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Bayern2Radio, 29.5.2002 19:00 Uhr bis 19:30 Uhr

Den eigenen Weg gegangen - eine Mutter entscheidet sich für ihr behindertes Kind

Ein Interview von Anne Müller mit Katja Baumgarten zum Film MEIN KLEINES KIND

Autorin: ANNE MÜLLER, Redaktion: WOLFGANG KÜPPER, Bayrischer Rundfunk Kirchenfunk

 

MUSIKAKZENT

KATJA BAUMGARTEN: Ich glaube, ich habe NICHT ENTSCHIEDEN. Ich habe es einfach geschehen lassen und die Zeit ist weiter gegangen - ich habe mich halt nicht gegen mein Kind entschieden, das schon, aber für mein Kind hatte ich mich ja von Anfang an entschieden.

MUSIKAKZENT

SPRECHERIN: Ein Sommertag im Park. Auf einer Bank sitzt eine Frau mit langen, dunklen Haaren im roten T-Shirt. Die Tränen laufen ihr ununterbrochen über die Wange, die Stimme ist brüchig, aber dennoch klar. Die Frau redet - in eine Kamera. Es ist Katja Baumgarten, Mutter von drei Kindern, seit kurzem allein erziehend, von Beruf Hebamme und Filmemacherin, die an diesem Junitag vor inzwischen vier Jahren - mit ihrem vierten Kind schwanger - auf der Parkbank sitzt und der Kamerafrau und Freundin Gisela Tuchtenhagen unter Tränen erzählt, was sie bedrückt. Eine bewegende Szene aus dem Dokumentarfilm "Mein kleines Kind", der bei der diesjährigen Berlinale Weltpremiere hatte. Katja Baumgarten weint in dieser Szene, weil sie gerade vor vier Tagen in der Mitte der Schwangerschaft eine Ultraschalluntersuchung hat machen lassen und nun mit der Diagnose zurechtkommen muss. Während sie stolz ihr kleines Baby im Ultraschall betrachtete, ergab sich für den Facharzt für Pränataldiagnostik ein ganz anderes Bild. Katja Baumgarten schreibt dazu in ihr Tagebuch, das dem Film als Kommentar unterlegt ist:


ZITAT:
"Zwei Wirklichkeiten - ein Bild

Schweigsam fährt der Facharzt für Pränataldiagnostik mit dem Ultraschallkopf im kühlen Gel auf meinem Bauch herum. Ich sehe mein Kind schwarzweiß auf dem Bildschirm: alles ist dran ... es gefällt mir, wie es sich bewegt, den Messungen des Arztes ausweichend, ein stiller Einklang. (...)
Der Arzt antwortet einsilbig auf meine Fragen, vertröstet mich auf später. Ich bleibe arglos. Hinterher erfahre ich, dass der Arzt ein völlig anderes Kind gesehen hat, als ich selbst: Er hat einen dem Tod geweihten Fötus untersucht, mit vielfältigen Störungen, wie er sie so nur selten diagnostiziert. Ich habe mein Kind gesehen, mit Freude und Stolz, das für mich vollkommen war, weil ich seine Abweichungen vom Normalen im Bild des Monitors nicht erkennen konnte.
Im ersten Moment bin ich entsetzt über diese zwei verschiedenen gleichzeitigen Wirklichkeiten. (...) Im Nachhinein weiß ich: die beiden unterschiedlichen Sichtweisen sind erhalten geblieben."


