Ein Interview von Anne
Müller mit Katja Baumgarten zum Film MEIN KLEINES KIND
Autorin: ANNE MÜLLER,
Redaktion: WOLFGANG
KÜPPER, Bayrischer
Rundfunk Kirchenfunk
MUSIKAKZENT
KATJA BAUMGARTEN:
Ich glaube, ich habe NICHT ENTSCHIEDEN.
Ich habe es einfach geschehen lassen und die Zeit ist weiter gegangen
- ich habe mich halt nicht gegen mein Kind entschieden, das schon,
aber für mein Kind hatte ich mich ja von Anfang an entschieden.
MUSIKAKZENT
SPRECHERIN:
Ein
Sommertag im Park. Auf einer Bank sitzt eine Frau mit langen, dunklen
Haaren im roten T-Shirt. Die Tränen laufen ihr ununterbrochen
über die Wange, die Stimme ist brüchig, aber dennoch klar.
Die Frau redet - in eine Kamera. Es ist Katja Baumgarten, Mutter von
drei Kindern, seit kurzem allein erziehend, von Beruf Hebamme und
Filmemacherin, die an diesem Junitag vor inzwischen vier Jahren -
mit ihrem vierten Kind schwanger - auf der Parkbank sitzt und der
Kamerafrau und Freundin Gisela Tuchtenhagen unter Tränen erzählt,
was sie bedrückt. Eine bewegende Szene aus dem Dokumentarfilm
"Mein kleines Kind", der bei der diesjährigen Berlinale
Weltpremiere hatte. Katja Baumgarten weint in dieser Szene, weil sie
gerade vor vier Tagen in der Mitte der Schwangerschaft eine Ultraschalluntersuchung
hat machen lassen und nun mit der Diagnose zurechtkommen muss. Während
sie stolz ihr kleines Baby im Ultraschall betrachtete, ergab sich
für den Facharzt für Pränataldiagnostik ein ganz anderes
Bild. Katja Baumgarten schreibt dazu in ihr Tagebuch, das dem Film
als Kommentar unterlegt ist:
ZITAT: "Zwei
Wirklichkeiten - ein Bild
Schweigsam fährt
der Facharzt für Pränataldiagnostik mit dem Ultraschallkopf
im kühlen Gel auf meinem Bauch herum. Ich sehe mein Kind schwarzweiß
auf dem Bildschirm: alles ist dran ... es gefällt mir, wie es
sich bewegt, den Messungen des Arztes ausweichend, ein stiller Einklang.
(...)
Der Arzt antwortet einsilbig auf meine Fragen, vertröstet mich
auf später. Ich bleibe arglos. Hinterher erfahre ich, dass der
Arzt ein völlig anderes Kind gesehen hat, als ich selbst: Er
hat einen dem Tod geweihten Fötus untersucht, mit vielfältigen
Störungen, wie er sie so nur selten diagnostiziert. Ich habe
mein Kind gesehen, mit Freude und Stolz, das für mich vollkommen
war, weil ich seine Abweichungen vom Normalen im Bild des Monitors
nicht erkennen konnte.
Im ersten Moment bin ich entsetzt über diese zwei verschiedenen
gleichzeitigen Wirklichkeiten. (...) Im Nachhinein weiß ich:
die beiden unterschiedlichen Sichtweisen sind erhalten geblieben."
KATJA BAUMGARTEN: Der Arzt hat mir erst genau erklärt, was
alles nicht in Ordnung ist und nicht so gewachsen ist, wie es soll.
Er hat mir das sehr respektvoll erklärt. Dafür war ich dankbar,
weil ich das aus meiner Hebammenausbildung und meiner Tätigkeit
als Hebamme kenne, dass Ärzte manchmal sehr geringschätzig
über Kinder sprechen, die nicht gesund gewachsen sind. Das hat
er nicht getan, er war sehr sachlich.
Er hat mir aber gleich gesagt, nachdem er mir erklärt hatte,
was alles nicht gesund ist: "So, und jetzt müssen Sie entscheiden,
wie es weitergeht." Ich wusste gar nicht, was er meinte. Er meinte,
dass dieses, was er jetzt diagnostiziert hatte, eine Indikation für
einen Schwangerschaftsabbruch aus medizinischer Indikation ist. Und
ich müsse jetzt entscheiden, ob ich das Kind weiter tragen möchte
oder nicht. Das kam alles gleichzeitig. Ich hatte noch gar nicht verdaut,
dass mein Kind gar nicht gesund ist und dann sollte ich gleich entscheiden,
ob es überhaupt weiterleben soll.
