"Vielleicht habe ich heute morgen meinen Sohn sterben sehen..." dieser verstörende Satz steht am Anfang der Novelle "Afternoon" von Michael Joyce und damit am Beginn eines neuen Genres, genannt Hyperfiktion. Das war 1987. Hyperfiktionen sind interaktive Erzählungen, die am Computer gelesen werden müssen. Der Mausklick ersetzt das Umblättern, per Klick wählt man Erzählvarianten aus, per Tastendruck wühlt man sich durch ein Labyrinth verzweigter Erzählpfade, ohne Schluß und ohne Antwort, endlos rekombinierbar wie ein Stapel Spielkarten. Hat der Hyperprotagonist Peter, ein midlifekriselnder Professor an einer Kleinstadtuni nun gesehen, wie sein eigener Sohn starb oder nicht? Elegant dreht und windet sich die weltweit erste Hyperfiktion um die Antwort herum. Gibt es überhaupt eine Handlung - oder ist auch sie begraben unter dem Nachlaß des seit der Postmoderne legendär untoten Autors, der im Hypertext seine Erzählgewalt mit großer Geste an die rechte Maustaste der Leser abtritt? Hyperfiktionen lassen vielerlei Lesarten zu - das gilt erst recht für die Bewertung des Genres im Ganzen. Während sie in den USA längst Teil der Literaturgeschichte geworden sind, provozieren sie hierzulande entweder hysterische Jubelarien von Seiten ihrer Macher und Promoter. Oder aber Stirnrunzelnd und Naserümpfen von Seiten der Kritik, sowie die wohlfeile Warnung vor dem Ausverkauf literarischer Standards zugunsten billiger technischer Tricks. Das ist ein wichtiger Einwand, denn er illustriert ein transatlantisches Mißverständnis: Während in Deutschland die interaktive Literatur erst seit drei Jahren von ein paar Berufsjugendlichen als schillernder Köder im Internet ausgelegt wird, entwickelte sie sich in den USA aus jahrelanger, harter Arbeit in Creative-Writing-Kursen, geleitet von ernsthaften Schriftstellern und bedachtsamen Hochschulpädagogen. Ihr herausragendster Vertreter ist Michael Joyce, ein bärtiger, graumelierter Professor für kreatives Schreiben am elitären Vassar College. "Afternoon" hat mittlerweile Eingang gefunden in den Kanon und wird sogar der nächsten Ausgabe der renommierten Norton-Anthologie als Diskette beiliegen. Denn schließlich apostrophierte der postmoderne Romancier Robert Coover den Text in einem Leitartikel im eher konservativen "New York Times Book Review" als "Grandaddy of Hypertext Fiction". Und Coover muß es wissen, denn er hat gemeinsam mit Studenten der Brown University das kollektive Schreibexperiment namens "Hypertext Hotel" erarbeitet und ins Internet gestellt. Eigentlich hatte Joyce sich nach der Publikation seines preisgekrönten (Papier-)Romans "The War Outside Ireland" (1982) bloß deshalb einen Computer gekauft, um seine Texte leichter bearbeiten zu können. Doch als der Schriftsteller Joyce bemerkte, wie einfach sich am Bildschirm Textblöcke frei verschieben lassen, wünschte sich der Lehrer Joyce, seine Studenten an diesem Schaffensprozeß teilhaben zu lassen. Die Hyperfiktion war damit geboren, lange vor ihrer technischen Realisierung - falls dieser Begriff auf ein derartig immaterielles Genre zutrifft. Joyces wundersame "Schreib-Lehrmaschine", die einen jeden Text als permanenten Schreiblaborversuch in einem formbaren Zustand halten könnte wie ein Stück nassen Ton, gab es nicht. Also mußte sie erfunden werden. Also recherchierte er und begab sich 1985 ein Jahr lang an die Yale University, um dort gemeinsam mit einem Team von Forschern, die mit Künstlicher Intelligenz experimentierten sein literarisches Programm selber zu schreiben, in Pascal. Er taufte es "Storyspace". Die Novelle "Afternoon" sollte lediglich ein Beispieltext sein, um den Studenten zu demonstrieren, was Storyspace alles kann, um ihnen Lust zu machen, ihrerseits das interaktive Schreiben