Der Unglückstod eines Glücklichen
Ausschnitte aus dem Romanessay, zusammengestellt für „Camus in der City“,
Oktober 2014
Nachdem Albert Camus Weihnachten 1959 in seinem Haus im Südfranzösischen
Loumarin, dort, wo er sich der Sonne seiner verlorenen Heimat in Algerien ein
Stück näher sah, verbracht hatte, wollte er mit dem Zug wieder zu seiner Wohnung
in Paris zurückkehren. Ein Freund überredete ihn zur Mitfahrt in seinem jüngst
erworbenen Facel-Vega. Man vermutet einen geplatzten Reifen als Ursache, durch
die die PS-starke Nobelkarosse am 4.Januar 1960 bei Villeblevin, einem kleinen
Weiler, rund 100 Kilometer vor Paris von der Fahrbahn abkam und gegen eine
Platane prallte. Während die beiden Frauen, die auf dem Rücksitz gesessen hatten
und aus dem Auto geschleudert wurden, den Unfall überlebten und der Fahrer
einige Tage später im Krankenhaus starb, war Camus sofort tot. Niemand wird
jemals erfahren, welches sein letzter Gedanke war und ob er ein Bewusstsein über
seinen Tod hinaus hatte.
Weit hinten ziehen Krähen im Hauch des winterlich-feuchten Dunstes ihre Kreise.
Ich kann die Logik ihres Fluges nicht nachvollziehen. Sie eilen nicht von einem
Punkt zum anderen, andauernd wechseln sie ihre Richtung, gleiten vom oben herab
auf die Erde zu, um kurz vor dem Aufkommen ihre Schwingen in Bewegung zu setzen,
die sie wieder in die Höhe tragen. Einzeln lässt sich keiner der Vögel
identifizieren, ihr skurriles dreidimensionales Bild zeichnen sie als Schwarm in
den Himmel, es gibt dem körperlosen Raum eine sichtbare Dimension, ein rechts
ein links, ein oben und unten, eine Tiefe. Ihr Schwirren macht keinen
erkenntlichen Sinn, so ästhetisch es auch wirken mag. Der Flug der Krähen
schafft keine Werte, er hinterlässt bloß ein Gemälde.
Seit Stunden unterwegs zwischen meinem wonnigen Zuhause auf dem Land zu meinem
rationalen Zuhause in der Stadt höre ich die Krähen schreien und weiß, dass
meine wahre Heimat kein Zuhause mehr hat. Nie mehr werde ich zu meiner Kindheit
zurückkehren, die weit hinter mir zurückgelassen liegt und die andere mir
entfremdet haben. Die Verhältnisse haben sich umgekehrt: Jetzt ist es die
Heimat, die in mir wohnt.
…
In der Wohnung meiner Kindheit gab es keinen Rückzugsraum. Mit den Menschen, die
mich umgaben, hockte ich so eng aufeinander, dass ihr Schweiß wie zu mir
gehörend erschien. Auf diese Weise wäre ich mir unerträglich geworden, hätte ich
mich nicht zwischendurch in mich zusammengekauert und erfahren, dass ich einen
eigenen Geruch habe. Erst aus dieser zaghaften Innerlichkeit konnte allmählich
mein Stolz wachsen, aus diesem Stolz heraus konnte ich mich zur Wehr setzen, aus
dieser Wehr habe ich mir Fähigkeiten angeeignet und diese Fähigkeiten, die,
eingebettet in eine Unbekümmertheit zuerst wie heiter flatternde Schmetterlinge
sich über den Blüten des Lebens bunt entfalteten, sollten schließlich zu meinem
Schützengraben werden, in dessen Deckung ich Gelegenheit habe, gegen meine
Angreifer zu zielen.