Ich habe genauer nachgefragt. Dann hat er mir eben erklärt, dass
sich Eltern normalerweise in so einer Situation entscheiden, dass
das Kind nicht weiterleben soll. "Und umgekehrt?", habe
ich gefragt. "Wenn ich mein Kind weiter leben lasse?" "Dann,"
hat er gesagt, "gehört es sofort in die Hände eines
erfahrenen Kinderarztes." Das habe ich mir fast wörtlich
gemerkt, denn ich habe gleich gedacht: na gut, es hat keine Chance,
dann soll es bei mir bleiben und sein Leben friedlich zu Ende leben.
Er meinte, wenn es geboren wird, dann muss es im Krankenhaus geboren
werden und sofort auf eine Intensivstation verlegt werden. Davor hatte
ich unheimliche Angst, genauso wie vor dem Schwangerschaftsabbruch,
weil es dann ja in jedem Fall von mir weggenommen wird.
MUSIKAKZENT
KATJA BAUMGARTEN:
Es ist einfach der Stil wie diese pränataldiagnostischen Untersuchungen
vor sich gehen. Ich glaube, der Arzt hat auf seine Weise seine Sache
sehr gut gemacht. Er hat sich sehr viel Zeit genommen, er hat mir
auch angeboten, dass er mir das alles noch mal zeigt.
Ich war natürlich erst auch schockiert, dass er mir seine Disgnose
nicht gleich gesagt hat, als ich da lag und ihn gefragt habe: "Was
sehen Sie da?" Da hat er erstmal ausweichend geantwortet. Ich
habe hinterher gedacht: Meine Güte, der sieht da ein ganz anderes
Kind, er sieht schon alles. Ich freue mich an meinem Kind und bin
stolz und er sieht, das Kind wird bald sterben. Das hat mich völlig
geschockt, dass wir ganz woanders waren und er mir das hinterher alles
so geballt serviert hat.
Sofort zu entscheiden, das fand ich viel zu schnell - dass die Frage
sich gleich dran anschließt. Denn erstmal muss man das ja überhaupt
mal sacken lassen, was da vor sich geht. Plötzlich hat man das
Gefühl, es ist wie in mein Belieben gestellt, ob das Leben von
diesem Kindchen noch einen Sinn hat oder nicht. Also, als wäre
es sowas Sentimentales von mir, dass ich es noch weiterleben lasse
- oder ich finde es sinnlos, dann muss es sterben. Das hatte plötzlich
sowas Beliebiges und das hat mich auch extrem angegriffen.
SPRECHERIN: Die Diagnose lautet:
"Komplexes Fehlbildungssyndrom mit Verdacht auf Chromosomenanomalie".
Der Fötus hat einen Herzfehler, einen offenen Rücken, Fehlstellungen
der Gelenke und besondere Veränderungen im Gehirn.
Die Summe der Fehlbildungen bedeutet, dass - wenn das Kind überhaupt
lebend zur Welt käme - es nicht lange leben würde. Der autobiografische
Dokumentarfilm "Mein kleines Kind" begleitet die werdende
Mutter bei ihrer Suche nach einer Lösung. Katja Baumgarten schreibt
dazu in ihr Tagebuch:
ZITAT: "Noch als ich dem Facharzt
gegenübersitze, taucht reflexartig die Idee zu diesem Film auf.
Eine Art Notwehr: Das, was jetzt passieren wird, ist in jedem Fall
zu groß für mich. Dokumentation als Zeugnis, wo die Orientierung
im inneren Chaos verloren zu gehen droht.
Ein Bedürfnis, die Not dieser Entscheidung nicht für immer
für mich zu behalten, sondern irgendwann ins Öffentliche
zurückzugeben, was gewöhnlich in allgemeiner Verschwiegenheit
im Privaten vollzogen wird."
SPRECHERIN: Katja Baumgarten hatte
das Gefühl, dass in dem Moment der Diagnose gemeinsam mit dem
Arzt die gesamte Gesellschaft einen Schritt zurücktrat und sie
sich ganz selbst überließ:
KATJA BAUMGARTEN: Der Arzt hat
versucht, sich neutral zu verhalten - er hat das auch gesagt, er möchte
sich neutral verhalten. Er hat mir ganz sachlich alles erklärt,
hat aber keine Stellung bezogen, in keiner Hinsicht.