KATJA BAUMGARTEN:
Der Arzt hat mir erst genau erklärt, was alles nicht in Ordnung ist und nicht so gewachsen ist, wie es soll. Er hat mir das sehr respektvoll erklärt. Dafür war ich dankbar, weil ich das aus meiner Hebammenausbildung und meiner Tätigkeit als Hebamme kenne, dass Ärzte manchmal sehr geringschätzig über Kinder sprechen, die nicht gesund gewachsen sind. Das hat er nicht getan, er war sehr sachlich.
Er hat mir aber gleich gesagt, nachdem er mir erklärt hatte, was alles nicht gesund ist: "So, und jetzt müssen Sie entscheiden, wie es weitergeht." Ich wusste gar nicht, was er meinte. Er meinte, dass dieses, was er jetzt diagnostiziert hatte, eine Indikation für einen Schwangerschaftsabbruch aus medizinischer Indikation ist. Und ich müsse jetzt entscheiden, ob ich das Kind weiter tragen möchte oder nicht. Das kam alles gleichzeitig. Ich hatte noch gar nicht verdaut, dass mein Kind gar nicht gesund ist und dann sollte ich gleich entscheiden, ob es überhaupt weiterleben soll.
Ich habe genauer nachgefragt. Dann hat er mir eben erklärt, dass sich Eltern normalerweise in so einer Situation entscheiden, dass das Kind nicht weiterleben soll. "Und umgekehrt?", habe ich gefragt. "Wenn ich mein Kind weiter leben lasse?" "Dann," hat er gesagt, "gehört es sofort in die Hände eines erfahrenen Kinderarztes." Das habe ich mir fast wörtlich gemerkt, denn ich habe gleich gedacht: na gut, es hat keine Chance, dann soll es bei mir bleiben und sein Leben friedlich zu Ende leben. Er meinte, wenn es geboren wird, dann muss es im Krankenhaus geboren werden und sofort auf eine Intensivstation verlegt werden. Davor hatte ich unheimliche Angst, genauso wie vor dem Schwangerschaftsabbruch, weil es dann ja in jedem Fall von mir weggenommen wird.

MUSIKAKZENT

KATJA BAUMGARTEN: Es ist einfach der Stil wie diese pränataldiagnostischen Untersuchungen vor sich gehen. Ich glaube, der Arzt hat auf seine Weise seine Sache sehr gut gemacht. Er hat sich sehr viel Zeit genommen, er hat mir auch angeboten, dass er mir das alles noch mal zeigt.
Ich war natürlich erst auch schockiert, dass er mir seine Disgnose nicht gleich gesagt hat, als ich da lag und ihn gefragt habe: "Was sehen Sie da?" Da hat er erstmal ausweichend geantwortet. Ich habe hinterher gedacht: Meine Güte, der sieht da ein ganz anderes Kind, er sieht schon alles. Ich freue mich an meinem Kind und bin stolz und er sieht, das Kind wird bald sterben. Das hat mich völlig geschockt, dass wir ganz woanders waren und er mir das hinterher alles so geballt serviert hat.
Sofort zu entscheiden, das fand ich viel zu schnell - dass die Frage sich gleich dran anschließt. Denn erstmal muss man das ja überhaupt mal sacken lassen, was da vor sich geht. Plötzlich hat man das Gefühl, es ist wie in mein Belieben gestellt, ob das Leben von diesem Kindchen noch einen Sinn hat oder nicht. Also, als wäre es sowas Sentimentales von mir, dass ich es noch weiterleben lasse - oder ich finde es sinnlos, dann muss es sterben. Das hatte plötzlich sowas Beliebiges und das hat mich auch extrem angegriffen.


SPRECHERIN: Die Diagnose lautet: "Komplexes Fehlbildungssyndrom mit Verdacht auf Chromosomenanomalie". Der Fötus hat einen Herzfehler, einen offenen Rücken, Fehlstellungen der Gelenke und besondere Veränderungen im Gehirn.
Die Summe der Fehlbildungen bedeutet, dass - wenn das Kind überhaupt lebend zur Welt käme - es nicht lange leben würde. Der autobiografische Dokumentarfilm "Mein kleines Kind" begleitet die werdende Mutter bei ihrer Suche nach einer Lösung. Katja Baumgarten schreibt dazu in ihr Tagebuch:


ZITAT: "Noch als ich dem Facharzt gegenübersitze, taucht reflexartig die Idee zu diesem Film auf.
Eine Art Notwehr: Das, was jetzt passieren wird, ist in jedem Fall zu groß für mich. Dokumentation als Zeugnis, wo die Orientierung im inneren Chaos verloren zu gehen droht.
Ein Bedürfnis, die Not dieser Entscheidung nicht für immer für mich zu behalten, sondern irgendwann ins Öffentliche zurückzugeben, was gewöhnlich in allgemeiner Verschwiegenheit im Privaten vollzogen wird."