zu lernen. "Storyspace" ist mittlerweile die Standardsoftware für Hyperfiktionen geworden, vertrieben vom kleinen Literaturverlag www.eastgate.com Eastgate bei Boston, bei dem auch ein Großteil der anspruchsvollsten Interaktivliteratur erscheint. Denn die gibt es nicht im Netz, als freebie, sondern als teuer bezahlte Diskette, damit die Autoren auch angemessen für ihre Mühen entlohnt werden können. Hauptabnehmer sind die akademischen Schreibseminare, in denen Studenten nicht nur lernen, mit Sprache und Computern umzugehen, sondern auch, über ihre neuartigen Leseerfahrungen zu reden und damit Literaturkritik an ihren selbstgebastelten Texten zu üben. Storyspace ist nicht einfach ein World Wide Web im Diskettenformat, sondern im Gegensatz zu dessen Zettelkastenprinzip ist die Autorensoftware in der Lage, die Lektüreentscheidungen der Leser zu registrieren und bestimmte Seiten erst freizugeben, wenn andere einmal gelesen worden sind - oder mehrfach. Wie ein hartnäckiger Deutschlehrer eben, der den neuen Stoff erst präsentiert, wenn die vorangegangene Lektion geschluckt ist. Die Konvergenz von Netz und Storyspace ist allerdings geplant, noch dieses Jahr soll eine Javabasierte Version von Storyspace erscheinen. Binnen einer Dekade hat sich die Hyperfiktion also als eine stabile Nischenkultur in amerikanischen Creative Writing-Kursen etabliert, wobei sich die Szene immer weiter ausdifferenziert: Deena Larsen schreibt historisierende Lyrik, Mark Amerika punkige Slampoetry, Stuart Moulthrop pynchoneske Satiren. Und Grandpa Joyce ist nach wie vor der große Gesamtkunstwerker unter den Hypertexanern, mit dem wohl umfassendsten literarischen Programm in mehrerlei Hinsicht: Sein Oeuvre umfaßt nicht nur Software, interaktive und papierne Romane, sondern auch zig Vorträge und Aufsätze zur Hypertext-Pädagogik. Den Namen "Storyspace" wählte er deshalb für seine Software, weil in interaktiven Texten die zeitliche Abfolge beliebig, wiederholbar und umkehrbar wird. Das Leseerlebnis gleicht daher eher einer Mauswanderung durch einen verwinkelten Erzählraum voller Zirkelschlüsse, Tapetentüren und Sackgassen. Dieser Raum ist eben kein bunter Cyberspace, flirrend von Sensationen. Er ähnelt eher einem puritanischen Klassenzimmer, geweiht der Konzentration und Selbsterkenntnis: "Keine Unterbrechungen!", fordert Joyce in einer Leseanleitung, "Die Lektüre sollte ein nahtloses und nicht unterbrochenes Erlebnis sein." Das gleiche forderte Edgar Allan Poe als Vertreter der Romantik für die von ihm erfundene Gattung der Shortstory. Auch in seinen neueren Hyperfiktionen bleibt Joyce seinen neu-romantischen Idealen treu und verlangt den Lesern ein Höchstmaß an Konzentration und Einfühlungsverögen ab, so auch in "Twilight" (1997), einer Art Mysteriendrama, in dem zwei Geschichten verschränkt sind: ein Mann reist gen Osten nach New York, um sein eigenes Kind zu Kidnappen - und begegnet sich selber, wie er zehn Jahre später eine Freundin als Sterbehelfer gen Westen nach Ontario begleitet. Im Gegensatz zu vielen Kollegen legt Joyce dabei nicht offen, welche Wörter der Leser anklicken muß, um auf eine andere Seite zu gelangen. Diese "words that yield", also "Wörter, die auf sanften Druck nachgeben" sind nicht durch Farben oder Unterstreichungen markiert, sondern wollen intuitiv erahnt werden. Durch dieses Überraschungsmoment, und dadurch, daß das Programm auch von sich aus neue Seiten präsentiert, gleicht keine Lektüre der andern. Beständig verändert sich der Text, als sei er einer dieser bibliophilen Albträume von Borges. "Der Leser bewegt sich durch den Text so, als ob er ihn selber erinnern würde", beschreibt Robert Coover das traumwandlerische Gefühl dieses zirkulären Déjà-lu. Tatsächlich