Ich habe das so empfunden, dass mit ihm - also gar nicht er persönlich,
sondern als Haltung für eine bestimmte Umgangsweise - habe ich
das Gefühl gehabt, "alle" treten einen Schritt zurück
und ich stehe jetzt da und habe das Recht und auch die Pflicht über
das Kind zu entscheiden.
Mit dieser unausgesprochenen Botschaft, dass egal, wie ich mich entscheide
- also auch wenn ich mich entscheide, dass das Kind weiterlebt - dass
ich dann auch selbst Schuld habe, wenn ich das nicht schaffe, dass
mich das zuviel Kraft kostet und dass ich diesen Anforderungen gar
nicht gewachsen bin.
Der Arzt hat mir nicht als allererstes einen Zettel gegeben, wo vielleicht
Beratungsinstitutionen draufstehen. Wo draufsteht, was man für
eine Hilfe bekommt, als alleinstehende Mutter von drei weiteren Kindern,
wo das vierte Kind dann krank ist. Alle diese Sachen, die man ja vielleicht
machen könnte als allererstes, das war gar nicht - das Erste
war eben: "Sie müssen entscheiden, ob das Kind jetzt schon
stirbt oder später in die Intensivstation kommt." Das finde
ich im nachhinein zu schnell und auch eine Zumutung für eine
Mutter.
ANNE MÜLLER:
Ist das nicht vielleicht sehr symptomatisch für unsere Gesellschaft,
wo nichts so richtig reift, heranwächst, wo auch Prozesse nicht
so richtig wachsen oder reifen dürfen. Also Sie haben sich ja
eigentlich Zeit gelassen für die Entscheidung und haben diese
Entscheidung dann im wahrsten Sinne wachsen lassen.
KATJA BAUMGARTEN:
Normalerweise entscheiden Frauen in diesem Schock sehr schnell. Oft
nehmen die Ärzte sofort den Hörer in die Hand, reservieren
ein Bett im Krankenhaus und drei Tage später ist schon alles
"über die Bühne".
Das Erlebnis arbeitet ja dann trotzdem in einem weiter. Oft habe ich
von Frauen gehört, die hinterher gesagt haben: "Das ging
alles viel zu schnell!" Sie haben im Schock entschieden und sind
gar nicht zu sich gekommen. Das wusste ich, dass ich da vorsichtig
sein musste.
Man ist ja auch erstmal sehr angegriffen, in verschiedener Hinsicht.
Man merkt, man verliert sein Kind - also dieser Schreck, dass man
sich wirklich von dem Kind verabschieden muss, dass man das lernt
- egal wann es sein wird.
Aber auch persönlich, dass man sich angegriffen fühlt -
dass in mir etwas so schief gegangen ist. Das ist auch schwer auszuhalten.
Ich kann mir vorstellen, dass in so einem Schock, dass man merkt,
da ist etwas "nicht in Ordnung mit einem" - 'wieso konnte
sich das Kind nicht gut in mir entwickeln?' - dass es einen Kurzschluß
bei vielen gibt, das Kind gar nicht mehr zu akzeptieren: Das ist wie
eine Verletzung für einen selbst, dass da etwas schief gegangen
ist. Da brauchte ich ein paar Tage, um wieder klar zu werden und zu
sehen: gut das ist jetzt das Schicksal von diesem Kindchen, aber das
kann immer passieren.
SPRECHERIN: Die emotionale Wucht
und Stärke des Dokumentarfilms "Mein kleines Kind"
liegt darin, dass die Zuschauer ganz nah am Entscheidungsprozeß
dran sind und an der verzweifelten Suche nach einem Ausweg aus einem
Dilemma teilnehmen.
Vorzeitige Beendigung der Schwangerschaft? Das, was so harmlos klingt,
ist eine unglaublich schmerzhafte Angelegenheit. Das wusste Katja
Baumgarten als Hebamme. Der sehr gewalttätige Eingriff - sowohl
für die Mutter als auch das Kind - kam für Katja Baumgarten
nicht in Frage.
Das Kind austragen und sofort in die Kälte der medizinisch-technisierten
Welt übergeben? Ebensowenig.
