"I wish you love"
Raimund Hoghe versammelt Young People, Old Voices
Katja Schneider
tanzdrama Nr.67, 2002


Stimmen sterben nicht. Sie füllen den Raum, tönen von vergangener Liebe und anhaltendem Verlust. In gefühlsbeladenen Songs erinnern sie an die Vergangenheit und bedienen gleichzeitig das aktuelle, das ewig gültige Programm von Sehnsucht und Entzug. Judy Garland, Dean Martin, Peggy Lee, Patsy Cline, Bette Davis und Dalida heißen (neben anderen) jene »old voices«, die Raimund Hoghe zurückruft. Er, dem der "Bruch", die Diskrepanz seiner Person und seiner Handlungen auf der Bühne zu diesen »schönen Stimmen« so wichtig ist, kontrastierte in seinem neuesten Stück die leibhaftig abwesenden, aber den ganzen Raum füllenden Sänger mit jungen Leuten. Mit Jugendlichen aus Belgien und Frankreich, die - verglichen mit den am Ende ihrer Karriere stehenden Vokalstars - am Anfang ihres Lebens stehen und in vielen Fällen zum erstenmal auf einer Bühne.
Erst in Brügge, ein paar Tage später im Brüsseler Kaaitheater ruft Hoghe Namen ins Dunkel des Zuschauerraums. Kristin, Lorenzo, Sarah, Koen … - nacheinander treten sechs junge Frauen und sechs junge Männer aus den Kulissen zu ihm, bleiben stehen und blicken ins Publikum, bis sich Hoghe langsam aus dieser Reihe löst und zurückschreitet. Die anderen folgen ihm. Hoghe bringt eine Glasschale mit Wasser, ein jüngerer Mann assistiert, Hoghe läßt Wasser über dessen Hände laufen, zieht sich dann zurück, während der Gehilfe einer Gleichaltrigen das Wasser reicht und die wieder einem nächsten. Die Initiation in das Geschehen dauert lang, und stärker als in Sarah, Vincent et moi, Hoghes letztjährigem Stück, in dem er seinen Kollegen den Raum bereitet, tritt der Düsseldorfer Künstler als Meister, Magier und Spielmacher ins Zentrum. Dabei nimmt er sich oft zurück, geht im Hintergrund auf und ab, während die jungen Männer in wilden Sprüngen über die Bühne hechten. Später verteilt er Papierbogen an die Mädchen, hinter die sie sich knien und ein Objekt darauf plazieren. Hoghe beobachtet und initiiert Handlungen. Nie verschwindet er hinter der großen Gruppe, die erstaunlich präzise die ruhigen ritualhaften Verrichtungen meistert. Drei Stunden lang. Einige der jungen Leute sind selbstverständlicher bei der Sache als andere, keiner aber wirkt überfordert. Wie Hoghe die Zappligkeit der Techno-Generation heruntergetunt hat, ist erstaunlich. Hochmotiviert, mit großem Ernst folgen sie dem Reinigungsritual, begreifen sie ihren Körper, machen Pliés, legen sich hin und sind einfach da. Manche haben kleine Soli: Ein Paar legt eine schmissige Cha-Cha-Cha-Einlage hin, eine Frau trägt ein Cello, eine andere nimmt Schmuckstücke aus einer Schatulle und legt sie vor sich hin; alle gemeinsam werfen sie Papierflieger. Vitale Momente ragen aus einer verhaltenen Grundstimmung, die sich vor allem den ruhigen Songs verdankt.
Die musikalische Dramaturgie betont die Vergänglichkeit von Leben und Liebe. Nur die Gefühle bleiben und die Erinnerungen an die Kindheit, an den Partner, der gegangen ist. Der Handlungsbogen spannt sich vom kindlichen Murmelspiel über die ersten eigenen Liebesgefühle (beim Liegen vor einem Plattenspieler, auf dem sich eine Platte von Pat Boone dreht), schließt Identitätsfindung und Rollentausch ein, wenn ein junger Mann ein Stück Stoff zum Abendkleid drapiert und von Hoghe (der auch selbst mit vorgehaltenem Abendkleid auftritt) als Diva angeschmachtet, angesprochen und behandelt wird, und erstreckt sich bis zum Rückblick auf ein Leben. Den jungen Männern sind die aktiveren und attraktiveren Handlungen vorbehalten, auch die Interaktionen mit Hoghe. Vor allem Lorenzo De Brabandere fungiert als prominenter Assistent und Famulus, folgt Hoghes unausgesprochenen Anweisungen, sammelt Objekte ein, die Hoghe verteilt hat. Mehr und mehr findet der Jüngere zum Älteren: Zuerst stolpert der Junge über den zu Boden gegangenen Choreographen und bleibt neben ihm liegen, beim nächsten Mal braucht er nicht mehr zu stolpern, legt sich gleich neben ihn. Die beiden Männer lehnen die Hände aneinander, der Jüngere hebt den Älteren. Die über das Stück verteilten Sequenzen zu Teilen von Igor Strawinskys Le Sacre du printemps bilden eine Inselkette und geben Hoghe die Möglichkeit zu agieren, wo er sonst in erster Linie organisiert.
Young People, Old Voices ist ein Experiment. Es hätte als sozialpädagogische Bemühung mit laienhaften Jugendlichen enden und ziemlich schrecklich werden können. Statt dessen hat Hoghe zusammen mit Luca Giacomo Schulte die jungen Leute seinen theatralen Sublimierungen, seinen Reduzierungen und seinem Kunstwillen quasi unterworfen, hat ihre Jugend nicht zur eigenen Vitalisierung verwendet. Dafür nimmt er das Risiko der Durststrecke, der doch nicht ganz souveränen Ruhe in Kauf. Hier prallen ihm nicht vergleichbare Energien wie die von Charlotte Engelkes, Sarah Chase und Vincent Dunoyer entgegen, die so stark waren, daß vieles im Angedeuteten belassen werden konnte und trotzdem klar wurde. In seinen Soli, in Dialogue with Charlotte und Sarah, Vincent et moi »verbürgt« sich Hoghe für die Gültigkeit der Sehnsuchtsmotivik der fünfziger und sechziger Jahre, steht mit seiner Person dafür ein, in Young People, Old Voices überprüft er dieses als gültig gesetztes Konzept an der Jugend des 21. Jahrhunderts. Es trägt Züge eines Selbstgesprächs. Man wird es sich in Erinnerung rufen, wenn der Düsseldorfer Choreograph - in seinem Stück für den Produzentenpreis - seine Auseinandersetzung im Sommer 2003 mit Menschen »über 40« weiterführt.

©Katja Schneider
tanzdrama 67/2002