SPRECHERIN: Katja Baumgarten hatte das Gefühl, dass in dem Moment der Diagnose gemeinsam mit dem Arzt die gesamte Gesellschaft einen Schritt zurücktrat und sie sich ganz selbst überließ:


KATJA BAUMGARTEN: Der Arzt hat versucht, sich neutral zu verhalten - er hat das auch gesagt, er möchte sich neutral verhalten. Er hat mir ganz sachlich alles erklärt, hat aber keine Stellung bezogen, in keiner Hinsicht.
Ich habe das so empfunden, dass mit ihm - also gar nicht er persönlich, sondern als Haltung für eine bestimmte Umgangsweise - habe ich das Gefühl gehabt, "alle" treten einen Schritt zurück und ich stehe jetzt da und habe das Recht und auch die Pflicht über das Kind zu entscheiden.
Mit dieser unausgesprochenen Botschaft, dass egal, wie ich mich entscheide - also auch wenn ich mich entscheide, dass das Kind weiterlebt - dass ich dann auch selbst Schuld habe, wenn ich das nicht schaffe, dass mich das zuviel Kraft kostet und dass ich diesen Anforderungen gar nicht gewachsen bin.
Der Arzt hat mir nicht als allererstes einen Zettel gegeben, wo vielleicht Beratungsinstitutionen draufstehen. Wo draufsteht, was man für eine Hilfe bekommt, als alleinstehende Mutter von drei weiteren Kindern, wo das vierte Kind dann krank ist. Alle diese Sachen, die man ja vielleicht machen könnte als allererstes, das war gar nicht - das Erste war eben: "Sie müssen entscheiden, ob das Kind jetzt schon stirbt oder später in die Intensivstation kommt." Das finde ich im nachhinein zu schnell und auch eine Zumutung für eine Mutter.

ANNE MÜLLER: Ist das nicht vielleicht sehr symptomatisch für unsere Gesellschaft, wo nichts so richtig reift, heranwächst, wo auch Prozesse nicht so richtig wachsen oder reifen dürfen. Also Sie haben sich ja eigentlich Zeit gelassen für die Entscheidung und haben diese Entscheidung dann im wahrsten Sinne wachsen lassen.

KATJA BAUMGARTEN: Normalerweise entscheiden Frauen in diesem Schock sehr schnell. Oft nehmen die Ärzte sofort den Hörer in die Hand, reservieren ein Bett im Krankenhaus und drei Tage später ist schon alles "über die Bühne".
Das Erlebnis arbeitet ja dann trotzdem in einem weiter. Oft habe ich von Frauen gehört, die hinterher gesagt haben: "Das ging alles viel zu schnell!" Sie haben im Schock entschieden und sind gar nicht zu sich gekommen. Das wusste ich, dass ich da vorsichtig sein musste.
Man ist ja auch erstmal sehr angegriffen, in verschiedener Hinsicht. Man merkt, man verliert sein Kind - also dieser Schreck, dass man sich wirklich von dem Kind verabschieden muss, dass man das lernt - egal wann es sein wird.
Aber auch persönlich, dass man sich angegriffen fühlt - dass in mir etwas so schief gegangen ist. Das ist auch schwer auszuhalten.
Ich kann mir vorstellen, dass in so einem Schock, dass man merkt, da ist etwas "nicht in Ordnung mit einem" - 'wieso konnte sich das Kind nicht gut in mir entwickeln?' - dass es einen Kurzschluß bei vielen gibt, das Kind gar nicht mehr zu akzeptieren: Das ist wie eine Verletzung für einen selbst, dass da etwas schief gegangen ist. Da brauchte ich ein paar Tage, um wieder klar zu werden und zu sehen: gut das ist jetzt das Schicksal von diesem Kindchen, aber das kann immer passieren.


SPRECHERIN: Die emotionale Wucht und Stärke des Dokumentarfilms "Mein kleines Kind" liegt darin, dass die Zuschauer ganz nah am Entscheidungsprozeß dran sind und an der verzweifelten Suche nach einem Ausweg aus einem Dilemma teilnehmen.
Vorzeitige Beendigung der Schwangerschaft? Das, was so harmlos klingt, ist eine unglaublich schmerzhafte Angelegenheit. Das wusste Katja Baumgarten als Hebamme. Der sehr gewalttätige Eingriff - sowohl für die Mutter als auch das Kind - kam für Katja Baumgarten nicht in Frage.
Das Kind austragen und sofort in die Kälte der medizinisch-technisierten Welt übergeben? Ebensowenig.