KATJA BAUMGARTEN: Die Tage sind
verstrichen - jeder Tag war schrecklich. Das morgens Aufwachen, ich
hatte eine Aufruhr im Magen - es war schrecklich. Als hätte ich
eine extreme Prüfung vor mir. Ja, völlig aufgewühlt,
ich hatte das Gefühl, ich werde nie mehr wieder normal, das wird
immer so schlimm bleiben. Ich hatte das Gefühl, ich kann diesem
auch gar nicht entrinnen. Egal, was ich mache, hatte ich das Gefühl,
es wird schrecklich sein. Entweder dieser Schwangerschaftsabbruch
oder das Kind austragen und dann in die Intensivstation. Ich wusste
gar nicht, wo das hinführen kann. Ich fand eigentlich alles schrecklich.
Aber gleich bei diesem Arzt - da war auch eine ganz schmale, zarte
Spur, dass ich dachte: 'das Kind wird zuhause zur Welt kommen und
einfach in Frieden sterben.'
Ich habe ihn auch gleich darauf
angesprochen, ob das denn nicht auch eine Möglichkeit ist. Da
hat er sofort gesagt: "Das geht auf gar keinen Fall, Sie werden
niemanden finden, der sie unterstützt, denn das ist unterlassene
Hilfeleistung." Wir haben noch darüber gesprochen, wie absurd
das eigentlich ist, dass es einerseits jetzt ruhig sterben kann, wenn
ich mir das nicht zutraue, aber andererseits darf es nicht in Ruhe
sein Leben zuende leben, ohne manipuliert oder behandelt oder medizinisch
versorgt zu werden - je nachdem, wie man es ausdrückt.
SPRECHERIN: Und
gleichzeitig war da für Katja Baumgarten eine ganz andere Realität,
nämlich die ihrer Schwangerschaft, das ganz konkrete Spüren
und Fühlen, wie jemand in einem heranwächst, sich bemerkbar
macht, seinen Platz beansprucht.
KATJA BAUMGARTEN: Ja, ich habe
mich schon so gefühlt wie in zwei Welten, denn einerseits in
meinem Bauch drin das Kind, das war ganz in Ordnung alles, auch das
Gefühl, wie ich mich gefreut habe, wenn es gestrampelt hat, das
war immer wie so eine kleine Begrüßung und daran hat sich
gar nichts geändert. Daüber habe ich mich genauso gefreut
wie vorher und das war so etwas Vertrautes, so ein Einklang.
Und dann eben dieses rationale Wissen, das was ich dann auch im Ultraschall
gesehen habe, dass ich über mein Kind wusste, es wird nicht lange
leben und ich werde mich von ihm verabschieden müssen.
Das war eine große Spannung,
das auszuhalten. Aber Entscheiden kann man das nicht nennen. Ich habe
gesucht, was meine Aufgabe ist.
Klein-Martin hatte da auf seine Weise auch so eine Überzeugungskraft,
dass ich mir überhaupt nicht vorstellen konnte, wie das werden
würde, wenn ich ins Krankenhaus gehe und sie den Wehentropf anschließen
und dann wird die Geburt eingeleitet. Das hatte etwas ganz Abstraktes,
Absurdes irgendwie, das zu machen. Das passte gar nicht.
Ich hatte das Gefühl, da muss ich uns ganz große Gewalt
antun - das ist ja auch so. Und ich hatte ganz große Angst vor
der Gewalt. Egal, ob es diese Gewalt ist, also diese vorzeitige Geburtseinleitung
oder die Gewalt später, wenn medizinisch eingegriffen wird. Ich
hatte das Gefühl, beides ist das Verkehrte, und das Kind wird
gestört und für das kurze Leben dann noch ganz durcheinander
gebracht.
Wirklich entschieden
habe ich mich nicht, das kann man eigentlich nicht sagen, weil das
Kind war ja da, die Existenz gab es ja und indem man schwanger ist
und auch 'Ja' dazu sagt, ist man schon entschieden. Ich habe mich
dann nicht noch mal nachträglich dagegen entschieden. Aber das
war eigentlich keine Entscheidung, sondern es ist so geblieben wie
es war. Ich habe diese Forderung nicht angenommen, über mein
Kind zu entscheiden oder über das Leben zu entscheiden.
Aber ich habe mir sehr intensive Gedanken gemacht, um meine Aufgabe
zu finden, was ich diesem Kind Gutes tun kann, wo ich das Gefühl
habe, dass ihm in seinem kleinen Leben noch das Bestmögliche
geschieht. Ich habe mir sehr genaue Vorstellungen gemacht, wie ich
die Schwangerschaft und auch die Geburt gestalte. Man kann sich ja
manches vornehmen und vorstellen, aber es muss nicht eintreffen -
aber es ist genau so gekommen, wie ich mir das in meinen größten
Wünschen vorgestellt hatte.
