyrik unterscheidet, versucht er mit Beispielen zu beantworten.
Das Beispiel- Epigramm:
Ich bin der Hund derer von Hohenstein
sagt ehrlich Herr, wes Hund mögen Sie wohl sein
(Alexander Pope, frei übersetzt von M.B.)
enthüllt etwas, führt aber nicht zum "ah", sondern zum "aha".