KATJA BAUMGARTEN: Die Tage sind verstrichen - jeder Tag war schrecklich. Das morgens Aufwachen, ich hatte eine Aufruhr im Magen - es war schrecklich. Als hätte ich eine extreme Prüfung vor mir. Ja, völlig aufgewühlt, ich hatte das Gefühl, ich werde nie mehr wieder normal, das wird immer so schlimm bleiben. Ich hatte das Gefühl, ich kann diesem auch gar nicht entrinnen. Egal, was ich mache, hatte ich das Gefühl, es wird schrecklich sein. Entweder dieser Schwangerschaftsabbruch oder das Kind austragen und dann in die Intensivstation. Ich wusste gar nicht, wo das hinführen kann. Ich fand eigentlich alles schrecklich. Aber gleich bei diesem Arzt - da war auch eine ganz schmale, zarte Spur, dass ich dachte: 'das Kind wird zuhause zur Welt kommen und einfach in Frieden sterben.'
Ich habe ihn auch gleich darauf angesprochen, ob das denn nicht auch eine Möglichkeit ist. Da hat er sofort gesagt: "Das geht auf gar keinen Fall, Sie werden niemanden finden, der sie unterstützt, denn das ist unterlassene Hilfeleistung." Wir haben noch darüber gesprochen, wie absurd das eigentlich ist, dass es einerseits jetzt ruhig sterben kann, wenn ich mir das nicht zutraue, aber andererseits darf es nicht in Ruhe sein Leben zuende leben, ohne manipuliert oder behandelt oder medizinisch versorgt zu werden - je nachdem, wie man es ausdrückt.


SPRECHERIN: Und gleichzeitig war da für Katja Baumgarten eine ganz andere Realität, nämlich die ihrer Schwangerschaft, das ganz konkrete Spüren und Fühlen, wie jemand in einem heranwächst, sich bemerkbar macht, seinen Platz beansprucht.


KATJA BAUMGARTEN: Ja, ich habe mich schon so gefühlt wie in zwei Welten, denn einerseits in meinem Bauch drin das Kind, das war ganz in Ordnung alles, auch das Gefühl, wie ich mich gefreut habe, wenn es gestrampelt hat, das war immer wie so eine kleine Begrüßung und daran hat sich gar nichts geändert. Daüber habe ich mich genauso gefreut wie vorher und das war so etwas Vertrautes, so ein Einklang.
Und dann eben dieses rationale Wissen, das was ich dann auch im Ultraschall gesehen habe, dass ich über mein Kind wusste, es wird nicht lange leben und ich werde mich von ihm verabschieden müssen.
Das war eine große Spannung, das auszuhalten. Aber Entscheiden kann man das nicht nennen. Ich habe gesucht, was meine Aufgabe ist.
Klein-Martin hatte da auf seine Weise auch so eine Überzeugungskraft, dass ich mir überhaupt nicht vorstellen konnte, wie das werden würde, wenn ich ins Krankenhaus gehe und sie den Wehentropf anschließen und dann wird die Geburt eingeleitet. Das hatte etwas ganz Abstraktes, Absurdes irgendwie, das zu machen. Das passte gar nicht.
Ich hatte das Gefühl, da muss ich uns ganz große Gewalt antun - das ist ja auch so. Und ich hatte ganz große Angst vor der Gewalt. Egal, ob es diese Gewalt ist, also diese vorzeitige Geburtseinleitung oder die Gewalt später, wenn medizinisch eingegriffen wird. Ich hatte das Gefühl, beides ist das Verkehrte, und das Kind wird gestört und für das kurze Leben dann noch ganz durcheinander gebracht.

Wirklich entschieden habe ich mich nicht, das kann man eigentlich nicht sagen, weil das Kind war ja da, die Existenz gab es ja und indem man schwanger ist und auch 'Ja' dazu sagt, ist man schon entschieden. Ich habe mich dann nicht noch mal nachträglich dagegen entschieden. Aber das war eigentlich keine Entscheidung, sondern es ist so geblieben wie es war. Ich habe diese Forderung nicht angenommen, über mein Kind zu entscheiden oder über das Leben zu entscheiden.
Aber ich habe mir sehr intensive Gedanken gemacht, um meine Aufgabe zu finden, was ich diesem Kind Gutes tun kann, wo ich das Gefühl habe, dass ihm in seinem kleinen Leben noch das Bestmögliche geschieht. Ich habe mir sehr genaue Vorstellungen gemacht, wie ich die Schwangerschaft und auch die Geburt gestalte. Man kann sich ja manches vornehmen und vorstellen, aber es muss nicht eintreffen - aber es ist genau so gekommen, wie ich mir das in meinen größten Wünschen vorgestellt hatte.