SPRECHERIN:
Katja Baumgarten entscheidet sich für eine Hausgeburt,
nachdem sie eine vertraute Frauenärztin und den befreundeten
Hausarzt zunächst überzeugt und dann als Verbündete
gewonnen hat. Sie will ihr Kind in Frieden zuhause gebären und
ihm so wenig Eingriffe wie möglich, nur das Nötigste zumuten.
Der Film zeigt diese Hausgeburt auf sehr diskrete Weise: Den Kreis
von helfenden Menschen um die werdende Mutter und die Freude aller
über die Geburt des kleinen Martin. Die Geschwister sind aufgeregt
und streicheln sanft ihrem kleinen Bruder über den Kopf. Diese
Szene gehört mit ihrer Behutsamkeit, Zärtlichkeit und Freude
zu den Rührendsten im Film.
In diesem Moment wird auch verständlich, warum die Filmemacherin
ihr Kind nicht auf eine Intensivstation geben wollte. Katja Baumgarten
selbst wirkt in der Szene überglücklich, ein Glück,
das vielleicht noch über das Mutterglück hinausgeht, da
sie so sehr für diesen Moment gekämpft hat und sich gegen
alle Widerstände dafür eingesetzt hat.
MUSIKAKZENT
ANNE MÜLLER:
Kann man sagen oder haben Sie es selber so erlebt, dass Sie einfach
für die Würde des Kindes und auch ihre eigene Würde
sich letztlich richtig entschieden haben?
KATJA BAUMGARTEN:
Ja, auf jeden Fall. Gerade im Nachhinein, als das noch bewußter
werden konnte, da war ich richtig schockiert, in welcher Lebensgefahr
nicht nur Klein-Martin, sondern auch wir alle geschwebt haben. Ich
hatte das Gefühl, wenn ich mich gegen meinen Sohn entschieden
hätte, dass daraus etwas sehr Heilloses entstanden wäre,
was nicht mit der Geburt abgeschlossen gewesen wäre, sondern
was ich mit mir herumgetragen hätte und wahrscheinlich auch meine
Kinder mit ihrem Bruder. Also ich hätte es mit mir rumgetragen,
solange ich lebe - denke ich mal. Das sind Sachen, die man vielleicht
nicht bewußt als Gedanken mit sich trägt. Ich hatte das
Gefühl, es wäre wie ein düsterer Schatten, dass einen
das begleitet. Und jetzt auf diese Weise habe ich das Gefühl,
dass Klein-Martin sehr respektvoll eines meiner Familienmitglieder
ist und wir auch jetzt sehr liebevoll an ihn denken und er nicht ausgeschlossen
worden ist.
ANNE MÜLLER:
Ich spreche deshalb auch von der Würde, weil das Kind ja nicht
lange gelebt hat, nur dreieinhalb Stunden. Man sieht ja auch das Bild
des Todes im Film, also des toten Kindes, das auf ihrem Bauch liegt
und sehr liebevoll von Ihnen gestreichelt wird. Wo Geburt und Tod,
Leben und Tod so nah beieinander sind, aber alles so in ganz großer
Liebe und Würde passiert ist. Das fand ich sehr beeindruckend
an dem Film und fand ich auch eine schöne Botschaft.
KATJA BAUMGARTEN:
Ja, Klein-Martin hat uns ja auch sehr viel beigebracht. Mit dieser
scheinbar kurzen Existenz hat er ja ganz tiefe Fragen mit seinem Dasein
so gestellt, wo man sich innerlich damit beschäftigen musste:
'was sind denn die Lebenswerte, auf die es ankommt?' Da hat er uns
unglaublich viel beigebracht. Zum Beispiel die eine Frage - viele
Leute sagen ja immer: "das ist ja ein kurzes Leben" - aber
diese drei Stunden und auch die Zeit der Schwangerschaft, das war
so intensiv und sowas Eigenes und Besonderes, das ist jenseits von
lange und kurz. Ich fand es war einfach eine eigene Existenz. Da stellt
sich für mich jetzt nicht mehr die Frage, ob das zu lange oder
zu kurz oder genug oder zu wenig ist - das war eben sein Wesen und
ich habe das Gefühl, dass - auf eine bestimmte geistige Art und
Weise - er da etwas sehr Intensives in unser Leben gebracht hat.