…
Als wir Loumarin verlassen haben war es sehr still. Nur die beiden Frauen haben
sich irgendetwas zugeflüstert. In der Stille lag eine Traurigkeit, die man hat,
wenn man etwas Geliebtes hinter sich lässt, in ihr lag aber auch die Schwermut
des Gedankens, das allezeit Erstrebte endlich erreicht und dennoch im Ganzen
versagt zu haben. Erst nachdem das Luberon hinter uns lag, die Berge uns nicht
mehr in ihrem Schoß aufnahmen, sondern nur noch in sicherer Entfernung unsere
Wege flankierten, haben wir begonnen, miteinander zu lachen und so über Stunden
hinweg vergessen, wie traurig wir in unserer Seele über die verlorene Kindheit
sind. Als wir dann zu diskutieren anfingen, hielten wir unsere Zeit wieder in
der Hand, konnten die Freuden erfahren, wie wir sie als kindliche Entdecker
hatten, als wir jeden Tag Neues erfahren durften, was die bis dahin gemachten
Erkenntnisse als naiv erscheinen ließ.
Nun hat wieder das Schweigen begonnen und ich genieße es, trotz dieser Enge, in
der wir während der Fahrt aneinander geschweißt sind, jetzt ganz für mich zu
sein. Auch die anderen sind in ihrer gänzlich eigenen Welt versunken.
…
Bald Paris. Eine Hölle, die ihre Opfer fordert: die Vernunft und den hellen
Verstand. Durch Paris kann man irren. In zweierlei Hinsicht.
…
Ich muss mich ändern. Mein Leben, in das ich mich mit Begeisterung habe fallen
lassen, ist nicht aufgegangen. Die Versuche, mit Entwürfen gegenzusteuern, haben
immer neue Entwürfe erfordert, mit denen ich den alten beikommen wollte. Ein
Perpetuum Mobile´ das sich ständig dreht. Ich sollte mich von diesem gewohnten
Drehbuch verabschieden, in dem Folge auf Folge geschrieben wird, ich sollte da
weiter machen, wo es niemand von mir erwartet - ich selbst am wenigsten. Es war
verrückt, immer auf meine Stärken zu beharren. Das hat mir als Schüler geholfen,
doch sobald man die Türen der Bildung hinter sich schließt, muss man neue
Arbeitsweisen finden. Als ergiebigste Quellen haben sich die eigenen Schwächen
entpuppt. Erkenntnis gelingt dort am besten, wo man am Leben scheitert, erst aus
einer inneren Leere entspringt wahre Kunst.
Es hat lange gebraucht, ehe ich begreifen durfte, dass die schwerste Bürde, die
auf mir lastet, die Ansammlung meiner Gewinne ist. Und ich meine damit nicht all
die Anfeindungen, die sich automatisch eingestellt haben, sobald mir ein Erfolg
beschieden war, ich meine vielmehr den Kampf zwischen dem Licht und dem
Schatten, der in mir tobt, sobald etwas entschieden ist.
…
Der Wagen wackelt. Es scheint, als würde er den Bodenkontakt verlieren. Mir ist,
als würden wir durch die Zeit fliegen.
Wer in solch einer Luxuskarosse über die Straßen fegt, büßt den Kontakt zu der
Außenwelt ein. Eine solche Situation wünscht man sich als Philosoph. Ganz nahe
an den Dingen zu sein und dennoch nichts mit ihnen zu tun haben. Erst das
distanzierte Verhältnis macht eine unabhängige, eine sachliche Einschätzung
möglich. Nur darf man sich aus dieser Perspektive alleine noch kein Urteil
erlauben. Man muss vorher am eigenen Leib erlebt haben, was Abgründe bedeuten,
man muss den Schmerz kennen, im Übrigen braucht man seine Macken, mit denen man
bei anderen aneckt und deren Reaktion abwartet. Vor allem muss man seelische
Lasten mit sich tragen, die man, selbst wenn man gelernt hat, mit ihnen zu
leben, niemals loswird. Erst dann ist man in der Lage, zu urteilen. Und bei
allen Einschätzungen, zu denen man sich vorwagt, darf man nie vergessen, dass
die höchste Sachlichkeit immer von einem Hauch Parteilichkeit umwoben wird. Es
ist immer die Perspektive Mensch vonnöten. Ein Gott wäre zum Urteilen nicht in
der Lage, weil er nicht weiß, wie es sich anfühlt, fehlbar und endlich zu sein.