SPRECHERIN: Katja Baumgarten entscheidet sich für eine Hausgeburt, nachdem sie eine vertraute Frauenärztin und den befreundeten Hausarzt zunächst überzeugt und dann als Verbündete gewonnen hat. Sie will ihr Kind in Frieden zuhause gebären und ihm so wenig Eingriffe wie möglich, nur das Nötigste zumuten.
Der Film zeigt diese Hausgeburt auf sehr diskrete Weise: Den Kreis von helfenden Menschen um die werdende Mutter und die Freude aller über die Geburt des kleinen Martin. Die Geschwister sind aufgeregt und streicheln sanft ihrem kleinen Bruder über den Kopf. Diese Szene gehört mit ihrer Behutsamkeit, Zärtlichkeit und Freude zu den Rührendsten im Film.  In diesem Moment wird auch verständlich, warum die Filmemacherin ihr Kind nicht auf eine Intensivstation geben wollte. Katja Baumgarten selbst wirkt in der Szene überglücklich, ein Glück, das vielleicht noch über das Mutterglück hinausgeht, da sie so sehr für diesen Moment gekämpft hat und sich gegen alle Widerstände dafür eingesetzt hat.

MUSIKAKZENT

ANNE MÜLLER: Kann man sagen oder haben Sie es selber so erlebt, dass Sie einfach für die Würde des Kindes und auch ihre eigene Würde sich letztlich richtig entschieden haben?

KATJA BAUMGARTEN: Ja, auf jeden Fall. Gerade im Nachhinein, als das noch bewußter werden konnte, da war ich richtig schockiert, in welcher Lebensgefahr nicht nur Klein-Martin, sondern auch wir alle geschwebt haben. Ich hatte das Gefühl, wenn ich mich gegen meinen Sohn entschieden hätte, dass daraus etwas sehr Heilloses entstanden wäre, was nicht mit der Geburt abgeschlossen gewesen wäre, sondern was ich mit mir herumgetragen hätte und wahrscheinlich auch meine Kinder mit ihrem Bruder. Also ich hätte es mit mir rumgetragen, solange ich lebe - denke ich mal. Das sind Sachen, die man vielleicht nicht bewußt als Gedanken mit sich trägt. Ich hatte das Gefühl, es wäre wie ein düsterer Schatten, dass einen das begleitet. Und jetzt auf diese Weise habe ich das Gefühl, dass Klein-Martin sehr respektvoll eines meiner Familienmitglieder ist und wir auch jetzt sehr liebevoll an ihn denken und er nicht ausgeschlossen worden ist.

ANNE MÜLLER: Ich spreche deshalb auch von der Würde, weil das Kind ja nicht lange gelebt hat, nur dreieinhalb Stunden. Man sieht ja auch das Bild des Todes im Film, also des toten Kindes, das auf ihrem Bauch liegt und sehr liebevoll von Ihnen gestreichelt wird. Wo Geburt und Tod, Leben und Tod so nah beieinander sind, aber alles so in ganz großer Liebe und Würde passiert ist. Das fand ich sehr beeindruckend an dem Film und fand ich auch eine schöne Botschaft.

KATJA BAUMGARTEN: Ja, Klein-Martin hat uns ja auch sehr viel beigebracht. Mit dieser scheinbar kurzen Existenz hat er ja ganz tiefe Fragen mit seinem Dasein so gestellt, wo man sich innerlich damit beschäftigen musste: 'was sind denn die Lebenswerte, auf die es ankommt?' Da hat er uns unglaublich viel beigebracht. Zum Beispiel die eine Frage - viele Leute sagen ja immer: "das ist ja ein kurzes Leben" - aber diese drei Stunden und auch die Zeit der Schwangerschaft, das war so intensiv und sowas Eigenes und Besonderes, das ist jenseits von lange und kurz. Ich fand es war einfach eine eigene Existenz. Da stellt sich für mich jetzt nicht mehr die Frage, ob das zu lange oder zu kurz oder genug oder zu wenig ist - das war eben sein Wesen und ich habe das Gefühl, dass - auf eine bestimmte geistige Art und Weise - er da etwas sehr Intensives in unser Leben gebracht hat.