suggertiert Storyspace dem Leser, daß ihm nichts Neues erzählt werde, sondern daß er sich einfach an längst Vergessenes erinnere. "Jetzt wird die Story geschrieben", vermeldet der Computer in schmeichelhafter Übertreibung, wenn man "Afternoon" verläßt und der Lesepfad auf Diskette abgespeichert wird bis zur nächsten Lektüre. Für Joyce beherbergt der Rechner eine Art Rousseauschen Garten, in dem die Schüler aus sich selbst heraus ihre eigenen Fähigkeiten entdecken dürfen. Und laut Joyce schließt das Leseerlebnis eben nicht mit einem finalen "The End" ab, sondern erst, wenn der Leser selber spüre, daß "sein Selbst abgerundet" ist. Im milden Licht dieses Literaturprogrammes erscheint die Klickeratur nicht als interaktive Zerstreuung, sondern als Fortsetzung der Schreibpädagogik mit neuen Medien, denn sie zwingt ihre Autoren zu präzisester Planung und ihr Publikum zum mehrfachen, genauen Lesen: "Hypertext ist die Rache des Textes am Fernsehen", schreibt Joyce daher - um sogleich die hehren Ideale seiner Hypertext-Pädagogik zu relativieren: "Es besteht die Gefahr, zu viel zu verlangen von einer unausgereiften Technologie - wie bei der künstlichen Intelligenz geschehen. Aber genauso groß ist die Gefahr, eine Technologie reifen zu lassen, ohne sich einzumischen." Zumindest aber erklärt die Entstehungsgeschichte der Hyperfiktion aus dem Geiste der Joyceschen Schreibschule, warum sich dieses Genre nicht als die trendige Unterhaltunssoftware eignet, als die sie hierzulande hochgejubelt und verdammt wird. Hier beißt sich die Katze in den Schwanz, wunderbar zirkulär wie eine dieser Endlosschleifen in "Afternoon": Solange das neue Genre nicht ernsthaftere Leser gefunden hat, die durch die Lektüre etwas über das Schreiben an sich lernen wollen, kann es eben auch nicht als ernsthafte Literatur gelten. Und als fetzige Unterhaltung sowieso nicht. Interessanterweise entwickelt die Hyperfiction auch hierzulande eine Eigendynamik, die keiner ihrer Förderer für möglich gehalten hat: schleichend und fast unbemerkt bewegt sie sich immer weiter in Richtung Schreibschule für Anfänger - selbst dort, wo Profis am Werke sind. Man sehe sich nur einmal das Online-Romanprojekt "Marietta" von Matthias Politycki genauer an: "Wie entsteht ein Roman?", hebt er in einem ungewohnt schulmeisterlichen Ton an, zu dozieren, "Wie entsteht er nicht? Indem man sich einfach hinsetzt und ins Blaue schreibt...." Eine Anleitung also zum Selbermachen, die in der Tat im Parallelforum umgesetzt wird, wo die Glotzer/Surfer/Leser erste Schritte und Klicke als Autoren machen, wohlwollend beobachtet vom großen Politycki. Damit hätte wohl niemand gerechnet, als sich die Fernsehsender ins Internet begaben: Das ZDF mutiert so wunderbarerweise zur Schreibschule! Die Glotze lehrt uns, wie man Romane macht! Die Glotze? Nein, Politycki. Politycki? Nein, die Hyperfiktion selbst ist es, die Autor und Fernsehkartell überrumpelt und still und leise und beharrlich wie ein geschickter Pädagoge die Vergnügungssüchtigen Glotzer und Surfer ermahnt, etwas Richtiges zu lernen: das Schreiben, das Denken, das Argumentieren. Dies ist nicht das Vermächtnis von Michael Joyce, und keine puritanisch-amerikanische Tradition, die sich möglicherweise im vor allem in den USA gepflegten Genre der Hyperfiktion fortschreibt. Es ist die Schriftlichkeit selber, welche die Basis bildet für WWW und Hyperfiktion, die grammatologische Grundstruktur der neuen Netze, die doch nur eine Fortsetzung der Bibliotheken und Buchkultur sind, mit anderen, neuen Medien. Michael Joyces Vortrag "Berlin - City of Text", gehalten auf der Softmoderne 3, September 1997, ist unter http://media-in-transition.mit.edu/ abrufbar. |
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