…
Die in winterlichen Stillstand versetzte Landschaft reibt an dem grauen Himmel,
in wenigen Nuancen blinken die Farben im gedämpften Schimmer, der mich, zwar
weitaus blasser, dennoch an Algerien erinnert. So existiert die Welt ohne unser
Zutun, sie atmet ein und aus und scheint an keinem ihrer Atemzüge zu altern.
Mein Geist wird diese Erde, aus der wir alles ziehen, was wir sind, nie umarmen
können. Anfänglich habe ich das noch als Manko begriffen, jetzt bin ich
glücklich in der Gewissheit, selbst ein winziger Partikel Erde zu sein, der
regsam sich dem Licht entgegenstreckt.
…
Von Herzen mag ich sie nicht, diese lang gezogenen Straßen und doch haben sie
einen besonderen Charme, dem ich vieles abgewinnen kann, dann, wenn man in einen
Taumel gerät, der nichts mehr realistisch erscheinen lässt, außer das Wenige,
was man im Spektrum der Augenwinkel sieht. In solchen Momenten ist alles
möglich, was vorher undenkbar erschien. Man verliert das Wesen seiner Absichten,
vergisst seine Pflichten und, als ob man nur selbst wäre, büßt man die innere
Bindung zu den Menschen ein, die man liebt.
Warum sind wir hier. Der Vernunft nach definiert sich dieser Ort als Verbindung
zwischen unseren Polen, zwischen denen wir unablässig hin und her pendeln, das
scheint alles zu sein. Dabei ist mein Leben weniger das, was sich aus meiner
Herkunft in mir spiegelt und noch weniger meine Zukunft sondern viel mehr das
Jetzt, angefüllt mit ungeahnten Möglichkeiten. Was mich dennoch davon abhält,
mich hier mit aller Leidenschaft hinzugeben, das ist die fehlende Sehnsucht, die
mich mit diesem Ort, mit dieser Gegenwart verbindet. Und doch darf ich diese
Gegend und meinen Zwischenzustand nicht herabwürdigen: ohne diese ausgehöhlt
wehmütigen Trostlosigkeiten, die sich in wiederkehrender Zuverlässigkeit in das
Leben einflechten, machen all die Entwürfe, denen man täglich hinterher eifert,
keinen Sinn.
Warum also nicht abschweifen? Jetzt aussteigen und diesen unansehnlichen Ort
annehmen, als wäre dieser Moment mehr wert, als all die erträumten Ziele! Oder
weiterfahren, über das Ziel hinausfahren, bis die Straße an einem kalten Strand
endet!
Mir ist, als wäre nicht ich derjenige, der hier in diesem Facel-Vega gegen
seinen Sitz gepresst sich den Geschehnissen hingibt, sondern eine Figur, die
sich aus mir heraus erdacht hat. Warum sonst bewege ich mich nicht, warum sonst
habe ich auf meiner Stirn nicht einen Schweißtropfen, warum sonst habe ich keine
Angst. Wir befinden uns in keinem Moment, wie ich ihn jemals in einem Roman
beschrieben hätte, weder als besonderen Augenblick, noch als würzige Zugabe. Die
Absurdität, die ich jetzt empfinde, ergibt sich nicht durch die Befreiung aus
den Fängen der Götter, sondern aus der Tatsache, dass ich diesem Moment keinen
Wert abringen kann. Nichts ist wichtig. Ich bin der Fremde. Es gibt kein
Schlusswort.
Tatsächlich befinde ich mich in einem Traum. Dieser Traum heißt Albert Camus.
Die Welt wird keine andere sein, wenn dieser Traum zu Ende geht. Aber es werden
Eindrücke zurück bleiben, Fußstapfen, die ich in die Welt gesetzt habe. Doch
eines Tages werden auch diese Abdrücke vom Wüstensand überdeckt werden.
…
Mein Tod ist nicht originell. Das hätte ich nicht erwartet. Er ist sogar banal:
Jetzt das Leben, gleich der Tod. Das ist alles
was
ich sagen kann.