SPRECHERIN: Im Film "Mein kleines Kind" ist auch die Mutter von Katja Baumgarten, mit der sich die Filmemacherin bespricht, austauscht, dann als liebe, helfende Oma bei der Geburt, immer wieder im Bild.


ANNE MÜLLER: Es gibt ja noch eine Vorgeschichte zu dem Ganzen, nämlich, dass Ihre eigene Mutter eine Todgeburt hatte und damit in dem Krankenhaus nicht gut umgegangen wurde und Ihre Mutter eigentlich zeitlebens darunter gelitten hat.

KATJA BAUMGARTEN: Was ja auch sehr schrecklich ist, ist dieses große Tabu um den Tod sowieso, aber umso mehr in Hinblick auf kleine Kinder und die vorgeburtliche Zeit. Also der Tod und Babies, das ist ein Riesentabu. Als ich klein war, ich war damals vier, war meine Mutter mit meinem kleinen Bruder schwanger und kurz vor dem Entbindungstermin ist er in ihrem Bauch gestorben. Sie hat ihn dann zur Welt gebracht und es war eine ganz schreckliche Zeit für sie. Sie konnte da auch später nie drüber sprechen, weil ihr gar nicht begegnet wurde. Sie hat das Kind auch gar nicht gesehen, das wurde in einem Plastikeimer rausgetragen und als sie die Hebamme gefragt hat: "Wie hat es denn ausgesehen?" hat die gesagt: "Ja, meinen Sie, ich schaue mir das auch noch an!?" Das hat meine Mutter bis heute nicht vergessen.
In den 60er Jahren wurde darüber nie gesprochen oder es wurde meiner Mutter allenfalls noch gesagt: "Sei froh, wer weiß, was mit dem Kind war", und so ... also sie konnte gar nicht offen trauern oder diesen Verlust richtig würdigen: ihr Kind hatte keinen Namen, es wurde nicht beerdigt, ja, es hieß immer "Nummer Zwei". Eigentlich erst in den letzten Jahren ist das anders, dass meine Mutter auch über meinen kleinen Bruder sprechen kann, aber sie hat auch bis heute sehr darunter gelitten, eine unglaubliche Trauer.


SPRECHERIN: Katja Baumgarten ist ihren eigenen Weg gegangen und hat sich dabei nicht beirren lassen, das zu tun, was sie für das Kind, sich selbst und ihre Familie für das Richtige hielt.


KATJA BAUMGARTEN: Ich habe es als mein Kind für mich angenommen und beschützt und behütet, eben was man mit seinem Kind macht. Ich habe es nicht irgendwie einem Experten überlassen, es mir aus der Hand zu nehmen. Ich habe es mir nicht aus der Hand nehmen lassen und das ist im Nachinein für mich eine große Beruhigung, dass wir eben alle unser Bestes gegeben haben, auf unsere Weise und dass er die Zuneigung bekommen hat und nicht noch inturbiert worden ist oder irgendsowas, dass er in Ruhe auf meinem Bauch gelegen hat und ganz viel Friedlichkeit und Ergebenheit ausgestrahlt hat.
Ich wusste ja nicht, wie das werden wird. Ob er vielleicht leidet und wir da etwas unterlassen, was er dringend gebraucht hätte. Darüber hatte ich mit den Ärzten gesprochen, dass ich möglichst wenig Eingriffe möchte und das haben sie auch respektiert, aber es war dann auch wirklich nicht notwendig - man hatte nicht das Gefühl, ihm fehlt jetzt noch etwas, was wir ihm dringend geben müssten oder so.

ANNE MÜLLER: Waren Sie dann doch überrascht, dass er so schnell gestorben ist? Haben Sie damit gerechnet, dass er länger lebt?

KATJA BAUMGARTEN: Ich habe mich unheimlich gefreut, dass Klein-Martin lebend zur Welt gekommen ist, das war schon ein großes Glück. Und dann war es auch eine Überraschung, als ich nach dreieinhalb Stunden gemerkt habe: er ist gestorben - weil das war gar nicht zu merken, er ist dann ganz leise eingeschlafen.