SPRECHERIN:
Im Film "Mein kleines Kind" ist auch die Mutter
von Katja Baumgarten, mit der sich die Filmemacherin bespricht, austauscht,
dann als liebe, helfende Oma bei der Geburt, immer wieder im Bild.
ANNE MÜLLER: Es gibt ja noch
eine Vorgeschichte zu dem Ganzen, nämlich, dass Ihre eigene Mutter
eine Todgeburt hatte und damit in dem Krankenhaus nicht gut umgegangen
wurde und Ihre Mutter eigentlich zeitlebens darunter gelitten hat.
KATJA BAUMGARTEN:
Was ja auch sehr schrecklich ist, ist dieses große Tabu
um den Tod sowieso, aber umso mehr in Hinblick auf kleine Kinder und
die vorgeburtliche Zeit. Also der Tod und Babies, das ist ein Riesentabu.
Als ich klein war, ich war damals vier, war meine Mutter mit meinem
kleinen Bruder schwanger und kurz vor dem Entbindungstermin ist er
in ihrem Bauch gestorben. Sie hat ihn dann zur Welt gebracht und es
war eine ganz schreckliche Zeit für sie. Sie konnte da auch später
nie drüber sprechen, weil ihr gar nicht begegnet wurde. Sie hat
das Kind auch gar nicht gesehen, das wurde in einem Plastikeimer rausgetragen
und als sie die Hebamme gefragt hat: "Wie hat es denn ausgesehen?"
hat die gesagt: "Ja, meinen Sie, ich schaue mir das auch noch
an!?" Das hat meine Mutter bis heute nicht vergessen.
In den 60er Jahren wurde darüber nie gesprochen oder es wurde
meiner Mutter allenfalls noch gesagt: "Sei froh, wer weiß,
was mit dem Kind war", und so ... also sie konnte gar nicht offen
trauern oder diesen Verlust richtig würdigen: ihr Kind hatte
keinen Namen, es wurde nicht beerdigt, ja, es hieß immer "Nummer
Zwei". Eigentlich erst in den letzten Jahren ist das anders,
dass meine Mutter auch über meinen kleinen Bruder sprechen kann,
aber sie hat auch bis heute sehr darunter gelitten, eine unglaubliche
Trauer.
SPRECHERIN:
Katja Baumgarten ist ihren eigenen Weg gegangen und hat
sich dabei nicht beirren lassen, das zu tun, was sie für das
Kind, sich selbst und ihre Familie für das Richtige hielt.
KATJA BAUMGARTEN: Ich habe es als
mein Kind für mich angenommen und beschützt und behütet,
eben was man mit seinem Kind macht. Ich habe es nicht irgendwie einem
Experten überlassen, es mir aus der Hand zu nehmen. Ich habe
es mir nicht aus der Hand nehmen lassen und das ist im Nachinein für
mich eine große Beruhigung, dass wir eben alle unser Bestes
gegeben haben, auf unsere Weise und dass er die Zuneigung bekommen
hat und nicht noch inturbiert worden ist oder irgendsowas, dass er
in Ruhe auf meinem Bauch gelegen hat und ganz viel Friedlichkeit und
Ergebenheit ausgestrahlt hat.
Ich wusste ja nicht, wie das werden wird. Ob er vielleicht leidet
und wir da etwas unterlassen, was er dringend gebraucht hätte.
Darüber hatte ich mit den Ärzten gesprochen, dass ich möglichst
wenig Eingriffe möchte und das haben sie auch respektiert, aber
es war dann auch wirklich nicht notwendig - man hatte nicht das Gefühl,
ihm fehlt jetzt noch etwas, was wir ihm dringend geben müssten
oder so.
ANNE MÜLLER:
Waren Sie dann doch überrascht, dass er so schnell gestorben
ist? Haben Sie damit gerechnet, dass er länger lebt?
KATJA BAUMGARTEN:
Ich habe mich unheimlich gefreut, dass Klein-Martin lebend zur Welt
gekommen ist, das war schon ein großes Glück. Und dann
war es auch eine Überraschung, als ich nach dreieinhalb Stunden
gemerkt habe: er ist gestorben - weil das war gar nicht zu merken,
er ist dann ganz leise eingeschlafen.
ANNE MÜLLER:
Aber das war doch dann sicher auch eine große Trauer oder
ein Schock?
