Mutterland

...fast schon als Eindringling

 

 

 

 

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"Na ja, das ist natürlich schon was Rätselhaftes mit dem Loslassenkönnen und Hergebenkönnen - müssen sowieso, da wirst'e nicht gefragt, aber das auch zulassen können...."

1993: meine Mutter zeigt mir ihre frühere Heimat, ein Dorf bei Dresden, das von Kindheit an aus unzähligen Familiengeschichten in meinen Vorstellungen lebendig ist.
Nach Enteignung ihres Elternhauses durch den DDR-Staat und einschneidender Repressalien, war sie mit ihrer Familie vor 40 Jahren nach Westdeutschland geflüchtet.

Es ist die Entwurzelung meiner beiden Eltern mit der ich groß geworden bin. Ihre Herkunft lag in meiner Fantasie, in einem hermetischen Land, in das es kein Zurück mehr geben konnte
Jetzt, "nach der Wende" ist alles anders. Als meine 96-jährige Großmutter im vergangenen Sommer starb, wurde sie auf den Friedhof in ihrem Heimatort überführt und beerdigt - 200 Meter von der Stelle entfernt, wo sie vor fast 50 Jahren auf das Inferno, ihre zerbombte und brennende Stadt Dresden im Talkessel schauten. Meine Mutter war damals ein Kind, ihre Verwandten irgendwo da drinnen.

Die Orte meiner kindlichen Vorstellungen sehe ich jetzt erschreckend konkret - mit dem Zauber all ihrer Geschichten behaftet und gleichzeitig banal und befremdlich.
Von den Hässlichkeiten Dresdens, mit dessen Mythos ich aufwuchs, bin ich enttäuscht. Vor dem Haus, in dem meine Mutter groß wurde, stehe ich zum ersten Mal: seine Trostlosigkeit hat nichts mit meinen blühenden und dramatischen Visionen der Kindheit meiner Mutter gemeinsam. Mein Großvater, Baumeister, hatte es für seine Familie gebaut - ein schlichtes Siedlungshaus, dem die späteren Umbauten nicht gut getan haben.
Wir besuchen das frische Grab der Großmutter. In den Erinnerungen meiner Mutter, die am Grab und in der vertrauten Landschaft auftauchen, liegt auch eine besondere Identifikation: Sie ist jetzt in demselben Alter wie ihre Mutter damals, als sie aufbrachen und alles zurücklassen mussten.

Was ist geblieben von der früheren Verwurzelung, dem alten Trauma - deckt sich die Erinnerung noch irgendwo mit der Wirklichkeit - gibt es Platz für meine Mutter in der Gegenwart ihres damaligen Ortes? Gewinnt Heimat erst durch den Verlust Sinn oder Überhöhung? Was heißt Verbundenheit - was Sentimentalität und Verstrickung?

Meine Mutter bemüht sich um die Rückgabe des Hauses, in dem seit 20 Jahren neue Eigentümer leben.
Was sucht sie in diesem Ort, der mir Beklemmungen verursacht?
Könnte das alte Unrecht durch neue Enteignung versöhnt werden?