ANNE MÜLLER: Aber das war doch dann sicher auch eine große Trauer oder ein Schock?

KATJA BAUMGARTEN: Nein, überhaupt nicht. Ich war so erleichtert, dass er so in Ruhe gestorben ist. Also ich war natürlich im ersten Moment bestürzt, dass ich es gar nicht bemerkt habe, aber ich war ganz froh, dass es so gut für ihn gegangen ist.


SPRECHERIN: Als Hebamme und Filmemacherin hatte Katja Baumgarten vor ihrem Film "Mein kleines Kind" gerade einen Film über eine Geburt gedreht, ebenfalls gemeinsam mit der Kamerafrau Gisela Tuchtenhagen. Warum war es ihr wichtig, diesen Film über ihr eigenes, behindertes Kind und sein Schicksal zu drehen?


KATJA BAUMGARTEN: Ich wusste sehr genau über die Schwierigkeiten mit pränataler Diagnostik, das war mir durch meinen Beruf sehr bewusst. Als es mir dann selbst zugestoßen ist, hatte ich das Gefühl, daraus muss ich einen Film machen. Auf welche Weise, wie der aussehen würde, das wusste ich noch gar nicht, aber das war jetzt mein Thema. Es war sowieso mein Thema, aber ich hätte dieses Thema nicht mit einer anderen Frau bearbeiten können. Ich hatte das Gefühl, von mir kann ich da etwas zeigen oder etwas weitergeben, wo ich jemand anderem nicht zu nahe treten wollen würde.
Ich hatte das Gefühl, das ist unglaublich, dass das Problem immer im Verschwiegenen behandelt wird. Das wusste ich durch meine Arbeit. Es gibt Hunderte, vielleicht sogar Tausende von Kindern, die sterben, weil sie behindert sind, weil ihre Mütter sich nicht zutrauen, die Kinder auszutragen, oder weil ihnen auch keine Unterstützung gewährt wird. Und es gibt aber keine Statistik darüber. Ich habe es auch jetzt in letzter Zeit noch mal versucht, genauer herauszukriegen. Es gibt keine Zahlen in den letzten Jahren seit die Indikation für den Schwangerschaftsabbruch sich geändert hat. Früher gab es noch die eugenische Indikation. Die ist abgeschafft worden, diese Kinder kommen jetzt einfach mit in die medizinische Indikation.
Ich hatte das Gefühl, ich möchte einen ganz persönlichen Beitrag zu dieser allgemeinen Diskussion liefern. Und eben auch mit diesem Gefühl, alle treten einen Schritt zurück, ich bin da alleine und muss diese Entscheidung als Mutter treffen, die mich völlig überfordert hat. Das wollte ich nicht für mich behalten. Das wollte ich wieder zurück in die Öffentlichkeit geben und nicht nur bei mir im stillen Kämmerlein behalten.

ANNE MÜLLER: Sehen Sie sich da auch ein bisschen als ein überfordertes Opfer einer Entwicklung der Technik?

KATJA BAUMGARTEN: Also als Opfer sehe ich mich nicht, weil ich mich in dieser Situation dann anders verhalten habe.
Ich hätte sehr leicht eines werden können und ich habe viele Frauen erlebt, wo ich sagen würde, die sind wahrscheinlich so etwas wie Opfer in diesem Moment, weil sie keinen eigenen Weg finden können. Weil sie so überfordert sind, dass sie keinen eigenen Horizont mehr finden können.
Dass ich kein Opfer geworden bin, hing mit meinem Beruf als Hebamme zusammen, dass ich klare Vorstellungen hatte, was es ungefähr zu bedeuten hatte, was mir da gesagt wurde. Darüber war ich unglaublich dankbar.
Ich hatte das Gefühl, alles, was ich je gelernt habe, fließt in diese Situation ein. Aber das war eben genau das, weshalb ich gedacht habe, weil ich diese Möglichkeiten habe, möchte ich es gerne in diesem Film in eine Form bringen, um es als Lebenserfahrung weiter zur Verfügung zu stellen. Also nicht unbedingt, dass andere es genauso machen müssen wie ich, sondern, dass man ein Gegenüber in diesem Film hat, um seine eigene Haltung zu klären. Ich habe es so gemacht - jemand anderes macht es vielleicht ganz anders, aber er sieht es und kann überlegen, ist das etwas Gutes - ist das etwas, was für mich auch zutrifft - oder ich will genau das Gegenteil. Es beibt nicht in diesem Geheimen und Verschwiegenen.
Die Ärzte sagen "vorzeitige Beendigung der Schwangerschaft", das klingt ganz harmlos. Das ist nicht: "Sie sind jetzt verantwortlich dafür, dass ihr Kinder stirbt", sondern das klingt so, als könnte man die Schwangerschaft wieder aufheben. Ich wollte die Tatsachen klar benennen. Und auch eine Ermutigung geben, dass man schöpferisch ist, auf welche Weise auch immer und dass man für sich gucken muss, dass man sich nicht den Experten ausliefert, sondern dass man für sich seinen eigenen Weg suchen muss und auch gegen Konventionen gucken muss, was für einen das Richtige ist. Denn diese Experten haben oft gar nicht diesen Horizont, weil die eben nie runherum dabei sind.