KATJA BAUMGARTEN:
Nein, überhaupt nicht. Ich war so erleichtert, dass er so in
Ruhe gestorben ist. Also ich war natürlich im ersten Moment bestürzt,
dass ich es gar nicht bemerkt habe, aber ich war ganz froh, dass es
so gut für ihn gegangen ist.
SPRECHERIN:
Als Hebamme und Filmemacherin hatte Katja Baumgarten vor ihrem
Film "Mein kleines Kind" gerade einen Film über eine
Geburt gedreht, ebenfalls gemeinsam mit der Kamerafrau Gisela Tuchtenhagen.
Warum war es ihr wichtig, diesen Film über ihr eigenes, behindertes
Kind und sein Schicksal zu drehen?
KATJA BAUMGARTEN: Ich wusste sehr
genau über die Schwierigkeiten mit pränataler
Diagnostik, das war mir durch meinen Beruf sehr bewusst. Als es mir
dann selbst zugestoßen ist, hatte ich das Gefühl, daraus
muss ich einen Film machen. Auf welche Weise, wie der aussehen würde,
das wusste ich noch gar nicht, aber das war jetzt mein Thema. Es war
sowieso mein Thema, aber ich hätte dieses Thema nicht mit einer
anderen Frau bearbeiten können. Ich hatte das Gefühl, von
mir kann ich da etwas zeigen oder etwas weitergeben, wo ich jemand
anderem nicht zu nahe treten wollen würde.
Ich hatte das Gefühl, das ist unglaublich, dass das Problem immer
im Verschwiegenen behandelt wird. Das wusste ich durch meine Arbeit.
Es gibt Hunderte, vielleicht sogar Tausende von Kindern, die sterben,
weil sie behindert sind, weil ihre Mütter sich nicht zutrauen,
die Kinder auszutragen, oder weil ihnen auch keine Unterstützung
gewährt wird. Und es gibt aber keine Statistik darüber.
Ich habe es auch jetzt in letzter Zeit noch mal versucht, genauer
herauszukriegen. Es gibt keine Zahlen in den letzten Jahren seit die
Indikation für den Schwangerschaftsabbruch sich geändert
hat. Früher gab es noch die eugenische Indikation. Die ist abgeschafft
worden, diese Kinder kommen jetzt einfach mit in die medizinische
Indikation.
Ich hatte das Gefühl, ich
möchte einen ganz persönlichen Beitrag zu dieser allgemeinen
Diskussion liefern. Und eben auch mit diesem Gefühl, alle treten
einen Schritt zurück, ich bin da alleine und muss diese Entscheidung
als Mutter treffen, die mich völlig überfordert hat. Das
wollte ich nicht für mich behalten. Das wollte ich wieder zurück
in die Öffentlichkeit geben und nicht nur bei mir im stillen
Kämmerlein behalten.
ANNE MÜLLER:
Sehen Sie sich da auch ein bisschen als ein überfordertes
Opfer einer Entwicklung der Technik?
KATJA
BAUMGARTEN: Also als Opfer sehe ich mich nicht, weil ich
mich in dieser Situation dann anders verhalten habe.
Ich hätte sehr leicht eines werden können und ich habe viele
Frauen erlebt, wo ich sagen würde, die sind wahrscheinlich so
etwas wie Opfer in diesem Moment, weil sie keinen eigenen Weg finden
können. Weil sie so überfordert sind, dass sie keinen eigenen
Horizont mehr finden können.
Dass ich kein Opfer geworden bin, hing mit meinem Beruf als Hebamme
zusammen, dass ich klare Vorstellungen hatte, was es ungefähr
zu bedeuten hatte, was mir da gesagt wurde. Darüber war ich unglaublich
dankbar.
Ich hatte das Gefühl, alles, was ich je gelernt habe, fließt
in diese Situation ein. Aber das war eben genau das, weshalb ich gedacht
habe, weil ich diese Möglichkeiten habe, möchte ich es gerne
in diesem Film in eine Form bringen, um es als Lebenserfahrung weiter
zur Verfügung zu stellen. Also nicht unbedingt, dass andere es
genauso machen müssen wie ich, sondern, dass man ein Gegenüber
in diesem Film hat, um seine eigene Haltung zu klären. Ich habe
es so gemacht - jemand anderes macht es vielleicht ganz anders, aber
er sieht es und kann überlegen, ist das etwas Gutes - ist das
etwas, was für mich auch zutrifft - oder ich will genau das Gegenteil.