ANNE MÜLLER: Also man könnte sich dann nur wünschen, dass der Film auch von diesen Experten viel gesehen wird und da gezeigt wird?

KATJA BAUMGARTEN: Ja, ein ermutigendes Erlebnis war für mich, dass kürzlich eine Hebamme von der Uniklinik Bern diesen Film in die Hände bekommen hat und sofort eine Fortbildung dort organisiert hat. 70 Mitarbeiter der Uniklinik haben sich den Film angeschaut, Hebammen, Ärzte, alle die in dem Bereich tätig sind sie machen dort sehr viel im Bereich Pränataldiagnostik. Sie haben dann gesehen, sie müssen ihr Konzept ändern. Sie müssen die Frauen mehr zwischen der Diagnose und dem Schwangerschaftsabbruch betreuen, weil sie festgestellt haben, die Frauen sind eigentlich ganz allein in diesen Tagen und sie sehen sie dann gar nicht mehr, erst wenn die wieder zum Schwangerschaftsabbruch kommen. Das fand ich schon mal sehr ermutigend, dass dieser Film, obwohl er jetzt noch ganz am Anfang seiner Veröffentlichung ist, schon mal dort einen Impuls gegeben hat. Es ist eine der größten Kliniken in der Schweiz. Vielleicht macht das ja Schule.


SPRECHERIN: Auch viele Hebammenschulen haben den Film "Mein kleines Kind" bei Katja Baumgarten angefordert. Er kann direkt bei der Filmemacherin geordert werden, im Internet unter www.meinkleineskind.de, wo sich auch noch mehr Informationen zu Katja Baumgartens mutigem Dokumentarfilm finden. Ich will zum Schluss von ihr wissen, woher sie die Kraft genommen hat, ihren ganz eigenen Weg zu gehen:


KATJA BAUMGARTEN: Ich hatte das Gefühl, daß es mich unglaubliche Kraft kosten würde, wenn ich nicht das mache, was ich für richtig halte. Also wenn ich mich dem ausgeliefert hätte, diesem konventionellen Vorgang, wie die Institutionen damit umgehen, wenn ein Kind nicht so gesund ist, wie es sein sollte.
Ich hatte das Gefühl, es kostet mich dann ein Leben lang Kraft. Das meinte ich vorhin damit, dass es dann heillos wird. Natürlich war das hier eine große Konzentration und Wagnis und Abenteuer, aber letztlich habe ich das Gefühl, dass dadurch die Kraft in unserer Familie geblieben ist - oder wie kristallisiert ist, auch für meine Kinder.
Ich hätte das Gefühl gehabt, wenn jetzt ihr Geschwister "geopfert" worden wäre, hätte das auch meine anderen Kinder geschwächt - was hätten sie dann gedacht, wenn sie mal nicht gesund sind oder wenn etwas mit ihnen ist: würde ich sie dann auch aufgeben?
Man muss das ja auch mal weiterdenken, was das für Signale sind, auch für mich selber. Was ist, wenn ich mal alt bin, gebrechlich, nicht mehr "funktioniere", werde ich dann auch sofort aufgegeben? Das sind ja Sachen, die setzen sich fort, dass ich das Gefühl hatte, das grundsätzliche Lebensgefühl wird dadurch extrem angegriffen, wenn man jemanden, nur weil er "nicht in Ordnung" ist, tötet.

MUSIKAKZENT

ENDE