Es beibt nicht in diesem Geheimen und Verschwiegenen.
Die Ärzte sagen "vorzeitige Beendigung der Schwangerschaft",
das klingt ganz harmlos. Das ist nicht: "Sie sind jetzt verantwortlich
dafür, dass ihr Kinder stirbt", sondern das klingt so, als
könnte man die Schwangerschaft wieder aufheben. Ich wollte die
Tatsachen klar benennen. Und auch eine Ermutigung geben, dass man
schöpferisch ist, auf welche Weise auch immer und dass man für
sich gucken muss, dass man sich nicht den Experten ausliefert, sondern
dass man für sich seinen eigenen Weg suchen muss und auch gegen
Konventionen gucken muss, was für einen das Richtige ist. Denn
diese Experten haben oft gar nicht diesen Horizont, weil die eben
nie runherum dabei sind.
ANNE MÜLLER:
Also man könnte sich dann nur wünschen, dass der Film auch
von diesen Experten viel gesehen wird und da gezeigt wird?
KATJA
BAUMGARTEN: Ja, ein ermutigendes Erlebnis war für
mich, dass kürzlich eine Hebamme von der Uniklinik Bern diesen
Film in die Hände bekommen hat und sofort eine Fortbildung dort
organisiert hat. 70 Mitarbeiter der Uniklinik haben sich den Film
angeschaut, Hebammen, Ärzte, alle die in dem Bereich tätig
sind sie machen dort sehr viel im Bereich Pränataldiagnostik.
Sie haben dann gesehen, sie müssen ihr Konzept ändern. Sie
müssen die Frauen mehr zwischen der Diagnose und dem Schwangerschaftsabbruch
betreuen, weil sie festgestellt haben, die Frauen sind eigentlich
ganz allein in diesen Tagen und sie sehen sie dann gar nicht mehr,
erst wenn die wieder zum Schwangerschaftsabbruch kommen. Das fand
ich schon mal sehr ermutigend, dass dieser Film, obwohl er jetzt noch
ganz am Anfang seiner Veröffentlichung ist, schon mal dort einen
Impuls gegeben hat. Es ist eine der größten Kliniken in
der Schweiz. Vielleicht macht das ja Schule.
SPRECHERIN:
Auch viele Hebammenschulen haben den Film "Mein kleines
Kind" bei Katja Baumgarten angefordert. Er kann direkt bei der
Filmemacherin geordert werden, im Internet unter www.meinkleineskind.de,
wo sich auch noch mehr Informationen zu Katja Baumgartens mutigem
Dokumentarfilm finden. Ich will zum Schluss von ihr wissen, woher
sie die Kraft genommen hat, ihren ganz eigenen Weg zu gehen:
KATJA BAUMGARTEN:
Ich hatte das Gefühl, daß es mich unglaubliche Kraft kosten
würde, wenn ich nicht das mache, was ich für richtig halte.
Also wenn ich mich dem ausgeliefert hätte, diesem konventionellen
Vorgang, wie die Institutionen damit umgehen, wenn ein Kind nicht
so gesund ist, wie es sein sollte.
Ich hatte das Gefühl, es kostet mich dann ein Leben lang Kraft.
Das meinte ich vorhin damit, dass es dann heillos wird. Natürlich
war das hier eine große Konzentration und Wagnis und Abenteuer,
aber letztlich habe ich das Gefühl, dass dadurch die Kraft in
unserer Familie geblieben ist - oder wie kristallisiert ist, auch
für meine Kinder.
Ich hätte das Gefühl gehabt, wenn jetzt ihr Geschwister
"geopfert" worden wäre, hätte das auch meine anderen
Kinder geschwächt - was hätten sie dann gedacht, wenn sie
mal nicht gesund sind oder wenn etwas mit ihnen ist: würde ich
sie dann auch aufgeben?
Man muss das ja auch mal weiterdenken, was das für Signale sind,
auch für mich selber. Was ist, wenn ich mal alt bin, gebrechlich,
nicht mehr "funktioniere", werde ich dann auch sofort aufgegeben?
Das sind ja Sachen, die setzen sich fort, dass ich das Gefühl
hatte, das grundsätzliche Lebensgefühl wird dadurch extrem
angegriffen, wenn man jemanden, nur weil er "nicht in Ordnung"
ist, tötet.
MUSIKAKZENT
ENDE